BUNDESWEHR
Clausewitz Spezial
Das Magazin für Militärgeschichte
Clausewitz Spezial
D: €
9,90
A: € 10,90 CH: sFr 19,80
BeNeLux: € 11,40
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ISBN 978-3-86245-458-7
BUNDESWEHR
60 Jahre
Wiederbewaffnung Kalter Krieg Auslandseinsätze
Clausewitz Spezial
BUNDESWEHR
Die Chronik
Die Bundeswehr entsteht
Im Kalten Krieg
Weltweiter Einsatz
Mit US-Ausrüstung und dem Erbe der Wehrmacht
Zwischen „Gammeldienst“ und NATO-Alarm?
Wie sich die Bundeswehr neu erfand
GeraMond Verlag GmbH, Infanteriestraße 11a, 80797 München
t r e i d n u f h c s i r o t s i H
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Editorial
Inhalt
Liebe Leserin, lieber Leser, da hatte sich die Bundeswehr ja noch etwas „Nettes“ für mich ausgedacht: Nur wenige Wochen vor dem Ende meines Wehrdienstes hieß es noch einmal Wache schieben. Aber nicht nur das. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen übertrug man mir das Amt des stellvertretenden Wachhabenden (kurz: „stellv“). Also behängte ich mich mit der geflochtenen, silbernen Schnur und stiefelte dem unbeliebten Dienst entgegen. Unterwegs traf ich auf Unteroffizier Wagner. Er stemmte die Hände in die Hüften und neigte den Kopf zur Seite, als er mich sah. „Krüger!“, brummte er. „Wer hat DICH denn zum ,Stellv.’ gemacht?“ Ich hob hilflos die Schultern an. „Vermutlich derselbe Trottel, der dich zum Unteroffizier gemacht hat.“ Wagner nickte. „Jo, so wird’s sein.“ Egal, ob wir mitten im Kalten Krieg, während der Wende oder in Zeiten der Bundeswehrreform gedient haben: Der Wehrdienst hat uns geprägt und oft genug haben wir geflucht. Aber seien wir ehrlich: Missen möchten wir diese Zeit nicht! Mit dieser Sonderausgabe wagt CLAUSEWITZ eine Gesamtschau – von den bescheidenen Anfängen der Bundeswehr bis hin zur modernen Einsatzarmee. Vor allem die bedrückende Atmosphäre des Kalten Krieges haben wir in den Mittelpunkt gestellt. Eine Zeit, in der über Deutschland das Damoklesschwert des Atomkrieges hängte – und in der es die Bundeswehr war, die plötzlich in der Strategie der NATO eine ganz entscheidende Rolle bekam. Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen, liebe Leser, die privaten Aufnahmen und Erzählungen ehemaliger Wehrpflichtiger. Denn so sehr die Bundeswehr sie auch geprägt haben mag, am Ende waren auch sie es, die der Armee ihren Stempel aufgedrückt haben. Mit dem Ende der Wehrpflicht wird auch die Bundeswehr zweifellos ihr Gesicht verändern. Es bleibt zu hoffen, dass sie dabei ihre guten Traditionen bewahrt, die sie zu dieser wahrlich einzigartigen Streitmacht machen. Ich wünsche Ihnen, liebe Leser, eine spannende, abwechslungsreiche Lektüre und viele neue Erkenntnisse.
„KALTE KRIEGER“: So, wie auf diesem Bild zu sehen, erlebten zahllose Jahrgänge die Bundeswehr, bevor sie sich nach der Wende grundlegend modernisierte. Foto: Regina Schmeken/ Süddeutsche Zeitung Photo
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Die Bürgerarmee Chronik von 1945 bis 1965
10 Keine Experimente Die Bundeswehr entsteht
14 „Rettende Engel“ Die Hamburger Sturmflut von 1962
16 Raue Schale, weicher Kern? Das Prinzip der „Inneren Führung“
Die Kasernen und Truppenübungsplätze
56 Alte Namen, neuer Stahl Die Panzerfahrzeuge der Bundeswehr
64 US-Metall und Tradition Uniformen und Handwaffen der ersten Jahrzehnte
68 Wenig Feind, viel Wehr Chronik von 1985 bis 1995
20 Liberale Armee? Chronik von 1965 bis 1975
74 Fremde Kameraden Die Integration der NVA
26 Die „Hölle“ von Sontra Grundausbildung in den 1960er-Jahren
82 Wandel oder Krise? Chronik von 1995 bis 2015
30 Zwischen Atomkeule und
Sturmgewehr Wie die Bundeswehr den Ernstfall probte
36 Wettrüsten Chronik von 1975 bis 1985
42 Mit Haarnetz in den Stefan Krüger, M.A. Redakteur
48 Städte im Flecktarnfieber
Kalten Krieg So lief der Wehrdienst Anfang der 1970er-Jahre
88 Zwischen „Tupperteil“
und „Handartillerie“ Die modernen Handwaffen der Bundeswehr
92 Armee ohne Feind? Die Zukunft der Bundeswehr
98 Epilog Eine starke Truppe
Titelfotos: ullstein bild – vario images/Alexandre Simoes; picture alliance/dpa; Bundeswehr; picture alliance/JOKER
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Chronik
Die Jahre von 1945 –1965
Die Bürgerarmee
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Der Schock des Zweiten Weltkrieges saß noch tief, als die Westalliierten Deutschland aufforderten, eigene Streitkräfte aufzustellen. Was nun begann, war ein zähes Ringen um den Charakter der neuen Armee. Von Stefan Krüger
ES WIRD WIEDER MARSCHIERT: Ein Zug des Lehrbataillons Andernach am 19. April 1956 auf dem Weg zur Waffenausbildung auf dem Truppenübungsplatz PfafFoto: picture-alliance fendorf.
Clausewitz Spezial
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Chronik 1945–1965
Das Ende der Wehrmacht 9. MAI 1945: Das Oberkommando der Wehrmacht verfasste an diesem Tag seinen letzten Wehrmachtsbericht, in dem es das Ende des Krieges verkündet: „Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Admirals [Dönitz] hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen.“
STUNDE NULL: Deutsche Kriegsgefangene 1945 auf einem Sammelplatz bei Eger. Viele glaubten, n dass die Geschichte des deutsche sei. ei vorb ültig endg nun ärs Milit
Foto: picture-alliance/akg-images
20. AUGUST 1946: Die Alliierten lösen mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 34 die Deutsche Wehrmacht endgültig auf. Die Geschichte des deutschen Militärs scheint damit an ihr Ende gekommen zu sein, denn für die Zeitgenossen wäre es nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs unvorstellbar gewesen, dass es jemals wieder so etwas wie eine deutsche Armee geben würde. Diese Ansicht teilten zunächst auch die Siegermächte. Hatten sie doch bereits auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 beschlossen, Deutschland vollständig zu entmilitarisieren.
1945
1946
1947
AUS BOMBERN WERDEN LEBENSRETTER: Als die Sowjets Berlin abriegelten, bauten die Westalliierten eine gigantische Luftbrücke auf. Es war ein erstes großes Donnergrollen im Kalten Krieg. Foto: picture-alliance/akg-images
1948
Der Kalte Krieg beginnt 24. JUNI 1948: Die Sowjetunion schneidet Westberlin vollständig ab, sodass die Alliierten die Berliner Luftbrücke initiieren, mit der die Bewohner der ehemaligen Hauptstadt bis zum 12. Mai 1949 versorgt werden. Vordergründig reagierte Moskau damit auf die Währungsreform in der westlichen Besatzungszone. Tatsächlich aber ist diese Krise als Auftakt zu dem schweren Konflikt zu verstehen, der nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Bezeichnung „Kalter Krieg“ zwischen den Blöcken entbrannte und schließlich auch zur Wiederbewaffnung Deutschlands führte.
23. MAI 1949: Die Bundesrepublik-Deutschland entsteht. Der Besatzungsstatus ist damit allerdings noch nicht aufgehoben.
7. OKTOBER 1949: PROPAGANDA: Mit diesem Plakat wandte sich die DDR 1951 gegen eine Wiederbewaffnung, tatsächlich aber hatte der Aufbau neuer Streitkräfte im Osten bereits begonnen. Foto: picture-alliance/akg-images
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Die Deutsche Demokratische Republik wird gegründet.
1949
Das Erbe der Wehrmacht
Auf dem Weg zur Wiederbewaffnung 25. JUNI 1950:
16. MÄRZ 1951:
Der Koreakrieg beginnt. Die Auseinandersetzung, die bis zum 27. Juli 1953 dauern sollte, ist der erste Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Hatte der Bundestag im November 1949 eine Wiederbewaffnung noch abgelehnt, kippte angesichts dieses Konfliktes nun die Stimmung und bereits am 26. Juli 1950 stimmten die Parlamentarier dafür, dass die Bundesrepublik einer westlichen Verteidigungsgemeinschaft beitreten sollte.
Die Bundesrepublik unternimmt auch auf ausdrücklichen Wunsch der Westalliierten den ersten aktiven Schritt zur Wiederbewaffnung und stellt den paramilitärisch organisierten Bundesgrenzschutz auf.
1. JULI 1952: Die DDR gründet mit der Kasernierten Volkspolizei den Vorläufer der Nationalen Volksarmee und gibt somit den Startschuss für die Remilitarisierung Ostdeutschlands.
OKTOBER 1950: Ehemalige Angehörige der Wehrmacht, die allerdings als unbelastet gelten, verfassen die Himmeroder Denkschrift, die Umfang und Charakter möglicher neuer deutscher Streitkräfte definiert. So plädiert die Expertengruppe dafür, die künftige Armee der Bundesrepublik fest in ein europäisches Bündnis zu integrieren, wobei der Schwerpunkt auf den Landstreitkräften liegen sollte. Die Aufgabe, den See- und Luftraum zu verteidigen, sieht man hingegen bei den Verbündeten Großbritannien und den Vereinigten Staaten aufgehoben. Die Gesamtstärke sollte etwa 250.000 Mann betragen.
1950
1951
26./27. MAI 1952: Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten unterzeichnen den Vertrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Die westlichen Siegermächte hatten der Bundesrepublik zuvor in Aussicht gestellt, dass der Besatzungsstatut aufgehoben wird, sobald Deutschland seinen Beitrag zur Verteidigung des Westens leistet, indem es der EVG Beitritt. Frankreich jedoch fürchtet um seine Wehrhoheit, da das Projekt vorsieht, die nationalen Streitkräfte durch eine Europa-Armee zu ersetzen, und lehnt es schließlich am 30. August 1954 ab, der EVG beizutreten.
1952
1953
ES IST GESCHAFFT: Gemeinsam mit Generalleutnant Hans Speidel (links) und Verteidigungsminister Theodor Blank (zweiter von links) besuchte Bundeskanzler Konrad Adenauer (zweiter von rechts) im Jahr 1956 fünf Kompanien der neu aufgestellten Bundeswehr in Andernach. Foto: picture-alliance/akg-images
Clausewitz Spezial
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Chronik 1945–1965
Die Bundeswehr entsteht 23. OKTOBER 1954: Die Bundesrepublik unterzeichnet die Pariser Verträge, die am 5. Mai 1955 in Kraft treten. Deutschland wird damit unter anderem NATO-Mitglied und erreicht, dass die Siegermächte das Besatzungsstatut aufheben. Es gilt jedoch nach wie vor die Bedingung, dass der westdeutsche Staat eigene Streitkräfte aufstellen und in den Nordatlantikpakt integrieren muss. AMERIKANISIERT: Bundesgrenzschutzjäger präsentieren die neuen Armee-Uniformen. Fotos (2): picture-alliance/dpa
VEREIDIGT: Verteidigungsminister Willi Stoph übergibt am 30. April 1956 dem 1. Regiment der NVA ihre Standarte. Foto: picture-alliance/ akg-images
15./16. JULI 1955: Der Bundestag verabschiedet das Freiwilligengesetz, das die Regierung ermächtigt, Soldaten für die neuen Streitkräfte anzuwerben.
12. NOVEMBER 1955: Verteidigungsminister Theodor Blank überreicht den ersten Freiwilligen ihre Ernennungsurkunden. Dieser Tag gilt als Gründungsdatum der Bundeswehr.
18. JANUAR 1956: Die Nationale Volksarmee (NVA) entsteht. Genauso wie in der Bundesrepublik waren es auch in der DDR paramilitärische Polizeieinheiten, die den personellen Grundstock der neuen Streitkräfte darstellten. AUFGESTELLT: Die ersten Einheiten der Bundeswehr 1956 in Andernach.
1954
1955
1956
1957
1958
1959
3. MÄRZ 1956: Die Bundeswehr erhält erstmalig US-Panzer vom Typ M 47 Patton. Die Waffenhilfe der Verbündeten ist zunächst alternativlos, da die heimische Rüstungsindustrie noch lange nicht in der Lage ist, die Armee zu versorgen. Insgesamt stellen die Vereinigten Staaten Rüstungsgüter mit einem Wert von rund 3,8 Milliarden DM zur Verfügung. BÜCKLING: US-Generalstabschef Maxwell Taylor während seiner Verabschiedung 1959. Das Bild zeigt symbolisch, Foto: picture-alliance/dpa wer in der NATO das Sagen hatte.
INFO
Wehrpflicht
Dauer des Grundwehrdienstes in der Bundeswehr 1956–1961 1962–1971 1972–1985 1986–1988 1989 1990–1995 1996–2001 2002–2010 seit 2011
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12 Monate 18 15 18 15 12 10 9 6
22. MÄRZ 1956: Der Bundestag ergänzt das Grundgesetz um den Artikel 87a (Wehrverfassung), in dem festgelegt wird, dass die Bundesrepublik Deutschland eigene Streitkräfte zur Landesverteidigung aufstellt.
21. JULI 1956: Das Wehrpflichtgesetz tritt in Kraft. Der Grundwehrdienst beträgt zunächst zwölf Monate, was sich jedoch in den nächsten Jahrzehnten noch erheblich ändern sollte. Die Wehrgesetze machen es möglich, dass der Staat die Bundeswehr bis Ende 1957 auf rund 118.000 Mann vergrößern kann.
RÜSTUNGSHILFE: Zu Beginn musste die Bundeswehr mit US-Material wie diesem M48 auskommen, der kurz nach dem M47 eingeführt wurde. Foto: T. Anderson
Verankert im Grundgesetz
28. OKTOBER 1956: Die Schule der Bundeswehr für Innere Führung wird gegründet. Das Konzept der Inneren Führung entwickelt sich im Laufe der Zeit zu dem Alleinstellungsmerkmal der Bundeswehr. Gewissermaßen als Entgegenkommen an die zahlreichen Kritiker der Wiederbewaffnung hat die Innere Führung den Zweck, die neuen deutschen Streitkräfte fest im demokratischen Gefüge zu verankern.
NEUE WEGE: Die Schule für Innere Führung hatte die Aufgabe, die Bundeswehr fest im demokratischen Rechtsstaat zu verankern. Foto: picturealliance/dpa
Droht der Dritte Weltkrieg? 27. NOVEMBER 1958:
16./17. FEBRUAR 1962:
Sowjetführer Nikita Chruschtschow fordert den Westen ultimativ auf, Berlin in eine Freie Stadt umzuwandeln. Ferner schlägt die Sowjetunion ein blockfreies Deutschland vor. Dieser Vorstoß ist vor allem eine Reaktion auf die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, wie Chruschtschow in einer Rede am 10. November desselben Jahres deutlich machte. Die westlichen Alliierten beharren jedoch auf ihren Hoheitsansprüchen über Westberlin, auch die Bundesregierung lehnt die sowjetische Initiative ab.
In Hamburg kommt es zu einer verheerenden Sturmflut, bei der die Bundeswehr zum ersten Mal in ihrer Geschichte auch im Inneren eingesetzt wird, was der Armee in der Bevölkerung großes Ansehen brachte (siehe Beitrag auf Seite 14).
1. APRIL 1962: Der Grundwehrdienst wird auf 15 Monate verlängert.
1. JULI 1962: Der Grundwehrdienst wird auf 18 Monate verlängert.
1960
1961
1962
1962
14. OKTOBER 1962: US-Aufklärungsflugzeuge entdecken auf Kuba Abschussrampen für sowjetische Mittelstreckenraketen. Die USA verhängen daraufhin eine Blockade um den Inselstaat und versetzen ihre Streitkräfte weltweit in Alarmbereitschaft – der Dritte Weltkrieg scheint unmittelbar bevorzustehen. Die Sowjetunion respektiert jedoch die Blockade, während die USA auf eine Invasion Kubas verzichten und zudem ihre Raketen aus der Türkei abziehen. Die Gefahr eines Atomkrieges bringt die Supermächte dazu, eine Politik der Entspannung einzuleiten. Ferner überdenkt die NATO ihre Strategie, die bis dahin allein auf atomare Abschreckung beruhte. Ziel des westlichen Bündnisses ist es nun, einen Konflikt auch mit konventionellen Mitteln auszutragen. Den Status der Bundeswehr wertet dieser Strategiewechsel deutlich auf: Sie verfügt zwar über keine Atomwaffen, hätte aber in einem konventionell geführten Krieg wohl mit die Hauptlast der Kämpfe zu tragen.
1964
1965
AM RANDE EINES WELTKRIEGES: Am 22. Oktober 1962 gab US-Präsident John F. Kennedy in einer Rede die KubaBlockade bekannt. Foto: picturealliance/AP Photo
HERBST 1962: Die NATO führt die Stabsrahmenübung Fallex 62 (siehe Bericht auf Seite 30) durch. Das Manöver bringt eklatante Rüstungsmängel der Bundeswehr zutage und stellt ihre Fähigkeit infrage, einen konventionellen Krieg zu führen.
1. JULI 1965: Der Traditionserlass der Bundeswehr tritt in Kraft. Er bestimmt, dass sich die Streitkräfte der Bundesrepublik in der Tradition der preußischen Reformer und der Widerstandskämpfer aus der Zeit des Nationalsozialismus sehen.
9. SEPTEMBER 1965: Der erste Panzer vom Typ Leopard 1 wird an die Panzertruppe übergeben. Auf diese Weise kann die Bundeswehr ihre Abhängigkeit vom amerikanischen Material Schritt für Schritt reduzieren.
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DER ERSTE: Hier ist der erste Leopard 1 zu sehen, den die Bundeswehr erhalten hatte. Aufnahme von 1998. Foto: picturealliance/ZB
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Wiederbewaffnung
Die Bundeswehr entsteht
Keine Experimente Nie wieder Soldaten? Nie wieder Militär? Dies schien nach dem Krieg eine ausgemachte Sache zu sein, doch die Nachkriegsrealität holte die Deutschen rasch ein. Wie nahVon Peter Andreas Popp men sie die neuen Streitkräfte auf?
DER „ALTE“ SPRICHT: Der Schock des Zweiten Weltkriegs saß tief im deutschen Volk, doch noch größer war die Angst vor der Sowjetunion, sodass bereits 1955 die Bundeswehr entstand. Hier besucht Konrad Adenauer die Bundeswehr 1956 in Andernach. Foto: picture-alliance/akg-images
E
gal, in welcher der vier Besatzungszonen man nach 1945 sondierte: Die Deutschen hatten genug von Krieg und Militär. Im Grunde bedurfte es, so besehen, gar nicht der amerikanischen Re-Education, um sie davon zu überzeugen. Prominent steht dafür ein Ausspruch des späteren zweiten Verteidigungsministers der Bundesrepublik Deutschland (1957–1962), Franz Josef Strauß, der im Bundestagswahlkampf 1949 bekundete: „Wer noch einmal ein Gewehr in
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die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen.“ Diese Worte sollten in den kommenden Jahrzehnten gerne von seinen politischen Gegnern aufgegriffen werden, sodass sich der bayerische Vollblutpolitiker 1975 folgendermaßen selbst interpretierte: „Die Äußerung, die mir hier in den Mund gelegt wird, ist nur im Zusammenhang zu verstehen, so wie ich ihn oft dargelegt habe: Dass nämlich jeder Staatsmann, der zum Gewehr greift, um damit seine politischen Ziele
durchzusetzen, und ich meinte damit Hitler mit dem Angriffsbefehl gegen Polen, die Hand abfallen soll.“
Nie wieder deutsches Militär? Ganz gleich, wie man es wendet: Franz Josef Strauß, Oberleutnant der Wehrmacht, gehörte zu denen, die mit dem Korea-Schock von Anfang Juni 1950 hin und her gerissen waren zwischen schlimmer Kriegserfahrung sowie der Einsicht, dass der jungen
Bundesrepublik dasselbe Schicksal blühen könnte wie Südkorea: nämlich überrannt zu werden. Doch wie hielt es die männliche Jugend, die bereits zu den „weißen Jahrgängen“ (1927–1935) gehörte? Aufgewachsen im „Dritten Reich“, hatte sie die Möglichkeit, als Zeitfreiwilliger in die Bundeswehr einzutreten, bevor die Regierung zum 1. April 1957 die Allgemeine Wehrpflicht einführte. Betrachten wir vier Fallbeispiele aus den Jahren der frühen Bundesrepublik. Es sind junge Leute, die sich freiwillig zum Dienst an der Waffe gemeldet haben.
Die Gesichter der neuen Armee Fallbeispiel 1: Hubert Pogge, Jahrgang 1934, geboren in Magdeburg/Sachsen-Anhalt, Flüchtling aus der Sowjetischen Besatzungszone/DDR nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Sein Vater, Arbeiter im Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann, war an jenem Tag auf die Straße gegangen, der unmittelbaren Repression der DDRStaatsmacht ist er aber entgangen. Gleichwohl floh die Familie via OstBerlin, obwohl die innerdeutsche Grenze seit 1952 nur unter Lebensgefahr überschritten werden konnte. Dabei hätte der Sohn in der DDR studieren können, denn das Abitur hatte er 1953 mit Erfolg abgelegt. Fallbeispiel 2: Franz Sedlaczik, geboren 1933 in Budweis/Sudetenland (nach 1945 Tschechoslowakische sozialistische Republik). Mit seiner Mutter siedelte der 16-Jährige nach Bayern um, nachdem Mutter und Sohn von Seiten der Tschechoslowaken Gewalt erfahren mussten – Gewalt, die vom neuen Staat so ausdrücklich gebilligt war, um die ungeliebten Deutschen loszuwerden. Der Vater, Zahntechniker, kam erst 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft frei, und die Familie ließ sich sodann in Neugablonz bei Kaufbeuren nieder. Der Sohn könnte in der dort aufblühenden, glasverarbeitenden Industrie Arbeit finden. Fallbeispiel 3: Hinnerk Petersen, geboren in Hamburg im Jahr 1933, verlor die Mutter bei dem britischen Bombenangriff auf die Freie und Hansestadt Mitte Juli 1943. Der Vater, Werkzeugmaschinenschlosser und Unteroffizier mit Portepee in der Reichskriegsmarine, kehrte bereits 1946 aus britischer Kriegsgefangenschaft zurück und fand bei Blohm & Voss Arbeit. Der Sohn wuchs bei der Tante auf und erreichte die Mittlere Reife. Seit 1949 arbeitete er dann in der Landwirtschaft, sein Wunschtraum aber war es,
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auf eine Technikerschule, vielleicht sogar auf eine Fachhochschule zu gehen. Fallbeispiel 4: Florian von Bechstein, geboren in Marburg an der Lahn im Jahr 1935. Der Vater, Stabsoffizier im Rang eines Oberstleutnants bei den Panzeraufklärern der Wehrmacht, geriet nach der Landung der Alliierten in der Normandie in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wurde aber bereits im Dezember 1945 entlassen. Danach fand er Arbeit als Journalist bei der örtlichen Zeitung. Florian besuchte ein Gymnasien und nach dem Abitur (1955) deutete alles auf ein Studium der Rechtswissenschaft hin. In allen vier Fällen entschieden sich die Betreffenden für den Eintritt in die Bundeswehr. Dabei hätten sie auch einen ganz anderen Weg gehen können: Hubert etwa hätte nach Amerika auswandern können, während Franz in Neugablonz als Glasschleifer tätig hätte werden können. Vielleicht wäre aus ihm aber auch ein hoffnungsvoller Politiker derselben Partei geworden, der Franz Josef Strauß prominent angehörte – in Bayern als Flüchtling angekommen, und das bei der CSU;
SCHAURIGE MAHNUNG: Die Wiederbewaffnung Westdeutschlands erfuhr teils scharfe Kritik, so wie durch diesen Protestler im Jahr 1956. Foto: picture-alliance/ akg-images
Hinnerk hingegen hätte auch in der Gewerkschaftsbewegung Karriere machen können, vielleicht gekoppelt mit einer sozialdemokratischen Politikerkarriere; bei Florian wäre es vorstellbar gewesen, dass er mit der Familientradition bricht. Schließlich sprach der Vater niemals über den Krieg und das NSRegime und die Mutter schwieg. Der Sohn stellte aber Fragen. Vielleicht hätte er als Rechtsanwalt Ende der 1960er- und erst recht dann in den 1970er-Jahren Mandanten aus der linken Szene verteidigt. Was bewog alle vier, freiwillig zur Bundeswehr zu gehen? Auf alle Fälle nicht das Gefühl der Alternativlosigkeit. Denn für alle lief es nach 1950 zunehmend besser. Das mit dem Jahr 1954 einsetzende „Wirtschaftswunder“ bot für jeden Perspektiven. Auf den engen geografischen Bereich war keiner der vier hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten fixiert. Sprechen wir also die Motive an, die tatsächlich zum freiwilligen Eintritt in die Streitkräfte führten.
Bundeswehr bietet Perspektive Bei Hubert waren es die Erfahrungen mit dem SED-Regime; bei Franz war es die Heimatlosigkeit, gekoppelt mit den schlimmen Erlebnissen, die ihm während der Vertreibung widerfuhren; Hinnerks Motive rührten schicht vom maritimen Umfeld her, während Florian schließlich die Offizierstradition der Familie fortsetzen wollte. Alle vier fanden bei der Bundeswehr adäquate berufliche Perspektiven und die Berufsabschlüsse, die sie dort erwarben, ließen sich auch im Zivilleben nutzen. Was heißt das nun hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz der Bundeswehr? Die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft vertrat ein hohes Arbeitsethos. Aber nicht dergestalt, dass das Denken in militärischen Effizienzkriterien den wirtschaftlichen Aufschwung allein beflügelt hätte, wie Hans Ulrich Wehler in seinem großen Werk über die Gesellschaftsgeschichte Deutschlands schrieb. Das westdeutsche Leistungsideal war ökonomisch-individualistisch orientiert, nicht militärisch-kollektivistisch. Es verkörperte ein Vehikel zu Wohlstand in einem zerstörten Land und wirkte als Heilmittel, die schreckliche jüngste Vergangenheit vergessen zu machen. Das hieß für die Institution Bundeswehr, dass sie mit attraktiven beruflichen Perspektiven von Anfang an werben musste, um eine gesellschaftlich akzeptierte Leistungselite zu generieren. In den Zeiten der Hochkonjunktur und unter den Gegebenheiten der geburtenstarken Jahrgänge (bis 1964) tat sie sich damit schwer. Erschwerend kam hinzu,
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Wiederbewaffnung
DIE ERSTEN: Verteidigungsminister Theodor Blank ernannte am 12. November 1955 die ersten Bundeswehr-Soldaten. Foto: picture-alliance/akg
dass der Aufbau ab 1957 so massiv war, dass bis in die 1970er-Jahre hinein die neue Führungskultur im Zeichen der „Inneren Führung“ nur holpernd Fuß fasste. Vielleicht musste auch erst die Kriegsgeneration abtreten, um mentale Verkrustungen schwinden zu lassen. Doch das betraf die gesamte westdeutsche Gesellschaft. Was war das für eine Armee, die die Bundesrepublik so schnell aus dem Boden stampfte? Immerhin wuchs sie zwischen 1950 und 1965 von null auf 500.000 Mann an – verglichen mit Görings Vierjahresplan von Oktober 1936 war dies sehr ambitioniert. Dies bedeutete aber auch: Ohne WehrmachtSoldaten ging es nicht. Ein Personalgutachter-Ausschuss wachte darüber, dass keine Offiziere ab Dienstgrad Oberstleutnant/Fregattenkapitän zur Truppe kamen, die eine braune Vergangenheit („Typ Schörner“) hatten. Im Übrigen galt die Wehrmacht als sauber, ob die Waffen-SS aus „Soldaten wie anderen auch“ (Paul Hausser) bestand, war schon strittiger.
AUFSTAND: Mit dem 17. Juni 1953 stieg im Westen die Akzeptanz für die Wiederbewaffnung. Foto: picture-alliance/AP Photo
sellschaftlichen Segment, das hinsichtlich der Armee das Spottwort „Pleiten, Pech und Pannen“ im Mund führte, jedenfalls nicht steigern. Natürlich war der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung im Zeitraum von 1952 bis 1955 nicht zu unterschätzen. Doch in dem Augenblick, wo sich die Sowjetunion in ihrer tatsächlichen Herrschaftspraxis auf deutschem Boden demaskierte – wie etwa während des 17. Juni 1953 –, war der „Massenbewegung“ der Boden entzogen: Die Ohne-Mich-Strömung aus den frühen
1950er-Jahren fand in der PaulskirchenGruppe mit den späteren sozialdemokratischen Leitfiguren (Gustav Heinemann, Johannes Rau) ein eher verhaltenes Echo. Adenauer hatte bis 1954 auch keine Nationalarmee im Sinn. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn es statt der NATO-Lösung zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit einer Europa-Armee gekommen wäre. Das Vorhaben scheiterte an der Französischen Nationalversammlung am 30. August 1954 und nicht an westdeutschen Massenprotesten. „Europa“ war da-
Verfehlte Rüstungspolitik? Die Militärtechnik kam zuerst aus den USA, ab den 1960er-Jahren setzte Deutschland zunehmend auf europäische Rüstungskooperationen. Kritiker behaupten, dass die Verantwortlichen in erster Linie nicht militärpolitische Bedürfnisse berücksichtigt haben, als sie Rüstungsgüter beschafften. Vielmehr standen angeblich ökonomische Interessen im Vordergrund getreu dem Motto „Wer zahlt, schafft an“ oder „Angebot bestimmt die Nachfrage“. Die Wahrheit lag und liegt irgendwo in der Mitte. Mit verkorksten Rüstungsprojekten wie etwa der Starfighter-Krise in den 1960er-Jahren konnte die Bundeswehr ihr Ansehen in einem bestimmten ge-
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OHNE MICH: Die bayerische Gewerkschaftsjugend demonstriert hier am 20. November 1954 gegen die Aufstellung neuer deutscher Streitkräfte. Foto: picture-alliance/dpa
Wiederbewaffnung findet vermehrt Fürsprecher
IM ZEICHEN DES EISERNEN KREUZES: Theodor Blank spricht hier am 12. November 1955 zu den ersten 101 freiwilligen Soldaten der frisch aufgestellten Bundeswehr. Foto: picture-alliance/akg-images
„Sie brauchen sich über die Versorgung meiner Person und meiner Familie keine Sorgen zu machen! Diese Frage ist bis zum Einmarsch der Roten Armee weitgehend geregelt.“
nicht einberechnet. Sie boten Abschreckung, zumindest solange die USA ein strategisches Atomwaffenmonopol besaßen. Die beiden Großmächte unter den Verbündeten der Bundesrepublik waren nicht bereit, die Westdeutschen „an den Drücker“ zu lassen.
Franz Josef Strauß im Jahre 1976
Ohne jede Begeisterung
mals, vielleicht auch als Fluchtmöglichkeit aus der durch den Nationalsozialismus belasteten Nationalgeschichte, gerade bei der westdeutschen Jugend hoch im Kurs. Die Jahre 1955/56 waren nicht durch Protest geprägt, jedenfalls nicht so, wie es bis 1954 der Fall war.
Schrecken oder Abschreckung? Demonstrationen größeren Ausmaßes gegen die Sicherheitspolitik der Bundesregierung gab es erst wieder in dem Augenblick, als die Frage anstand, ob die Bundeswehr atomare Trägersysteme oder gar Kommandogewalt über Atomwaffen erhalten sollte. 1957/58 stand dies auf der politischen Agenda. Nicht so sehr katholische, vielmehr evangelische Kirchenkreise erhoben das Wort. Vielleicht schwang hier auch das schamhafte Wissen mit, zwischen 1933 und 1945 nicht protestiert zu haben.
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Der anspielende Vergleich hinkt insofern, als es nicht um einen Angriffskrieg, sondern um glaubhafte Verteidigung ging. Mit Chruschtschows Berlin-Ultimatum (November 1958) war auch dieser Protest relativiert, obwohl die Atombombe nur im militärtechnisch-historischen Sinne eine – um Adenauers Ausspruch vor dem deutschen Bundestag am 4. April 1957 aufzugreifen – „Weiterentwicklung der Artillerie“ darstellte. Die Frage der atomaren Bewaffnung wurde öffentlichkeitswirksam erst wieder richtig virulent mit den Protesten gegen den NATODoppelbeschluss in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre. Doch da war die optimistische Grundstimmung der „restaurativen“ Fifties und der Swinging Sixties längst verflogen. Aus der Perspektive der 1950er- bis 1970erJahre verkörperten Atomwaffen eine preiswerte Alternative zur teuren konventionellen Rüstung – die Folgekosten natürlich
Und somit bleibt als Fazit: Als man die Bundeswehr aufstellte, geschah dies zwar ganz ohne „Hurra“. Auf der anderen Seite aber blockierte die Bevölkerung die Wiederbewaffnung nicht. Im Übrigen verließ man sich auf die Abschreckungsfähigkeit vornehmlich der US-Streitkräfte auf deutschem Boden. Behütet durch die Alliierten und gekoppelt mit einer einmaligen Amerika-Begeisterung, konnten sich die Westdeutschen in ihrer Wirtschaftswunderwelt einrichten und die deutsche Sozialdemokratie schwenkte zunehmend auf den sicherheitspolitischen Kurs von Adenauer ein. Ihr Godesberger Parteiprogramm von November 1959 bestätigte dies. Nachdenklich muss stimmen, dass die Bundeswehr ihr geistig-historisches Fundament erst mit dem Traditionserlass von 1965 fand. Der Aufbau der Bundeswehr im Zeichen voller NATO-Integration – nur als solcher war er den Nachbarn auch vermittelbar – ließ diesen Umstand nicht als Defizit erkennen.
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Einsatz im Inneren
Die Hamburger Sturmflut von 1962
„Rettende Engel“ Ihre erste Bewährungsprobe im Inneren erlebte die Bundeswehr 1962. Dabei stand ihr keine bewaffnete Macht gegenüber, sondern die Natur. Mit ihrem Einsatz erwarb Von Alexander Losert sie sich hohes Ansehen – obwohl er ein Verfassungsbruch war.
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n der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 ereignete sich eine der schwersten Naturkatastrophen der deutschen Nachkriegsgeschichte: die Hamburger Sturmflut. Doch nicht nur die Hansestadt war davon betroffen, sondern auch weite Teile Norddeutschlands. Der damalige Hamburger Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt übernahm die Koordination der Hilfskräfte. So setzte er auch erstmals die Bundeswehr im Inneren ein, obwohl dies nicht dem Grundgesetz entsprach. Doch dies war für den Augenblick zweitrangig. Denn nachdem die ersten Deiche gebrochen waren, wie etwa in Neuenfelde im Alten Land, wo es allein 13 Todesopfer zu beklagen gab, bahnten sich die Wassermassen ihren Weg. Bald erreichten sie das „Venedig des Nordens“. Am schlimmsten war der Stadtteil Wilhelmsburg betroffen, wo Tausende Menschen von der Außenwelt abgeschnitten waren – über 200 Menschen ertranken allein dort. Auch der größte deutsche Güterbahnhof befand sich hier. Das Meer
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hatte ihn völlig verschluckt und dabei Teile der Gleisanlagen unterspült. Der Schienenverkehr von Norden nach Süden kam tagelang zum Erliegen. Überall herrschte Chaos und der Erste Bürgermeister weilte nicht in der Stadt.
„Habe keine Sekunde gezögert“ Helmut Schmidt eilte indessen in die Hansestadt und nahm vor Ort das Heft in die Hand. So entschied er die Armee einzusetzen. Anlässlich eines Interviews mit zwei Hamburger Abiturienten im Jahr 1996 (für einen Wettbewerb des Bundespräsidenten) rechtfertigte er seine damalige Entscheidung: „Hier ging
HINTERGRUND
es um Menschenleben. Da saßen Tausende auf den Dächern ihrer Wochenendlauben. Die, wenn sie nicht ertranken, erfrieren würden. Ganz abgesehen davon, dass sie nichts zu essen und nichts zu trinken hatten. Sie mussten also so schnell wie möglich geborgen werden. Dazu gab es nur zwei Möglichkeiten: mit Motorbooten und mit Hubschraubern. Beides hatte die Bundeswehr, deshalb habe ich keine Sekunde gezögert (...).“ Am 17. Februar hatte Schmidt für 12 Uhr mittags in Zimmer 116 des Polizeipräsidiums eine „Große Lage“ angesetzt, zu der auch Vertreter der Bundeswehr erschienen. „Kann die Bundeswehr helfen?“, wandte sich
Zahl der Helfer
8.000 Bundeswehrsoldaten 4.000 Nato-Soldaten 400 Mann vom Bundesgrenzschutz 1.700 Feuerwehrleute 2.000 Mann vom THW
1.000 DRK-Helfer 640 Helfer von karitativen Organisationen 2.000 Mann vom Bundesluftschutzverband 400 Bereitschaftspolizisten 5.000 Mann von der Hamburger Polizei
AUSSER GEFAHR: Hier evakuieren Bundeswehrsoldaten Flutopfer in einem Schlauchboot. Foto: picture-alliance/dpa
GEEHRT: Bundespräsident Heinrich Lübke dankt bei einem Empfang am 26. Februar 1962 den Helfern. Foto: picture-alliance/Gerd Herold
Schmidt an einen der Offiziere, als es um die Vor allem den Hubschrauberpiloten geFernsprechverbindung in die verschiedenen, lang es häufig, Menschen von ihren Dächern schwer gezeichneten Gebiete ging. „Kann zu retten, die völlig abgeschnitten waren. helfen!“, kam es schlagartig zurück. Sammelpunkt für die Maschinen war der Doch auch schon vorher hatFlughafen Fuhlsbüttel. Einer te sich eine gigantische Maschidieser Männer war der erst 25 nerie in Gang gesetzt, um den Jahre alte Pilot Udo Theel, der Betroffenen zu Hilfe zu eilen. Bedie Einsätze in seinem Sikorsky reits seit dem späten Vormittag H 34 (Kennung QA 462) flog. starteten von drei HeeresfliegerVielfach gab es Anekdoten zu flugplätzen (Bückeburg, Celle berichten wie eben diese, die und Rheine) Hubschrauber nach dem jungen Mann und seiner Hamburg. Und auch schon in Crew widerfahren ist: In der Näder Nacht gingen die ersten Hilhe von Estebrügge weigerte sich ferufe bei den Kommandanturen ein Bauer, in den Hubschrauber ein. Schmidt schickte ebenfalls zu steigen, wenn das neugeborefrüh, wie es der Spiegel (10/1962) „SCHMIDT-SCHNAU- ne Kälbchen nicht mit durfte. berichtet, „Hilferufe an Verteidi- ZE“: Helmut Schmidt Seine Mutter war in den Wassergungsminister Strauß und die bat während der massen ertrunken. Nach kurzer Befehlshaber der Wehrbereiche I Sturmflut auch die Diskussion flog das Kälbchen im (Hamburg, Schleswig-Holstein) Bundeswehr um HilHelikopter mit und überlebte und II (Niedersachsen), Konte- fe – trotz der rechtliden „lauten Stress“. radmiral Rogge und Generalma- chen Hindernisse. Alle Kräfte packten mit an Foto: picture-alliance/dpa jor Christian Müller“. und gaben ihr Bestes. Aber vor Allein aus diesen Wehrbereiallem für die noch relativ junge chen setzten sich umgehend drei Pionierba- Bundeswehr war der Einsatz mit einem imtaillone, zwei Schwimmbrückenkompanien mensen Imagegewinn verbunden. „Rettenund Schlauch- und Sturmbootgruppen in de Engel“ nannten manche die Soldaten, Marsch. Später folgten noch zwei weitere wenn sie Menschen und Tieren halfen. EbenPionierbataillone, eine Schwimmbrücken- so half die Bundeswehr bei der erschütternkompanie und vier Pionierkompanien den Arbeit, die Leichen zu bergen. Fotogra(zwei davon von den Briten). fen und Kameraleute bekamen die Anwei-
Mit Bauer und Kälbchen In der Folge waren allein in Hamburg 8.000 Bundeswehrsoldaten im Einsatz. Im Kampf gegen die Flut zur Rettung der Menschen setzte die Armee 85 Hubschrauber und zahllose Fahrzeuge, Sturm- und Schlauchboote ein. Hinzu kamen noch weitere Helfer wie etwa 4.000 britische, amerikanische und niederländische NATO-Soldaten, Feuerwehr, DRK und viele mehr.
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Literaturtipps Clement, Rolf/Jöris, Paul Elmar: 50 Jahre Bundeswehr 1955–2005. Hamburg, 2005 Der Spiegel 10/1962: Herr der Flut. Hamburg, 1962 Schuller, Alexander: Sturmflut über Hamburg. München, 2006
sung, keine Toten zu zeigen. Allerdings hielten sich nicht alle daran. Für die Männer der deutschen Armee war auch der Einsatz mit Risiko verbunden. Die Schlauchboote konnten an Hindernissen zerstört werden oder herabstürzende Gebäudeteile bargen Gefahr. Doch das persönliche Risiko war zweitrangig. Bei den Fliegern gab es überhaupt keine Personenschäden. Lediglich eine Maschine musste wegen eines Defekts am Boden bleiben. Bei der Sturmflut bewies die Bundeswehr erstmals, wozu sie fähig war, wofür ihr viele Menschen dankbar waren und noch bis heute sind.
Bundeswehr rettete viele Leben Am 26. Februar 1962 versammelten sich schließlich 150.000 Menschen auf dem Hamburger Rathausplatz zur zentralen Gedenkfeier. Die schaurige „Bilanz“ der Katastrophe von 1962 sah folgendermaßen aus: 339 Tote (davon 315 in Hamburg), etwa 25.000 tote Tiere, mehr als 20.000 Menschen mussten evakuiert werden, der Gesamtschaden wurde auf 820 Millionen DM geschätzt. Sicher wären bestimmt noch mehr Leben zu beklagen gewesen, wenn nicht die Bundeswehr zum Einsatz gekommen wäre. In der gesamten Bundesrepublik kann keine Institution so schnell so viele Ressourcen mobilisieren wie die deutsche Armee. Dies bewies sie auch im Jahr 1975 in Niedersachsen bei einem außer Kontrolle geratenen Heidebrand, 1979 bei einem heftigen Wintereinbruch in Norddeutschland und natürlich auch bei den „Jahrhunderthochwassern“ 1995 (Rhein, Mosel, Saar und Nahe) und 1997 an der Oder. Heutzutage ist es aber zulässig, die Bundeswehr bei solchen Katastrophen einzusetzen. Doch 1962 war dies noch anders. Alexander Losert M.A., Journalist und Politologe.
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Militärtheorie
HELFER: „Innere Führung“ bedeutet auch, Soldaten als Menschen wahrzunehmen. Hier findet im Februar 2014 am Zentrum Innere Führung ein Foto: picture-alliance/dpa Lehrgang statt, der die Soldaten befähigen soll, Kameraden nach Auslandseinsätzen beizustehen.
Das Prinzip der „Inneren Führung“
Raue Schale, weicher Kern? Die Armee ist ein Staat im Staat. Diese Aussage galt lange als selbstverständlich, doch die Gründerväter der Bundeswehr entdeckten ein Mittel, diese verhängnisvolle Tendenz Von Peter Andreas Popp zu brechen.
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ilitär und Demokratie in Deutschland bildeten im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Gegensatzpaar. Als die Bundeswehr entstand, beabsichtigten die Verantwortlichen, dieses Spannungsverhältnis von vornherein zu vermeiden. Der überwiegende Teil der Deutschen war Anfang der 1950er-Jahre noch nicht geprägt durch die politische Kultur der Demokratie. Zugleich war er aber auch aufgrund des Zweiten Weltkrieges „vom Militär geheilt“. Wenn sich nun die junge Demokratie der Bundesrepublik eine Armee zulegte, so schob sie diese Reserviertheit vor allem aus einem Grund zur Seite: Die Deutschen empfanden nämlich die Gefahr, die von der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten aus-
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ging, als sehr real – spätestens als das SEDRegime sein wahres Gesicht zeigte und den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 mit sowjetischen Panzern brutal niederwalzte. Dennoch machte sich Unbehagen breit, als das Wort „Wiederbewaffnung“ durch die Lande geisterte – und dies obendrein nur fünf Jahre, nachdem man die BRD aus der Taufe gehoben hatte. Konsequent arbeitete man daher daran, eine Armee zu schaffen, die für die Demokratie niemals zu einem Problem werden sollte – im Gegenteil. Dies geschah auch unter den Augen der Alliierten. Ihnen war zum einen sehr wohl daran gelegen, dass die neue Armee den Westen effizient verteidigte. Auf der anderen Seite sollte sie jedoch nicht zu einer neuen
„Wehrmacht“ mutieren, deren Dienstherr sie womöglich als Instrument einer neuen Hegemonialpolitik missbrauchen konnte. Um dies zu vermeiden, integrierte man die deutsche Armee von vornherein in die Kommandostrukturen der NATO. Die Bundeswehr besaß und besitzt keinen eigenen Generalstab, sie verfügt lediglich über Offiziere im Generalstabsdienst.
Hürde für Wiedervereinigung? Den Alliierten wäre es relativ gleichgültig gewesen, wenn die neuen (west-)deutschen Streitkräfte die Führungskultur ihrer jeweils eigenen Streitkräfte oder auch die der Reichswehr übernommen hätten. Gerade dies aber war von der deutschen Politik und
FÜR DEN „FÜHRER“: Die Rekruten der Wehrmacht mussten ihren Eid auf Hitler leisten. So wie diese Soldaten im Oktober 1940 in Frankstadt, Mähren. Foto: picture-alliance
FÜR DAS PARLAMENT: Gelöbnis von Bundeswehr-Soldaten im Bendlerblock. Ihr Eid gilt keiner Person, sondern einer InstiFoto: picture-alliance/dpa tution.
den geistigen Vätern der Bundeswehr nicht gewollt. Es ging um den Aufbau einer Armee in einem geteilten Land. Viele Deutsche empfanden auch deshalb Unbehagen an dem neuen bewaffneten Arm, weil sie fürchteten, dadurch die erhoffte Wiedervereinigung zu torpedieren. Die Bedrohung aus dem Osten signalisierte aber: Die Bundeswehr und ihre Angehörigen, die zuvor auf unterschiedlichste Weise verwoben waren in das menschenverachtende NS-Regime, sollten „militärhandwerklich effizient“ sein und zugleich eindeutig zur Demokratie stehen; und zwar ganz anders, als es in der Weimarer Republik der Fall gewesen war. Die Reichswehr, die erste gesamtdeutsche Armee, hatte einen „Staat im Staat“ gebildet. Sie hatte sich jeglicher parlamentarischer Kontrolle entzogen und sich von der freiheitlichen Demokratie distanziert. Dies lag sowohl am älteren Offizierskorps, das noch in der Zeit des Kaiserreichs geprägt worden war, als auch am jüngeren Offizierkorps, das teils das aufkommende völkische Gedankengut der Nazis adaptierte. So kam es, dass sich die Offiziere spätestens nach 1931 zu einer treulosen Funktionselite entwickelten. Ein rein militärhandwerkliches, zum Teil auch entideologisiertes Denken stellte für nicht wenige der neuen Soldaten eine entscheidende Brücke dar. Denn nur so konnten sie an das berufliche Selbstverständnis anknüpfen, welches sie, sofern Berufssoldaten,
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in Wehrmacht oder Reichswehr (oder gar den Vorgängerarmeen des Kaiserreiches!) gepflegt hatten. Die politische Dimension dieser Armeen blendeten sie dabei freilich aus, getreu dem Motto: „Einmal Soldat, immer Soldat; egal, in welchem politischen System.“ Es ist im Übrigen auch sehr bezeichnend, dass man die neuen Streitkräfte anfangs als „neue Wehrmacht“ bezeichnete, ehe der Name „Bundeswehr“ gefunden war.
Keine Landsknechtgesinnung Für junge Leute mit einem rein waffen- und technikorientierten Hang zum Militärischen war diese Grundlage jedenfalls ausreichend, um eine Karriere bei der Bundeswehr zu be-
ginnen – unter dem Vorzeichen, dass die Armee eine Welt für sich war und dies auch in Zukunft sein sollte. Politisch gewollt war dieser „eindimensionale Soldatentypus“ natürlich nicht. Zwar ging es darum, technologisch aufgeschlossenes und intellektuell wie auch sozial intelligentes Personal mit höchster Einsatzbereitschaft zu erhalten. Aber nicht solches mit einer Landknechtsgesinnung und dem Willen, sich politisch in ein selbst gewähltes Ghetto zu ziehen und sich gesellschaftlich abzukapseln. Die Schatten der NS-Vergangenheit und die anfängliche Tendenz, eben diese zu verdrängen, kamen erschwerend hinzu, als es darum ging, die Führungskultur der neuen Armee „unkompliziert“ zu verwurzeln. HOHER BESUCH: Auch die Politiker maßen der Inneren Führung eine große Bedeutung zu. Hier besucht Bundespräsident Karl Carstens (links) am 14. November 1979 die Bundeswehrschule für Innere Führung. Foto: picture-alliance/ dpa
Militärtheorie
STAAT IM STAAT: Die Reichswehr zeigte noch eine starke Tendenz, Foto: picture-alliance/Sueddeutsche Zeitung Photo sich zu verselbstständigen.
DRILL UND GEHORSAM: Die Wehrmacht schuf Soldaten, die vom ZiFoto: picture-alliance/Sueddeutsche Zeitung Photo villeben entkoppelt waren.
Diese Führungskultur sollte eindeutig dem Menschenbild der Demokratie entsprechen. Sie wurde bekannt unter dem Namen „Innere Führung“ – ein Begriff, der sich, kontrovers diskutiert in Militär und Gesellschaft, mittlerweile zum spezifischen Markenzeichen der Bundeswehr entwickelt hat. Angehörige fremder Streitkräfte interessieren sich – von der deutschen Öffentlichkeit kaum bemerkt und weithin auch von der Bundeswehr selbst allenfalls eher am Rande registriert – im positiven Sinne für dieses Prinzip. Es ist freilich nicht so einfach im Verhältnis 1:1 auf andere Armeen zu übertragen, so wie es sich selbst übrigens auch in der Bundeswehr entwickeln musste und auch in Zukunft entwickeln muss. Da die Demokratie die komplizierteste Staatsform überhaupt darstellt und die „Innere Führung“ so weit wie möglich die Demokratie in den Alltag der Streitkräfte einführen möchte, muss im Militär Pluralismus akzeptiert werden. Nicht
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ES SIND AUCH MENSCHEN: In einem Rollenspiel üben Soldaten die Foto: picture-alliance/dpa Betreuung von Kameraden.
als ein Mittel, das die Funktionsfähigkeit des Militärs blockiert, sondern diese im Gegenteil erst recht stützt. Das bedeutet einen schwierigen Auftrag für so manchen Soldaten – vor 60 Jahren ebenso wie heute!
Nicht nur Befehl und Gehorsam Gleich, ob die Bundeswehr eine Zeitfreiwilligenarmee oder eine Wehrpflichtarmee bildet(e): Der junge Mann oder mittlerweile auch die junge Frau, die „zu dem Laden“ kommt, möchte sich mit diesem identifizieren können und als Persönlichkeit wahrgenommen werden. Genau darauf zielt die Innere Führung. Sie betrachtet den Soldaten als mündigen Menschen und als Staatsbürger, ausgestattet mit ein und denselben Rechten, wie sie auch dem Nicht-Soldaten in unserer Gesellschaft zukommen. Das Soldatengesetz definiert sehr genau, welche Rechte nur aufgrund der Erfordernisse des verfassungsmäßigen Auftrags der Bundeswehr gemäß Arti-
kel 87a des Grundgesetzes nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden dürfen. Es geht also darum, dass Menschen auch im Militär fair miteinander umgehen. Damit wird militärische Hierarchie kein Selbstzweck. Sie ist immer Mittel zum Zweck, sie soll sicherstellen, dass der Soldat immer Subjekt und Persönlichkeit bleibt und nicht zu einem bloßen Objekt nach dem Schema „Befehl und Gehorsam“ wird. Einsatzbereitschaft des Soldaten heißt zweifellos handwerkliches Können, aber sie bedeutet auch, • dass der Soldat weiß, es geht um seine eigene Sache, • dass er sich nicht als Befehlsobjekt vorkommt, • dass er sich sicher sein kann, sich auf andere im selben freien Geiste des Demokraten geprägte Kameraden verlassen zu können wie auch auf Vorgesetzte mit Fürsorgesinn und Verantwortungsbereitschaft.
Die Innere Führung kann untergraben werden
INS GEGENTEIL VERKEHRT: Das NS-Regime missbrauchte das Instrument der Wehrpflicht. Foto: picture-alliance/Sueddeutsche Zeitung Photo
AUSLAUFMODELL: Diese Rekruten, die am 1. Juli 2010 in Munster ihren Wehrdienst antraten, gehören vorerst zu den letzten Wehrpflichtigen. Kritiker befürchten, dass eine reine Freiwilligenarmee das Konzept des Foto: picture-alliance/dpa Staatsbürgers in Uniform aushöhlen könnte.
„Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ Gelöbnisformel für wehrpflichtige Soldaten nach § 9 Soldatengesetz
Nicht „Machtgelüste eines Vorgesetzten“, sondern das Leitmotiv „Verantwortung und Mündigkeit“ stehen hinter dieser Führungsphilosophie, auf dass soldatische Pflicht und das demokratische Leitmotiv „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ einander nicht entgegenstehen. Da Beruf und Aufgabenfeld des Soldaten immer auch die Grenzsituationen menschlichen Lebens umfassen, kommt es ganz entscheidend darauf an, gewissensgeleiteten Gehorsam zu leisten. Darin liegt die ethische Dimension des soldatischen Lebens begründet. Für den Soldaten der Bundeswehr hat Ehre nicht als Vorstufe einer Binnenmoral zu gelten; im Gegenteil: Sie findet ihre höchste Ausformung in der Würde des Menschen, dem Leitwert der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Die Schwierigkeit besteht freilich darin, dass der Mensch, auch der in Uniform, nicht perfekt ist, Militär hingegen effizienzorientiert handelt und nach Perfektion strebt. „Innere Führung“ bildet letztlich kein abgeschlossenes Ergebnis, sondern eine aktiv zu lebende Größe. Sie ist gesetzlich und verordnungsmäßig gefasst, doch gibt sie keine Patentrezepte. Sie muss immer wieder ausgelotet werden gegen ernstzunehmende Wider-
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stände. Dazu gehört die Tendenz der Armee, sich zu bürokratisieren, oder die auch in unserer Zivilgesellschaft vorherrschende Neigung, Mitmenschen zu instrumentalisieren. Ferner ist es die Gleichgültigkeit wie auch egoistische Bequemlichkeit der Mitmenschen, die die Innere Führung untergraben kann. Nicht zuletzt – und jetzt wird es spezifisch militärisch – sind es die über Jahrhunderte liebgewonnenen militärischen Handlungsraster, die im Extremfall den Soldaten nicht zum Bewahrer von Frieden und Freiheit machen können, sondern zum Menschen als Bestie.
Demokratie und Militär Dieser Artikel ist namentlich geschrieben von einem Offizier der Bundeswehr, der sich aufgrund seiner Dienstzeit nicht mehr vorstellen kann, in einer gesamteuropäischen Armee zu dienen, der aber keiner deutschen Armee freiwillig hätte beitreten können, für welche die „Innere Führung“ ein Fremdwort gewesen wäre. Zu hoffen und daran zu arbeiten ist, dass die „Innere Führung“ als Qualitätsmerkmal der Bundeswehr erhalten bleibt, auf dass weltaufgeschlossene junge und jung bleibende Menschen den Zugang, vielleicht sogar den beruflichen Weg zu den Streitkräf-
ten finden. Sofern es sich um Soldaten handelt: Deren Wille zum Einsatz auch unter Entbehrung und deren militärhandwerkliches Können sollten immer so beschaffen sein, dass sie sich der Abgründe menschlichen und damit auch soldatischen Tuns durchwegs bewusst bleiben. Dies ist wichtiger denn je unter den sicherheitspolitischen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts. Im Übrigen werden so auch die Traditionssäulen der Bundeswehr tatsächlich gelebt. Dazu gehören die preußischen Reformer von 1807/14, der „Aufstand des Gewissens“ gegen Hitler und das NS-Regime, gipfelnd im Attentat vom 20. Juli 1944, und die Geschichte der Bundeswehr selbst als Teil einer freiheitlichen Ordnung, deren demokratische Substanz über Jahrhunderte hinweg gewachsen ist. Demokratie und Militär bilden dank der Inneren Führung keinen Widerspruch – sofern die hier lebenden Menschen innerhalb und außerhalb der Kasernenmauern daran auch wirklich denken … n Dr. Andreas Popp, Oberstleutnant und Lehrstabsoffizier für Militärgeschichte an der Offiziersschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck.
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Chronik
Die Jahre von 1965 –1975
Liberale Armee? In den späten 1960erJahren wandelte sich nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Bundeswehr. Offener und liberaler sollte sie werden, doch litt sie zugleich unter Krisen wie der StarfighterVon Stefan Krüger Affäre.
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„AUFGETAKELTER“ BOTSCHAFTER: Nach der Kuba-Krise von 1962 leiteten die Supermächte eine Politik der Entspannung ein. Die GORCH FOCK besuchte im Rahmen dessen 1974 den Ostblock-Hafen Danzig. 1958 in Dienst gestellt, dient sie bis heute als Segelschulschiff. Die Aufnahme stammt von Foto: picture-alliance/dpa 2014.
Clausewitz Spezial
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Chronik 1965–1975
Die Bundeswehr liberalisiert sich 7. JANUAR 1965: Das Wachbataillon in Bonn erhält stellvertretend für die gesamte Bundeswehr aus den Händen von Bundespräsident Heinrich Lübke die erste Truppenfahne: „Als äußeres Zeichen gemeinsamer Pflichterfüllung im Dienst für Volk und Staat stifte ich für Bataillone und entsprechende Verbände Truppenfahnen in den Farben Schwarz-Rot-Gold mit Bundesadler“, so der Bundespräsident in der Eingangsformel der „Anordnung über die Stiftung von Truppenfahnen für die Bundeswehr“. Ursprünglich wollte die Bundeswehr bewusst auf Truppenfahnen verzichten, um sich so von der Wehrmacht abzugrenzen. Doch erwies sich dies in zeremonieller Hinsicht als außerordentlich unpraktisch, zumal sich manche Einheiten genötigt sahen, ältere Truppenfahnen aus der Zeit vor 1918 zu verwenden. FEIERLICH: Bundespräsident Lübke (in Zivil) überreicht dem Wachbataillon die erste neue Truppenfahne. Foto: picture-alliance/dpa
1964
1965
INFO Umfang der Bundeswehr 1956–2011 1. JULI 1965: Der Traditionserlass der Bundeswehr tritt in Kraft. Er bestimmt, dass sich die Streitkräfte der Bundesrepublik in der Tradition der preußischen Reformer und der Widerstandskämpfer aus der Zeit des Nationalsozialismus sehen.
9. SEPTEMBER 1965: Der erste Panzer vom Typ Leopard 1 wird an die Panzertruppe übergeben. Auf diese Weise kann die Bundeswehr ihre Abhängigkeit vom amerikanischen Material Schritt für Schritt reduzieren.
1. AUGUST 1966: Der Gewerkschaftserlass der Bundeswehr tritt in Kraft. Den deutschen Soldaten ist es nun gestattet, Gewerkschaften beizutreten, was jedoch auch den Konflikt um das Konzept der Inneren Führung verschärft. So nahm etwa der Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner, seinen Abschied. Zahlreiche Offiziere betrachten es mit Sorge, dass sich die Bundeswehr weiter liberalisiert. Sie fürchten, dass der hierarchische Aufbau und das Prinzip von Befehl und Gehorsam untergraben werden könnten, worunter die Schlagkraft der Streitkräfte erheblich leiden würde. KEIN PARDON: Trotz Liberalisierung bleibt der Medienspott ein treuer Begleiter der Bundeswehr. Foto: picture-alliance/akg-images
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Glanzlose „Sternenkrieger“ EIN LETZTER GRUSS: Zu Ehren des am 19. April 1967 verstorbenen Adenauers bereitet die Bundeswehr hier Salutschüsse vor. Foto: picture-alliance/dpa
NEUES GERÄT: Der Inspekteur der Luftwaffe Johannes Steinhoff am 15. Februar 1968 bei der Indienststellung des neuen Hubschraubers Bell UH 1 D. Foto: picture-alliance/Georg Göbel
VORFAHR: Der Kampfpanzer 70 war ein nicht realisiertes Gemeinschaftsprojekt der USA und BRD. Darauf aufbauend entstand später allerdings der Leopard 2. Foto: picture-alliance/dpa
1966
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25. AUGUST 1966: Die Starfighter-Affäre erreicht einen Höhepunkt, als Verteidigungsminister KaiUwe von Hassel den Inspekteur der Luftwaffe Generalleutnant Werner Panitzki auf dessen eigenen Wunsch hin entlässt. Der General protestiert damit gegen die Anschaffung des unausgereiften Jagdflugzeugs, hinter der er eine allein politische Motivation vermutet. Auch das ehemalige Fliegerass und der Kommodore des Jagdgeschwaders 71, Erich Hartmann, verlässt die Bundeswehr. Allein im Jahr zuvor sind 17 Piloten bei Abstürzen ums Leben gekommen, woraufhin die Führung den Starfighter-Betrieb vorläufig einstellte. Kritiker werfen dem ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß vor, dass er sich habe von Lockheed bestechen lassen, wofür es allerdings keinen Beweis gab. Erst nach dem Rücktritt Hassels ging die Anzahl der Unfälle aufgrund verschiedener Maßnahmen spürbar zurück. ZUVERSICHTLICH: Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gratuliert am 22. Juli 1960 dem Lockheed-Piloten Robert Folkner nach einem Testflug mit dem Ausbildungstyp des Starfighters. Zahlreiche Piloten sollten später auf der F-104 ums LeFoto: picture-alliance/Kurt Rohwedder ben kommen. Clausewitz Spezial
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Chronik 1965–1975
Der Kalte Krieg soll nicht heiß werden BEWÄHRT: Die in den USA gebaute LÜTJENS stand insgesamt 35 Jahre im Dienst der Bundesmarine. AufnahFoto: picture-alliance/dpa me von 2003.
26. JUNI 1967: Das Unterseeboot U 1 wird beim 1. U-Boot-Geschwader in Kiel in Dienst gestellt. Die Boote der Klasse 205 sind die ersten deutschen Eigenproduktionen seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Eigentlich gehörte U 1 zu den Booten der Klasse 201, doch stellte sich heraus, dass der Stahl ungeeignet war, sodass man die Boote zur Klasse 205 umbaute. Dies führte auch dazu, dass U 1 und U 2 erst zum zweiten Baulos gehörten. Als erstes U-Boot hatte U 4 bereits am 19. November 1962 seinen Dienst aufgenommen.
11. AUGUST 1967: Der Lenkwaffenzerstörer LÜTJENS läuft vom Stapel. Seinen Dienst nahm er am 22. März 1969 beim 1. Zerstörergeschwader in Kiel auf. Das Schwesterschiff MÖLDERS folgte am 20. September desselben Jahres, die ROMMEL am 2. Mai 1970.
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14. DEZEMBER 1967: Die NATO nutzt den sogenannten „Harmel-Bericht“ zur Grundlage ihrer künftigen Politik. Zwar hält man weiterhin am Prinzip der militärischen Abschreckung fest, zugleich aber möchte man die Beziehungen zum Ostblock deutlich verbessern. Dies geht einher mit der neuen Strategie der „Flexible Response“, die das bisherige Konzept der massiven Vergeltung erweitert. Die NATO-Streitkräfte sollen dadurch in die Lage versetzt werden, auch mit eingeschränkten Mitteln auf mögliche Bedrohungen oder Angriffe des Warschauer Paktes zu reagieren.
29. JANUAR 1969: In Deutschland findet das erste REFORGER-Manöver statt. Ziel dieser Übungen ist es, dem Warschauer Pakt zu demonstrieren, dass die westlichen Verbündeten in der Lage sind, größere Kontingente in kurzer Zeit über den Atlantik zum potenziellen Kriegsschauplatz in Europa zu transportieren (siehe Bericht auf Seite 30). Am ersten Manöver dieser Art nehmen 17.000 Soldaten teil.
ENTSPANNUNG: Leonid Breschnew bei seinem Staatsbesuch in der BRD 1973. Rechts im Bild Willy Foto: picture-alliance/akg-images Brandt.
EINSATZBEREIT: 1969 begannen die jährlichen REFORGER-Manöver. Foto: picture-alliance/Klaus Rose
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Die REFORGER-Manöver beginnen
13. OKTOBER 1970: An REFORGER II nehmen nun bereits 30.500 NATOAngehörige teil.
3. FEBRUAR 1971: Zum ersten Mal seit Bestehen der Bundeswehr sinkt die Dauer des Wehrdienstes. Anstelle von 18 Monaten müssen die Wehrpflichtigen fortan nur noch 15 Monate dienen. In diesen Zeitraum fällt auch der sogenannte HaarnetzErlass (siehe Bericht auf Seite 42).
7. MAI 1971: Der Schützenpanzer Marder nimmt seinen Dienst bei den Panzergrenadieren auf. Der Marder soll den HS 30 ersetzen und den ebenfalls neuen Leopard-1-Panzer ergänzen.
29. SEPTEMBER 1971: U 13 absolviert seinen Stapellauf. Das in Kiel gebaute Boot der Klasse 206 stellt eine leichte Verbesserung gegenüber dem Vorgängertyp 205 dar. So verfügt es unter anderem über eine modernere Feuerleitanlage. Die Boote der Klasse 206 standen noch bis zum Jahr 2011 im Dienst der Bundesmarine. Abgelöst wurden sie durch den Typ 212 A, die seit 2003 produziert werden.
LÄCHELN FÜRS VATERLAND: Diese Damen präsentieren im Juni 1975 in Bonn die neue Uniform-Kollektion für weibliche Sanitätsoffiziere der Bundeswehr. Foto: picture-alliance/Egon Steiner
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1. SEPTEMBER 1973: Die Bundeswehr-Hochschulen in Hamburg und München werden eröffnet. Aufgabe der Universitäten ist es, den Offiziernachwuchs jenseits der militärischen Ausbildung auch wissenschaftlich weiterzubilden. Die Bundeswehr setzt damit das Konzept der Inneren Führung und das Ziel der weiteren Liberalisierung konsequent fort.
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APOKALYPTISCH: Trotz Hightech konnten sich die USA in Vietnam nicht durchsetzen. Foto: picture-alliance/AP
7. MÄRZ 1974: Die ersten beiden F-4F Phantom, die für das Jagdgeschwader 71 bestimmt sind, landen auf dem Fliegerhorst in Wittmund. Das JG 71 ist der erste Luftwaffenverband, der mit diesem erfolgreichen Kampfflugzeug ausgerüstet wird. Die Bundesrepublik hatte bereits 1971 insgesamt 175 Maschinen dieses Typs in den USA bestellt. Die Phantom II dient als Abfangjäger und Jagdbomber.
29. MÄRZ 1974: Das Segelschulschiff GORCH FOCK läuft in Danzig ein. Es ist das erste Mal, dass die Bundeswehr zu Gast in einem Land des Warschauer Paktes ist.
10. OKTOBER 1974: Zum ersten Mal seit Beginn der REFORGER -Manöver sinkt der Umfang, als „lediglich“ 44.000 Soldaten teilnehmen.
1. MAI 1975: Mit der Eroberung von Saigon durch nordvietnamesische Truppen endet der Vietnamkrieg. Der auch in den Vereinigten Staaten äußerst unpopuläre Konflikt hat dem Ansehen der USA nicht zuletzt in Deutschland massiven Schaden zugefügt, was auch die Akzeptanz der NATO und der Bundeswehr in der Gesellschaft untergrub.
Clausewitz Spezial
STARK: Eine Phantom in der Lackierung Norm 72, die diese Flugzeuge nach ihrer Einführung Foto: Andreas Zeitler bei der Bundeswehr trugen.
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Erzählung
Grundausbildung in den 1960er-Jahren
Dass es bei der Bundeswehr nicht leicht werden würde, war Jürgen Krüger von Anfang an klar. Was er aber am Ende erlebte, übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Von Jürgen Krüger
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eine Hände gruben sich in die gefrorene Erde und wieder zog ich mich ein erbärmliches kleines Stückchen weiter, denn gehen konnte ich nicht mehr. Schlimmer als die Kälte und die Schmerzen waren allerdings die Hustenanfälle, bei denen ich permanent Blut spuckte. Das rettende Lager war keine 100 Meter mehr entfernt, doch schien es gar unerreichbar zu sein. Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst zu sterben. So hatte ich mir meine 18-monatige Wehrdienstzeit natürlich nicht vorgestellt, das am 1. Januar 1969 begann. Verweigern war für mich indes nie eine Option gewesen, ich hielt
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es ganz einfach für meine Pflicht, Dienst in der Armee zu leisten. Zugegeben, ein wenig Neugier war auch dabei. Denn die Bundeswehr hatte erst vor Kurzem den neuen Leopard-Panzer eingeführt, über den man sich die wundersamsten Dinge erzählte. Der Russe hatte angeblich nichts Vergleichbares im Arsenal, gar der beste Panzer der Welt sollte er sein! Dieses Ding musste ich unbedingt sehen.
Ein denkbar schlechter Ruf Nun stand ich mit dieser Haltung damals, Ende der 1960er-Jahre, relativ alleine da. Hamburger Sturmflut hin oder her: Die Bun-
deswehr hatte zu dieser Zeit einen extrem schlechten Ruf und ihre Angehörigen galten wahlweise als dumm, unfähig oder beides zusammen. Süffisant stellten viele Zeitgenossen fest, dass die Bundeswehr lediglich den Auftrag habe, den Feind so lange aufzuhalten, bis „richtige“ Soldaten eintrafen. Diesen scharfen Gegenwind bekam ich gleich am ersten Tag zu spüren, als ich mich mit meinen neuen Kameraden in einen Sonderzug setzte, der uns zu unserer Kaserne bringen sollte. Linke Demonstranten hatten nämlich die Gleise blockiert und verzögerten so die Abfahrt um satte drei Stunden. War diesen Leuten eigentlich nicht klar, dass sie ihre Freiheit auch der Bundeswehr zu verdanken hatten? Und glaubten diese Narren ernsthaft, dass sie in einem Land wie der DDR ebenfalls gegen staatliche Institutionen demonstrieren dürften? Als ich später zum ersten Mal wieder nach Hause fuhr, saßen mir im Bus zwei junge Kerle gegenüber, die sofort anfingen mich zu beschimpfen, als sie
Fotos Jürgen Krüger
Die „Hölle“ von Sontra
offenbar sehr eilig mit uns. Doch bevor die Ausbildung begann, begrüßte uns der Bataillonskommandeur, ein Oberstleutnant, der noch in der Wehrmacht gedient hatte. Der Kommandeur hielt eine flammende Rede, in der er uns aufforderte, den „inneren Schweinehund zu überwinden“. Außerdem schärfte er uns ein, stets kampfbereit zu sein, denn der Feind würde öfters die Grenze verletzen. Diese Worte hatten mich sehr beeindruckt und ich hatte das Gefühl, dass jeden Moment der Dritte Weltkrieg ausbrechen konnte. Dass die Rede durchaus ernst gemeint war, bekamen wir sehr schnell zu spüren. Permanent hetzten, scheuchten und jagten sie uns durchs Gelände, um auch noch die letzte zivile Falte glatt zu bügeln. Als ich in die Bundeswehr eintrat, wog ich 90 Kilogramm bei einer Größe von 1,86 Metern. Davon waren nach sechs Wochen, als wir das erste Mal nach Hause fahren durften, nur noch 72 Kilogramm übrig – meine arme Frau war den Tränen nahe, als sie mich so sah.
„Elitesoldaten“?
WAFFENKLIRRENDES SPEKTAKEL: Die harte Grundausbildung in Sontra stand ganz im Zeichen des Kalten Krieges. Auch für das Gelöbnis fuhr man schweres Gerät auf.
mich in meiner Uniform erblickten. Diplomatisch und besonnen, wie ich bin, entgegnete ich ihnen: ,,Ihr seid jetzt still, sonst gibt’s was aufs Maul!“ Schon waren sie ruhig, diese Maulhelden. Ziel unserer Reise war das hessische Sontra, das nur wenige Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt lag. Dort war das Panzeraufklärungsbataillon 5 stationiert, zu dessen 8. Kompanie, der Ausbildungseinheit, wir nun gehörten. In der Kaserne angekommen,hieß uns ein besonders prächtiges Exemplar der Gattung Hilfsausbilder im Range eines Gefreiten/UA (Unteroffiziersanwärter) willkommen. Es war ein abgebrochener Gartenzwerg, der offenbar nicht wusste, dass es zwischen Brüllen und Schreien auch noch andere Tonarten gab, um mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren. Kurz: Er erfüllte jedes böse Klischee, das es über Bundeswehr-Ausbilder gab und gibt. Haare schneiden und einkleiden geschah wie am Fließband, die Bundeswehr hatte es
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Wir hatten schlicht das Pech, dass unser Zugführer, ein Leutnant, den brennenden Ehrgeiz hatte, Berufssoldat zu werden. Und um sich bei seinen Vorgesetzten zu empfehlen, wollte er aus uns eine Art Eliteeinheit machen. Und wie es sich für richtige „Elitesoldaten“ gehört, scheuchte uns der gute Herr Leutnant eines Tages auch zu einem Nachtmarsch ins Gelände. Da ich in jungen Jahren recht sportlich war, machte mir die körperliche Belastung an sich nicht allzu viel aus. An diesem Abend aber beging ich den dummen Fehler, anstelle der Halbschuhe die Knobelbecher zu tragen, weil der Schnee so hoch lag. So kam es, dass ich mir bereits nach wenigen Kilometern die Fersen wundgelaufen hatte und vor Schmerzen den Anschluss an die Gruppe verlor. Einer dieser blitzgescheiten Unteroffiziersanwärter stapfte wütend auf mich zu. „Aufschließen!“, bellte er. Ich erklärte ihm mein Problem, doch er ließ sich nicht beirren und befahl: „Laufschritt!“ Offenbar dürfen Unteroffiziersanwärter nur ein Wort pro Satz sagen. „Aufschließen! Im Laufschritt, das ist ein Befehl!“, wiederholte er. In diesem Moment verrührte ich Zorn und Schmerz zu einer sehr unheilvollen Mischung, hob das Gewehr mit dem Kolben voran an und sprach: „Wenn du jetzt nicht sofort verschwindest, hau ich dir das Gewehr über den Kopf!“ Da schaute er mich ganz verdattert an und flitzte plötzlich wieselflink zum Leutnant davon – olle Petze! Der Zugführer bestrafte mich nicht, ließ aber den gesamten Zug viel länger marschieren, als eigentlich geplant war, was meine geschundenen Fersen natürlich erst mal völlig
VORBILD: Dieser Hilfsausbilder war einer der wenigen, die ohne Brüllen auskamen.
ruinierte. Der Arzt, der im Übrigen ein Zivilist war, schrieb mich daher am nächsten Tag innendienstkrank. Damit war ich eigentlich von so unschönen Dingen wie Geländedienst befreit, doch unseren Leutnant interessierte das überhaupt nicht. Stattdessen jagte er uns Innendienstkranke ebenfalls nach draußen, wo gerade gute 30 Zentimeter Schnee lagen. Mich ärgerte vor allem eines: Wenn man krankgeschrieben ist, ist man zwar von bestimmten Aufgaben befreit, darf aber dafür am Wochenende nicht nach Hause fahren – die Bundeswehr ist eben sehr um das Wohl ihrer Rekruten besorgt. Also marschierte ich nach der Übung schnurstracks zum Arzt und fragte ihn, ob ich nicht doch am Wochenende nach Hause fahren dürfte. Erstaunt schüttelte er den Kopf und verwies auf die eben genannte Vorschrift. Als ich ihm dann entgegenhielt, dass der Leutnant mich entgegen dieser Vorschriften ins Gelände geschickt hatte, fiel der Arzt aus allen Wolken. Wütend griff er zum Telefonhörer und rief den Bataillonskommandeur persönlich an. „Wenn meine Anordnungen nicht befolgt werden, kann die Bundeswehr ihren Scheiß alleine machen!“, brüllte er. Mich aber schaut er an und sagte: „Passen Sie auf: Ich schreibe Sie am Wochenende gesund, sodass sie nach Hause fahren dürfen, und und am Montag schreibe ich Sie wieder krank.“ So ließ ich mir das gefallen.
Gute Kameradschaft Das Ganze schlug übrigens hohe Wellen. Ich musste später sogar beim Hauptmann antanzen und ihm meine Version der Geschichte erzählen. Er war allerdings ein feiner Kerl und ließ mich dann ohne Weiteres gehen. Der Leutnant aber soll angeblich mächtig eins aufs Dach bekommen haben – und das sollte ich später böse zu spüren bekommen. Zu meinen Kameraden in der Gruppe hingegen hatte ich ein sehr gutes Verhältnis.
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Erzählung
NACH DER GRUNDAUSBILDUNG: Hier hat Jürgen Krüger (stehend) seinen Transporter vom Typ Faun im Gelände festgefahren. Trotz dieses Malheurs erschien Krüger diese Zeit im Vergleich zu Sontra „paradiesisch“.
Zu neunt lagen wir auf einer Stube und alles war dabei: ein Krimineller, den noch die Feldjäger abliefern mussten, ein Abiturient, was in jener Zeit noch Seltenheitswert hatte, und ein Schwuler. Für Letzteren war es damals nicht ganz einfach, doch wir anderen kannten da keine Vorbehalte. Solange jemand ein guter und anständiger Kamerad war, waren uns die jeweiligen Vorlieben egal. Nur einmal konnte er sich nicht verkneifen, einem anderen ans Gemächt zu greifen, worauf diese außer sich geriet und sich den Kameraden vorknöpfte. Ansonsten
Aus der „Bierzeitung“ der 8. Kompanie 3. Muffige Gesichter, finstere Mienen, Skatkarten und Strickstrümpfe sind in der Garderobe abzugeben. 4. Störungen bei Vorträgen haben zu unterbleiben, ebenso das Werfen mit Heringsköpfen und faulen Eiern. 6. Etwa unter dem Tisch liegende Unteroffiziere und höhere Vorgesetzte der Bundeswehr sind nicht als Fußabstreifer zu benutzen. Dazu sind genügend Mannschaftsdienstgrade vorhanden. 7. Der heutige Abend ist erst dann als beendet zu betrachten, wenn der letzte Mann durch das Sanitäterpersonal fortgetragen worden ist.
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aber haben wir uns alle wirklich prächtig verstanden.
Sinnlose Schikane Für das Verhältnis zwischen mir und dem Herrn Leutnant galt das freilich nicht. So ließ er mich jeden Samstag, während die anderen schon Richtung Heimat fahren durften, zum Nachappell antreten. Er spekulierte darauf, dass ich dadurch meinen Zug verpassen würde, damit es für mich keinen Sinn mehr hätte, nach Hause zu fahren. Glücklicherweise reiste ich längst mit dem Auto an, sodass mir diese Schikane relativ gleichgültig war. Es sollte aber noch dicker kommen. Doch der Leutnant und seine seltsamen Hilfsausbilder waren nicht die einzigen schrägen Vögel, die damals bei der Bundeswehr rumflatterten. Der mit Abstand verrückteste Kerl, den ich dann nach der Grundausbildung kennengelernt habe, war der Soldat Lattich (der Name ist frei erfunden). Das Erste, was einem bei Lattich auffiel, waren diese monströsen Brillengläser, hinter denen zwei winzige Äuglein irrsinnig funkelten. Wenn jemand den unverzeihlichen Fehler beging und ihn ansprach, dann hob Lattich erst mal das Kinn an und entblößte dann seine Schneidezähne, zwischen denen sich eine imposante Lücke befand. Wie eine Schildkröte, die vorsichtig aus ihrem Panzer he-
rauslugt, ruckte er dann den Kopf ein wenig nach vorne, bewegte ihn von links nach rechts und quetschte dann ein paar Worte heraus, mit denen seine Vorgesetzten nur in den seltensten Fällen etwas anfangen konnten. Der Kerl war einfach zum Schreien. Doch so unzurechnungsfähig Lattich auch wirkte, hatte er ein sehr ehrgeiziges Ziel: Er wollte sich vor jeder nur erdenklichen Aufgabe drücken. So erhielt er einmal den Auftrag, den Jeep eines Hauptmanns zu betanken, und dies tat er auch – allerdings mit Diesel. Nie wieder kam fortan jemand auf die Idee, ihn an der Tankstelle einzusetzen. Ein Fuchs, dieser Lattich. Doch die Bundeswehr wäre nicht die Bundeswehr, wenn sie nicht versuchen würde, auch das schwärzeste Schaf irgendwie weiß zu machen. Also teilte man Lattich zum Wachdienst ein. Ich hielt es ja von Anfang an für gewagt, jemandem wie Lattich eine geladene Waffe in die Hand zu drücken, doch unglücklicherweise hatte ich damals nichts zu sagen. Und so schlurfte Lattich durch die Kaserne und zog dabei sein Gewehr lustlos hinter sich her, sodass der Kolben über den Boden schleifte. Einmal aber riss er die Waffe urplötzlich hoch, legte an … und „Peng“ machte es. Waidmannsheil: Er hatte einen Hasen erlegt. Der Wachhabende schlug die Hände über den Kopf zusammen und stell-
Blut gespuckt te Lattich zur Rede. Dieser aber erklärte mit dem allerdümmsten Gesicht, dass sich dort eben etwas bewegt habe – was ja nicht falsch war. Es ist bis heute allerdings unklar, ob es sich bei dem Hasen tatsächlich um einen sowjetischen Spion gehandelt hatte. Nie wieder musste er Wache schieben.
Ein schwerer Fehler Ich selbst darf für mich in Anspruch nehmen, dass ich etwas pflichtbewusster als Lattich war. An einem besonders unschönen Montag stand mal wieder ein Geländetag an. Dummerweise musste ich mir zuvor irgendetwas eingefangen haben, denn ich hatte mich schon das ganze Wochenende sehr unwohl gefühlt: Eine Krankheit marschierte mit großen Schritten heran. Doch wie das junge Menschen manchmal so machen, nahm ich die Signale meines Körpers nicht allzu ernst und meldete mich dienstfähig – ein schlimmer Fehler. Und so schlurfte ich meinen Kameraden bei schlimmstem, nasskaltem Winterwetter hinterher. Die Rekruten aus den Nachbarzügen durften es sich übrigens auf Transportern bequem machen, die sie zum Übungsgelände brachten. Unser Leutnant hingegen verfolgte weiterhin verbissen sein Ziel, aus uns „Elitesoldaten“ zu machen. Als wir endlich angekommen waren, hieß es „Schanzen“. Doch während ich versuchte, mich durch die gefrorene Erde zu schaufeln, merkte ich, wie meine Kräfte immer mehr nachließen und wie es mir immer schwerer fiel, Atem zu schöpfen. Es ging einfach nicht mehr. Auf wackeligen Beinen schleppte ich mich zum Leutnant und meldete mich krank. Selbstverständlich wimmelte er mich ab.
PANNE: Hier erwischte es den Faun auf der A7. Materialmängel wie diese waren ein ständiger Begleiter von Krügers Wehrdienstzeit.
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„Es gibt einen Ort, wo die Sonne nie lacht, wo man Menschen zu Idioten macht, wo man vier Kilometer bis zur nächsten Kneipe läuft und das Bier noch aus der Tränke säuft, wo man verlernt Sitte, Moral und Tugend, das ist Sontra, das Grab meiner Jugend.“ Aus der „Bierzeitung“ der 8. Kompanie
Schlimmer noch: Er schickte mich mit einer Meldung zum Kompanie-Gefechtsstand, und dieser Fußmarsch gab mir den Rest. Auf dem Rückweg klappte ich auf einem Hügel zusammen – kaum 100 Meter von unserem Lager entfernt. Ein Hustenanfall schüttelte mich durch und entsetzt riss ich die Augen auf, als ich sah, dass sich der Schnee rot gefärbt hatte: Ich hatte Blut gespuckt! Ganz in meiner Nähe sah ich Soldaten an mir vorbeigehen und versuchte sie zu rufen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Kraftlos zog ich mich dann Schritt für Schritt weiter, bis mich schließlich irgendjemand auflas. Meine Kameraden liefen sogleich zum Leutnant: „Schütze Krüger spuckt Blut!“ Doch der Offizier winkte nur ab: „Der soll sich nicht so anstellen.“ Meine guten Kameraden ließen aber nicht locker und bestürmten ihn, endlich etwas zu unternehmen. Da schließlich gab er nach. Ein Jeep brachte mich gegen Abend nach hinten in eine Hütte, die offenbar sehr gut geheizt war, denn die anderen Soldaten dort liefen kurzärmelig herum. Ich aber zitterte am ganzen Leib und man hätte mir gar nicht
SELBSTBEWUSST: Die Grundausbildung in Sontra prägte Jürgen Krüger sehr stark, gerade im Hinblick auf Zwischenmenschliches.
genug Decken geben können. Weitere qualvolle Stunden vergingen, bis man mich endlich in die Kaserne und dort ins Krankenrevier gebracht hatte. Dort behandelte mich dann ein Zivilarzt aus Sontra. Ich kannte den Mann nicht und er griff zu einer sehr mittelalterlichen Methode: Er ließ mich zur Ader. Erstaunlicherweise war das aber offenbar genau der richtige Ansatz, denn mir ging es sogleich besser. Zumindest konnte ich nun freier und unbeschwerter atmen.
„Folterknecht“ in Aktion Den Rest der Grundausbildung verbrachte ich im Krankenhaus. Der Arzt dort erklärte mir, dass ich mir eine Lungenentzündung zugezogen hatte und dass mein Atmungsorgan dadurch verklebt sei. Mit leichten Schlägen auf den Rücken wollten sie es wieder lösen. Eine Krankenschwester würde dies übernehmen. Wenn das Krankenhaus damals in seiner Stellenbeschreibung geschrieben hätte, dass es einen „Folterknecht mit mehrjähriger Berufserfahrung“ suche, dann hätten sie niemand Besseren finden können als diese Schwester, die nun für mich zuständig war. Statt leichte Schläge auszuführen, drosch sie auf meinen Rücken ein, als wäre ich ein Stück Holz. Erst nachdem ich mich beim Arzt beschwert hatte, bekam ich eine andere, die eindeutig sanfter zu Werke ging. Manchmal muss man eben nur seinen Mund aufmachen. Nach dieser mörderischen Grundausbildung kam ich zu meinem Stammtruppenteil, nämlich die 6. Batterie Flak-Bataillon 5 in Lorch am Rhein. Der Spieß dort begrüßte uns vielsagend mit den Worten: „Männer, ich weiß, ihr kommt aus der Hölle.“ Lorch war im Vergleich zu Sontra ein Paradies mit Ausgang bis zum Wecken. Und wenn es einen Grund gibt, warum ich manchmal auch gerne an die Bundeswehrzeit zurückdenke, dann ist es Lorch. ■ Jürgen Krüger, Jahrgang 1948, arbeitete nach seiner Bundeswehrzeit als Kfz-Meister und genießt heute seinen Ruhestand im beschaulichen Rüdesheim.
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Manöver
Wie die Bundeswehr den Ernstfall probte
Zwischen Atomkeule und Sturmgewehr Während des Kalten Krieges beteiligte sich die Bundeswehr an den großen NATOManövern. Ziel war es, eine Strategie zu finden, den Feind auch ohne Atomwaffen Von Lukas Grawe abzuwehren, denn dies hätte Deutschland völlig ausgelöscht. 30
FÜR DEN ERNSTFALL: Während des Kalten Krieges suchte die NATO nach Wegen, eine Aggression des Warschauer Paktes auch mit konventionellen Mitteln zu beantworten. Dies mussten die Verbündeten allerdings erst üben. Hier sind Leopard-1-Panzer im Januar 1973 bei einem Großmanöver zu sehen. Foto: picture-alliance/Karl Schnörrer
DURCH DEN MATSCH: Ein Kradfahrer während des ersten Herbstmanövers der Bundeswehr im Jahr 1957. Foto: picture-alliance/dpa
A
ls Mitglied der „North Atlantic Treaty Organization“ (NATO) stellte die Bundeswehr einen Teil jener Streitkräfte, die im Falle eines Angriffs der WarschauerPakt-Staaten Westeuropa verteidigen sollten. Kam es zwischen den beiden Bündnisblöcken zu einem bewaffneten Konflikt, galt das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland als Kampfschauplatz und die deutsche Bevölkerung als erstes Opfer des Krieges. Der Ostblock verfügte dabei gegenüber den NATOMächten über eine große Überlegenheit an konventionellen Streitkräften. Aus diesem Grund spielte in der NATO-Verteidigungsstrategie der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre der Einsatz atomarer Waffen eine entscheidende Rolle. Unter dem Schlagwort „massive retaliation“ („massive Vergeltung“) verbarg sich die Absicht, konventio-
sollte sich die NATO flexibel verhalten und dem Feind, falls nötig, auch ausweichen. Harten und ausdauernden Widerstand wollte man erst an der Rhein-Ijssel-Linie leisten.
Die Bundeswehr blamiert sich
nelle Angriffe der Sowjetunion und ihrer Verbündeten mit atomaren Schlägen zu beantworten – auch auf deutschem Boden. In ihren Planspielen und Stabsrahmenübungen der 1960er-Jahre verfolgten die Verantwortlichen zunächst das Ziel, die Bundesrepublik bereits an der Weser-Lech-Linie zu verteidigen, um den Großteil Deutschlands zu halten. Doch angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der sowjetischen Truppen
Das erste Manöver, das einen sowjetischen Angriff auf Mitteleuropa simulierte, war „FALLEX 62“. ,,FALLEX“ steht für „Fall Exercise“, was schlicht „Herbstübung“ bedeutet. „62“ steht für das Jahr 1962. Das Planspiel, bei dem man auf tatsächliche Truppenbewegungen verzichtete, fiel für die Bundeswehr nicht gerade schmeichelhaft aus. Zeigte es doch, dass die westdeutschen Streitkräfte nicht in der Lage waren, feindliche Kräfte abzuwehren. Das Urteil der Bündnispartner war daher auch geradezu vernichtend: Sämtliche Waffengattungen seien nur
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Manöver
GEWALTIGER AUFWAND: US-Soldaten landen 1974 in Frankfurt, um an REFORGER 74 teilzunehmen. Ziel war es, in kürzester Zeit Foto: picture-alliance/Vera Pöller Truppen nach Europa zu schicken.
AUF DIE PISTE: Nach der Landung in Deutschland ging die Reise für die US-Truppen erst richtig los, wie dieser Konvoi der 1. US-Division Foto: picture-alliance/US Army während REFORGER 74 zeigt.
eingeschränkt einsatzbereit, hieß es. Dieses magere Ergebnis gelangte auch in die Hände von Journalisten, und das Magazin „Der Spiegel“ löste mit seinem Artikel „Bedingt abwehrbereit“ einen handfesten Skandal aus. Auch während der Nachfolger-Übung „FALLEX 66“ fanden keine Truppenbewegungen statt. Stattdessen sollte bei dieser Stabsübung die Einsatzbereitschaft der politischen Strukturen getestet werden. Denn die BRD hatte erst kürzlich Notstandsgesetze entworfen, die die NATO nun unter simulierten Kriegsbedingungen testen wollte.
Trügerische Ergebnisse Die meisten Stabsrahmenübungen dieser Zeit wiesen jedoch mehrere Nachteile auf. Da sie im politischen und militärischen Fokus standen, endeten sie stets mit einem strategischen Erfolg der eigenen Kräfte. NATOÜbungen waren unter diesem Gesichtspunkt vor allem Demonstrationen der Geschlossenheit. Schwächen im militärischen System wurden auf diese Weise eher selten aufgedeckt. Hinzu kam, dass die Führung in der Regel keine oder nur geringe Kontingente einsetzte und die Gefechtsverläufe vor allem „am grünen Tisch“ darstellte. Schließlich spielten konventionelle Streitkräfte nur eine untergeordnete Rolle, da die NATO auf atomare Abschreckung setzte. Dementsprechend selten waren großangelegte Manöver. Auch war die Institution Bundeswehr bis zu diesem Zeitpunkt in der Republik nicht unumstritten, da große Teile der Bevölkerung dem Militär ablehnend gegenüberstanden. Wie schwierig musste es da erst sein, den Menschen umfangreiche Manöver ihrer ungeliebten Streitkräfte zu vermitteln?
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FAHRKÜNSTLER: Ein Bundeswehrpanzer bahnt sich im September 1963 während des Manövers „Hohenfels 63“ seinen Weg durch eine enge Straße. Foto: picture-alliance/Georg Göbel
Immerhin konnte die Bundeswehr aber an den Übungen der Verbündeten teilnehmen, die nicht selten auf deutschem Boden stattfanden. 1960 beteiligte sich die deutsche Armee etwa am NATO-Manöver „Hold Fast“. Dabei trat die 6. Panzergrenadier-Division am 20. September gemeinsam mit britischen, kanadischen, belgischen und dänischen Truppen in Schleswig-Holstein zu größeren Planspielen an. Die NATO setzte damit übrigens, wenn auch ungewollt, eine Tradition fort. Denn schon zu Kaisers Zeiten nutzten die deutschen Streitkräfte den Herbst, um Manöver zu veranstalten. Die modernen Übungen jedoch blieben in ihrem Umfang begrenzt.
Dies änderte sich erst gegen Ende der 1960er-Jahre, als sich in der NATO 1967/68 ein vielbeachteter Strategiewechsel durchsetzte. Anstelle der „massiven Vergeltung“ versprach die neue Doktrin der „flexible response“ einen Ausweg aus der nuklearen Eskalationsstufe. Fortan war es der NATO möglich, auf begrenzte Angriffe des Gegners mit ebenso eingeschränkten Mitteln zu reagieren, während sie auf massivere Schläge weiterhin entsprechend umfangreich antworten konnte. Bis zum Ende des Kalten Krieges hielt die NATO an dieser Strategie fest. Der Einsatz von Atomwaffen galt nun nicht mehr als die einzige Option.
Panzer und Soldaten statt Atomwaffen
Mitte der 1960er-Jahre begann die NATO mit ihren „Winter-Exercises“ („Winter-Übungen“), der sogenannten WINTEX-Reihe. Mit ihrer Hilfe sollten auf allen Ebenen organisatorische Belange getestet werden, um die dabei aufgedeckten Mängel beheben zu können. Die WINTEX-Übungen wurden bis 1989 durchgeführt und fanden in der Regel alle zwei Jahre statt. Hier sollte erstmals die Frage beantwortet werden, wie sich eine atomare Vergeltung bei einem konventionellen Angriff vermeiden ließ. Ein angenommener Konflikt begann dabei zumeist an der europäischen Peripherie in Skandinavien oder auf dem Balkan, weitete sich aber schnell auf Mitteleuropa aus. Der sowjetische Angreifer, in den Planspielen stets als ORANGE bezeichnet, konnte aber
INS FELD: Eine Gruppe US-Soldaten verlässt einen gepanzerten Transporter. Die REFORGER-Übungen (hier 1973) waren zugleich Foto: picture-alliance/Jack Gilbert auch eine Machtdemonstration.
auch in den WINTEX-Übungen zumeist nur mithilfe eines begrenzten Einsatzes von Atomwaffen gestoppt werden. Zwar hatte die NATO damit die ursprünglichen Ziele verfehlt, doch immerhin hielt sie nun glaubwürdige und ungeschönte Ergebnisse in Händen. Nach und nach konnte der Westen so den geplanten Einsatz taktischer Nuklearwaffen zurückfahren. Doch erst zu Beginn der 1980er-Jahre war die Atlantik-Allianz in der Lage, einen konventionellen Angriff des Warschauer Paktes auch vollständig mit konventionellen Mitteln abzuwehren.
Bundeswehr wird aufgewertet Da mit der Strategie der „flexible response“ die konventionellen Streitkräfte einen enormen Bedeutungszuwachs erfuhren, musste
DOKUMENT NATO-Truppen in Deutschland Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das ehemalige Deutsche Reich in vier Besatzungszonen aufgeteilt. In den drei westalliierten Zonen blieben zahlreiche französische, britische und amerikanische Truppen stationiert. Auch als die Bundesrepublik entstand, hoben die Siegermächte das Besatzungsstatut zunächst nicht auf. Die Kosten, die entstanden, als man die ausländischen Soldaten unterbrachte, musste daher der junge westdeutsche Staat tragen. Erst 1955 endete die Besatzungszeit. Dies bedeutete jedoch keineswegs den Abzug der alliierten Truppen. Im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit fungierten diese nun jedoch nicht mehr als Besatzer, sondern als Beschützer Deutschlands und Westeuropas. Die britische „Rheinarmee“ bezog ihr Hauptquartier seit 1954 in Mön-
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chengladbach und umfasste auf ihrem Stärkehöhepunkt über 100.000 Kombattanten. Als Regelstärke war allerdings ein Soll von 50.000 Mann vorgesehen. Daneben hielten sich in der ehemaligen britischen Besatzungszone auch belgische und kanadische Truppen auf. Die amerikanischen Streitkräfte, die in den 1960er-Jahren ihr Hauptquartier in Heidelberg bezogen, umfassten im Zenit des Kalten Krieges bis zu 300.000 Soldaten und ihre Familien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zog 1994 der Großteil der ausländischen Streitkräfte aus Deutschland ab. Gegenwärtig befinden sich jedoch noch immer fast 60.000 Mann auf deutschem Hoheitsgebiet, davon 42.000 US-Amerikaner.
die NATO in höherem Maße als bisher großangelegte Manöver planen und durchführen. Im Jahr 1969 begann das Bündnis daher mit ihren sogenannten REFORGER-Übungen. Das Kürzel stand für „Return of Forces to Germany“ („Rückkehr von Streitkräften nach Deutschland“). Den europäischen NATOStaaten war es dabei gelungen, den USA ein Zugeständnis abzuringen. Da die Vereinigten Staaten ihre Truppenpräsenz auf dem Kontinent gegen Ende der 1960er-Jahre verringern wollten, herrschte in Europa die Angst vor, im Falle eines Angriffs nicht mehr verteidigungsfähig zu sein. Um zu demonstrieren, dass die USA nach wie vor den Schutz gewährleisten konnte, sagte die USRegierung die Teilnahme an den Großübungen zu. Dies führte in der Folge dazu, dass GROSSER BAHNHOF: Generalmajor Marvin Fuller, Kommandeur der US-Truppen von REFORGER 74.
Foto: picture-alliance/US Army
LUFTKAVALLERIE: Das erste REFORGER-Manöver der NATO, das am 29. Januar 1969 begann, war zugleich auch eine kombinierte Foto: picture-alliance/Karl Schnörrer Luft-Boden-Übung.
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Manöver
BESCHEIDENER ANFANG: Panzer durchqueren eine von Pionieren vorbereitete Furt. Das Manöver im Herbst 1957 war die erste Übung deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Foto: picture-alliance/dpa
erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder großangelegte Manöver in Deutschland stattfanden. Ein Großteil der amerikanischen Truppen wurde eigens für die Teilnahme an den Übungen eingeflogen, während Ausrüstung und Waffen dauerhaft in der Bundesrepublik blieben. Die Soldaten mussten nach ihrer Ankunft nur noch die bereitgestellten Materialien übernehmen und verstärkten auf diese Weise die NATO-Streitkräfte in Europa, ohne dauerhaft vor Ort stationiert sein zu müssen. Ziel war es dabei, den Transport der USTruppen im Sinne des „Rapid Reinforcement Concept“ („Plan zur raschen Verstärkung“) so schnell wie möglich durchzuführen. Damit dokumentierten die USA auch ihren Anspruch, tragende Säule der NATO in Westeuropa zu sein.
Herbstmanöver werden größer Neben den amerikanischen Streitkräften stellte die Bundeswehr die größten Kontingente für die viel beachteten Übungen. Für die meisten Wehrpflichtigen stellten sie ein einmaliges Erlebnis dar, das den meist monotonen Alltag gehörig aufmischte. Zugleich verdeutlichten die Manöver aber auch die Ernsthaftigkeit der politischen Lage. Abseits des Heeres waren zudem die deutsche Luftwaffe und die Marine an den Planspielen beteiligt. Auf diese Weise wollte man einen möglichst hohen Grad an Realismus erzielen. Von den anderen NATO-Staaten partizipierten in erster Linie die in Deutschland stationierten britischen, kanadischen und französischen Kontingente an REFORGER. Schließlich fungierten sie im Falle eines Krieges als wichtige Stütze der NATO.
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ROUTINIERT: In den 1970er-Jahren waren große Manöver im Unterschied zu den 1950er- und 1960er-Jahren schon nichts AußergewöhnFoto: picture-alliance/David Apple liches mehr. Hier ein MG-Schütze 1973.
Mit 17.000 Teilnehmern waren die ersten REFORGER-Übungen in Nordbayern noch verhältnismäßig bescheiden. Trotzdem wertete der Warschauer Pakt diese bereits als „militärische Provokation“, obwohl die „Ostblock“-Staaten während ihrer Herbstmanöver ebenfalls in großem Stil für den Ernstfall probten. Von solchen Äußerungen ließen sich die Organisatoren jedoch nicht abschrecken. Vielmehr sah REFORGER von Jahr zu Jahr mehr Teilnehmer vor. Während etwa 1970 und 1971 noch 33.000 Soldaten beteiligt waren, zählten die Übungen von 1973 bereits 53.000, die von 1982 nunmehr 72.000 Kombattanten. Auch schwere Waffen und Panzereinheiten kamen zum Einsatz. 1985 rasselten beispielsweise 15.000 Radfahrzeuge (Transporter, Lastkraftwagen) und 6.000
Kettenfahrzeuge der NATO (Schützenpanzer, Kampfpanzer) durch Westdeutschland. Wie bei Manövern üblich, wurden die Parteien in „Rot“ und „Blau“ eingeteilt. Die verschiedenen Truppen erhielten Aufträge, die sie möglichst effektiv zu erfüllen hatten. Ziel war es auch hier, den Einsatz taktischer Atomwaffen zu vermeiden. Schiedsrichter überwachten die simulierten Gefechte und legten angesichts der Operationsverläufe Verlustzahlen sowie Sieger und Verlierer fest. Die REFORGER-Manöver fanden überwiegend in Bayern, Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg statt, da die US-Truppen seit der Besatzungszeit dort ihre Standorte hatten. Lediglich 1987 wurden Niedersachsen und Teile der Niederlande als Übungsareal ausgewählt. Angesichts der gängigen An-
DOKUMENT Der Warschauer Pakt Gegenspieler der NATO war die Warschauer Vertragsorganisation, besser bekannt unter dem Namen Warschauer Pakt. Der militärische Beistandspakt entstand am 14. Mai 1955 im Zuge der sich verschärfenden Spannungen zwischen Ost und West und der Gründung der NATO, die man bereits am 4. April 1949 aus der Taufe gehoben hatte. Dem Bündnis der Ostblock-Staaten gehörten neben der Sowjeunion zeitweise bis zu sieben weitere Staaten an. Ebenso wie ihre Gegenspieler im Westen hielt auch der Warschauer Pakt multinationale Großmanöver ab. Eine erste größere Übung begann am 12. Oktober 1970 in der DDR. Das größte Manöver fand schließlich am 12. September 1980 unter dem Namen „Waffenbrüderschaft 80“ mit 40.000
Soldaten ebenfalls auf dem Gebiet der DDR statt. Der Warschauer Pakt bestand bis zum 1. Juli 1991.
GEBALLTE MACHT: T-62 während des Herbstmanövers 1981. Foto: picture-alliance/dpa
Notwendiges Übel MIT FREMDEM GERÄT: Ein BundeswehrPanzer aus US-Produktion im Jahr 1966 während des Manövers „Silberkralle“. Foto: picture-alliance/Manfred Rehm
KEINE SCHEU: Verteidigungsminister Franz Josef Strauß lässt sich 1959 eine Maschinenpistole vorführen. Foto: picture-alliance/ASSOCIATED PRESS
ABWEHRBEREIT: Deutsche Raketenwerfer am 16. Oktober 1973 während REFORGER V auf einem Feld in der Nähe von Kleinweingarten in Bayern. Foto: picture-alliance/Thomas McCole
nahme, sowjetische Truppen könnten in die norddeutsche Tiefebene einbrechen, ist es erstaunlich, dass man nicht häufiger in dieser Gegend probte.
Die Bedrohung nimmt zu Höhepunkt war das Jahr 1988, als 125.000 Soldaten an den Übungen teilnahmen. REFORGER war dabei stets auch ein Spiegel der Politik während des Kalten Krieges. Entspannten sich die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, wurde den Großmanövern wenig Aufmerksamkeit zuteil. Drohte die internationale Lage jedoch zu eskalieren, stand auch REFORGER im Fokus. Als sich der Kalte Krieg 1983 verschärfte, nachdem die Sowjetunion Atomraketen in Osteuropa stationiert hatte, während der Westen mit dem NATO-Doppelbeschluss nachzog, führte die unmittelbar nach REFORGER stattfindende und streng geheime Übung „Able Archer“ („fähiger/tüchtiger Bogenschütze“) die Welt an den Rand eines „heißen“ Krieges. „Able Archer“ sollte einen Atomkrieg auf der Kommandoebene der Streitkräfte und der Politik simulieren. Die Sowjet-Führung wertete die massive Truppenpräsenz der USA infolge der REFORGER-Übungen und die Testläufe der Nuklearwaffen als Vorbereitungen auf einen „echten“ Krieg. Immerhin registrierte man auf westlicher Seite das sowjetische Misstrauen und führte die Simulation nicht vollständig durch. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges hatte auch REFORGER seine Bedeutung verloren. Letztmalig fanden Übungen 1993 statt – mit einer kleinen Teilnehmerzahl von nur 7.000 Soldaten. Neben REFORGER führte die Bundeswehr
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aber auch Manöver mit dem engsten Verbündeten Frankreich durch. 1987 beteiligten sich beispielsweise 75.000 Männer und Frauen an der Übung „Kecker Spatz/Moineau Hardi“ in der Nähe von Nürnberg. Auch Einheiten der französischen Fremdenlegion waren involviert. Die Bundeswehr testete hier erstmals eine eigens für die Dauer der Manöver eingerichtete Hörfunkwelle, die allerdings nur auf geringes Interesse stieß. Auch gemeinsam mit belgischen Truppen probte die Bundeswehr mehrfach den Ernstfall. Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den Blöcken in den 1980er-Jahren
Literaturtipps Dorn, Wolfram: So heiß war der Kalte Krieg. Fallex 66, Köln 2002 Gablik, Axel F.: Eine Strategie kann nicht zeitlos sein. Fexible Response und WINTEX. In: Frank Nägler (Hrsg.): Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden – Einsichten – Perspektiven. München 2007, S. 313–328
und der Furcht vor einem Atomkrieg erfuhr die Friedensbewegung in Deutschland einen massiven Zulauf. Auch die Großübungen der NATO begleiteten Friedensaktivisten und Umweltschützer fortan mit friedlichen Protesten. Zudem schränkten die Manöver das Zivilleben ein, etwa wenn die Armee Straßen und öffentliche Wege sperrte oder es den Bürgern untersagte, Wälder für die Dauer der Übung zu betreten. 1973 klagten mehrere Bewohner eines Manövergebietes über Brechreiz, da die Bundeswehr Nebelgranaten eingesetzt hatte. Hinzu kamen die aus den Planspielen resultierenden Schäden, die den Zorn der Anwohner erregten. Die Bundeswehr bezifferte die Kosten allein zwischen 1981 und 1982 auf 240 Millionen Mark. Darüber hinaus führte das hohe Fahrzeugaufkommen häufig zu Verkehrsunfällen, die teils auch Verletzte und Tote zur Folge hatten. Angesichts der latenten Gefahr eines Dritten Weltkriegs nahm der Großteil der deutschen Bevölkerung die Manöver jedoch kritiklos hin und betrachtete sie als notwendiges Übel. n
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Chronik
Die Jahre von 1975–1985
Wettrüsten Kaum schöpfte die Welt nach der Kubakrise Hoffnung, verschärfte sich der Kalte Krieg Ende der 1970er-Jahre erneut. Auf die Bundeswehr kamen immer größere Von Stefan Krüger Manöver und der umstrittene NATO-Doppelbeschluss zu.
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NICHT NACHLASSEN: Als der Ton zwischen Ost und West wieder rauer wurde, legte auch die Bundeswehr nach: Ständige Großmanöver und neues Material wie der Leopard 2 waren Foto: picture-alliance/Klaus Rose die Folge.
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Chronik 1975–1985
Die Bundeswehr rüstet nach 14. OKTOBER 1975: Mit 57.000 Soldaten startet die bislang größte REFORGER-Übung.
IMMER AM MANN: Mit Merkkarten wie diesen bereitete die Bundeswehr ihre Angehörigen auch auf den atomaren Ernstfall vor. Foto: Jürgen Joachim
AUGUST 1976: Nach einem verheerenden Erdbeben im italienischen Friaul unterstützt die Bundeswehr die örtlichen Rettungskräfte mit 800 Soldaten.
DEZEMBER 1976: Der FlaK-Panzer Gepard wird erstmalig an die Bundeswehr ausgeliefert. Das mit zwei 35-mm-Maschinenkanonen bewaffnete Unterstützungs-Fahrzeug, hatte vor allem die Aufgabe, Panzer und Panzergrenadiere vor Tieffliegern und Hubschraubern zu schützen. Er ist der Nachfolger des M42 duster aus US-Produktion (siehe auch Bericht auf Seite 56).
11. SEPTEMBER 1976: Das REFORGER-Manöver Lares Team startet (44.000 Soldaten). An den Herbstmanövern im September 1976 nahmen aus Übersee vier US-Divisionen, zwei US-Regimenter und eine kanadische Brigade teil. Gemessen an der Anzahl der Verbände ist dies die bislang größte REFORGER-Übung.
1975
„KALTE“ KRIEGER: Unter dem Damoklesschwert des Dritten Weltkrieges schonte die Bundeswehr ihre Soldaten nicht. Hier findet im Februar 1976 ein Winterbiwak auf dem Truppenübungsplatz Wildflecken statt. Fotos (2): Jürgen Joachim
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1976
WILD-WEST-ATMOSPHÄRE: Deutsche Soldaten bei einem Manöver auf dem Truppenübungsplatz Hohenfels in der Oberpfalz im Frühjahr 1976.
Die Bundeswehr erhält neue Waffen GEFÄHRLICHES GERÄT: Auch konventionell rüstete die Bundeswehr nach – hier mit der FH155. Foto: picture-alliance/dpa
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1979
13. SEPTEMBER 1977: Nach der Doppelübung im vergangenen Jahr findet nun mit 51.800 Soldaten wieder eine reguläres REFORGER-Manöver statt.
SPEERSPITZE DER PANZERTRUPPE: Mit dem Leopard 2 stand der Bundeswehr ein äußerst effizienter Tank zur Foto: picture-alliance/Klaus Rose Verfügung.
18. SEPTEMBER 1978: REFORGER 78 Certain Shield beginnt (55.780 Soldaten). Neben Certain Shield finden im September noch drei weitere Herbstmanöver parallel statt („Blaue Donau“, „Saxon Drive“ und „Bold Guard“). Insgesamt beteiligen sich rund 200.000 Soldaten an den Manövern. Es sind die größten militärischen Bewegungen auf deutschem Boden seit Ende des Zweiten Weltkrieges.
13. OKTOBER 1978: Gemeinsam mit Italien und Großbritannien führt Deutschland die Feldhaubitze FH155-1 ein. Die Bundeswehr vollzieht damit einen wichtigen Schritt, um die Waffensysteme innerhalb der NATO anzugleichen.
27. JANUAR 1979: REFORGER 79 erreicht mit 61.000 Teilnehmern wieder einen neuen Rekordwert.
Clausewitz Spezial
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Chronik 1975–1985
Droht der Kalte Krieg zu eskalieren? 24. OKTOBER 1979: FÜR DEN FRIEDEN: Soldaten demonstrierten am 10. Oktober 1981 gegen Atomwaffen.
Die Panzerlehrbrigade 9 erhält als erster Verband der Bundeswehr den neuen Leopard-2-Panzer (siehe auch Bericht auf Seite 56).
12. DEZEMBER 1979:
Foto: picture-alliance/dpa
Der NATO-Doppelbeschluss tritt in Kraft. Das Abkommen sieht vor, dass die NATO neue, Atomsprengköpfe tragende Raketen und Marschflugkörper vom Typ Pershing II und BGM-109 Tomahawk in Westeuropa stationiert. Die Verbündeten reagieren damit auf eine Nachrüstung auf sowjetischer Seite, wo man ältere Mittelstreckenraketen durch modernere RSD-10 (besser bekannt als SS 20) ersetzt hatte. Ferner fordert der Beschluss sowohl die USA als auch die Sowjetunion auf, über die Begrenzung von atomaren Mittelstreckenraketen zu verhandeln. Kritiker, insbesondere die Angehörigen der Friedensbewegung, lehnen den Doppelbeschluss ab, da sie ihn als weiteren Schritt eines globalen, atomaren Wettrüstens betrachten. Die Befürworter sind hingegen der Ansicht, dass es ohne die
1979
1980
Mittelstreckenraketen nicht möglich wäre, einen beschränkten Angriff des Warschauer Paktes mit ebenso eingeschränkten Mitteln zu beantworten. Vielmehr wären die Vereinigten Staaten so gezwungen, Interkontinentalraketen abzufeuern, wodurch ein möglicher Konflikt atomar eskalieren würde. Erst die neuen Raketen und Marschflugkörper könnten diese Lücke in der Abschreckung schließen.
1981
1982
AUSSICHTSLOS: In Afghanistan sollte die Rote Armee ihr „Vietnam“ erleben. Foto: picture alliance/AFP
25. DEZEMBER 1979: Die Sowjetunion interveniert in Afghanistan mit dem Ziel, eine moskautreue Regierung zu installieren. War der Kreml zuvor noch vor einem solchen Schritt zurückgeschreckt, gab die Sowjetunion nach dem NATO-Doppelbeschluss ihre Zurückhaltung auf.
8. SEPTEMBER 1981: REFORGER 81 beginnt. Mit 70.000 Soldaten lässt diese Übung das bisher größte Manöver (REFORGER 79) deutlich hinter sich.
15. MÄRZ 1982: Der Wehrbeauftragte hat ab sofort unter anderem das Recht, Bundeswehreinrichtungen ohne Voranmeldung zu besuchen.
13. SEPTEMBER 1982: Noch einmal schafft es die NATO, die Teilnehmerzahl bei REFORGER zu steigern (72.000 Soldaten).
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HERBSTMANÖVER: Ein Marder und ein Leopard I während REFORGER 80 (ManöFoto: picture-alliance/dpa ver St. Georg).
Atomare Nachrüstung
20. SEPTEMBER 1982: Der zweite Traditionserlass der Bundeswehr tritt in Kraft und hebt damit den Erlass von 1965 auf. Unter anderem distanziert sich die Bundeswehr damit ausdrücklich von der ehemaligen Wehrmacht. FÜR DEN ERNSTFALL: Ein Schützenpanzer Marder während einer Übung im Winter 1976. Foto: Jürgen Joachim
4. OKTOBER 1983: Bei einem schweren Schießunglück auf dem Truppenübungsplatz Münsingen kommen zwei Bundeswehrsoldaten ums Leben. 25 weitere Soldaten und Zivilisten werden verletzt.
7. NOVEMBER 1983: Die NATO-Kommandostabsübung Able Archer beginnt. Zweck der Übung ist es, einen Atomkrieg möglichst realistisch zu simulieren. Die NATO ist dabei jedoch so erfolgreich, dass in der sowjetischen Führung Unsicherheit darüber herrscht, ob es sich tatsächlich nur um ein Manöver handelt oder ob die NATO nicht vielmehr doch einen Erstschlag vorbereitet. Als Reaktion versetzt die Sowjetunion ihre Truppen in der DDR und im Baltikum in Alarmbereitschaft.
21. JANUAR 1985: REFORGER fällt dieses Jahr in den Winter, 72.000 Soldaten nehmen teil.
1983
Weniger beim Bund
Foto: picture-alliance/dpa
1984
INFO
INFO
ALLTÄGLICHES: „Zu groß“ gibt es für die Bundeswehr nicht: Auch dieser 2,15-m-Hüne wird 1983 eingekleidet.
1985
Personalstärke der Bundeswehr 1985
GESAMT: 495.000 Soldaten WEHRPFLICHTIGE: 230.000 Soldaten
Der Prozentsatz eines Jahrganges, die tatsächlich Wehrdienst geleistet haben, ging stark zurück. ZIVILPERSONAL: 180.000 Soldaten HEER: 335.500 Soldaten LUFTWAFFE: 105.900 Soldaten MARINE: 36.400 Soldaten
IN ERWARTUNG DES FEINDES: Auch die NVA hielt ihre Soldaten auf Trab, wie hier im Mai 1981 beim Schießen auf dem Truppenübungsplatz Annaburg. Foto: picture-alliance/ ddrbildarchiv.de/Lothar Willmann
Clausewitz Spezial
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Erzählung
So lief der Wehrdienst Anfang der 1970er-Jahre
Mit Haarnetz in den Kalten Krieg Äußerst turbulent ging es in der Bundesrepublik Anfang der 1970er-Jahre zu, als Jörg-M. Hormann seinen Wehrdienst antrat. Würde es den Ausbildern gelingen, aus den aufmüpfigen und jungen Städtern Soldaten Von Jörg-M. Hormann zu machen?
H
amburg Rahlstedt im Mai 1971. Das Kasernentor der Graf-Goltz-Kaserne ließ die Stelle ahnen, wo seinerzeit der ausladende Wehrmachtsadler mit dem Hakenkreuz in seinen Krallen gehangen hatte. Eine Toranlage im typischen Neoklassizismus mit Backsteinen, Mitte der 1930er-Jahre hochgemauert. Eigentlich wollte ich ja Architektur studieren, zumal ich trotz des harten Numerus Clausus einen Studienplatz ergattern konnte. Doch sobald mein Bruder und ich solche Überlegungen anstellten, ernteten
wir einen strengen Blick unseres Vaters, ein ehemaliger Berufsoffizier der Panzer-Aufklärungstruppe mit wechselnder Waffenfarbe Rosa und Goldgelb während des Krieges.
Am Wehrdienst vorbeisteuern Es war nicht unüblich, dass in den Köpfen der demnächst Wehrpflichtigen so gewisse Gedankenspiele rumspukten, wie man an dem damals 18-monatigen Wehrdienst vorbeisteuern konnte. Einige schoben schon seit Jahren ihren freiwilligen Dienst bei der Feuerwehr, dem Deutschen Roten Kreuz oder dem Technischen Hilfswerk. Zehn Jahre Mitmachen erlöste von 18 Monaten Bundeswehr. Andere flüchteten vor der Armee, indem sie ihren Wohnsitz ins eingemauerte WestBerlin verlagerten, und wieder andere gingen den ganz harten Weg als anerkannter Kriegsdienstverweigerer mit 18 Monaten Zivildienst im Krankenhaus. Mein Bruder und ich zogen die bequemste Variante vor: Wir ließen uns zum Wehrdienst ziehen, sodass wir bald darauf die Einberufungen auf dem Tisch hatten – noch dazu mit demselben Termin. Mein Bruder landete bei der Raketenartillerie in Barme und ich selbst stand nun vor besagtem Tor. Einberufen zur 4. Kompanie des Panzer-Bataillons 174 in die GrafGoltz-Kaserne in Hamburg Rahlstedt, sollte SCHICKES HAARNETZ: Die liberale Politik der Nach-1968er-Ära ließ dem „Staatsbürger in Uniform“ die Haare auf dem Kopf. Foto: picture-alliance/dpa
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STOLZER VATER: Den Großen Dienstanzug für das Foto brachte der Sohn im Koffer mit nach Hause. Bloß nicht auf der Straße auffallen, war die Devise. Foto: Hannelore Hormann
der amerikanische M48 A2 „mein“ Kampfpanzer werden. Was damals einen ganz besonderen Reiz ausmachte: Wir waren eine sogenannte „Abiturientenkompanie“ und kamen fast alle aus Hannover und Umgebung. Unser Wehrdienst begann völlig unüblich am 1. Juni und war um zwei Monate verkürzt, damit wir Anfang Oktober des nächsten Jahres ein Studium aufnehmen konnten. Für die Ausbilder war es nicht gerade einfach, aus Stadtmenschen wie uns Soldaten zu machen. Sie hatten nämlich einen leidlich aufmüpfigen Haufen langhaariger 68er vor sich, die auch schon mal die Mao-Bibel mitbrachten und manchmal „klammheimliche Freude“ beim beginnenden RAF-Terror empfanden. Wie ich später erfuhr, wurden zur 4. Kompanie die qualifiziertesten Ausbilder des Bataillons, ja sogar der Panzergrenadier-Brigade 17, zu der das Bataillon gehörte, befohlen. Sie verstanden es, bestimmte Diskussionen, die sich um den Dienstalltag drehten, schon im Keim durch Argumente zu ersticken, ohne über den Kasernenhof brüllen zu müssen. Generationen von Wehrpflichtigen vor uns traten ihren Dienst mit kurzem Haarschnitt an; der Friseur direkt gegenüber dem Kasernentor in Rahlstedt wusste, warum gerade hier sein Geschäft blühte. Er erlebte allerdings Anfang der 1970er-Jahre magere
REIN IN DEN MATSCH: Im Verband mit den Panzer-Grenadieren und ihrem Schützenpanzer HS 30 wurde auf dem Standortübungsplatz Höltigbaum der Krieg geFoto: ullsteinbild übt.
DURCHSCHLAGEN: Der Sachsenwald bei Hamburg: Weitläufig und undurchdringlich, vor allem mit falschen Wegskizzen. Eine Gruppe schlägt sich durchs Gelände. Foto: Sammlung Jörg-M. Hormann
Clausewitz Spezial
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Erzählung
MITTENDRIN: Schmidt war von 1969 bis 1972 Verteidigungsminister. Er verstand seine Soldaten samt ihren Haarprachtnöten. Foto: Sammlung Jörg-M. Hormann
„EISENSCHWEINE“ im Manövereinsatz. Hier allerdings nicht der M48 A, sondern sein kleiner Bruder M47, der zur Kampfpanzer-Erstausstattung der Panzertruppe gehörte. Foto: Sammlung Jörg-M. Hormann
Zeiten. Denn Helmut Schmidt, der seit 1969 Verteidigungsminister der insgesamt liberaler gewordenen Republik war, verpasste der Bundeswehr einen sogenannten „Haarerlass“. Fortan durfte ein kleidsames Haarnetz das edle Haupthaar bändigen, während die Bärte keinem Rasiergerät mehr zum Opfer fallen mussten. Nach der ersten Tränenorgie unter der nicht schließenden ABCSchutzmaske im Kriechgang hatte der Friseur dann wieder Zulauf.
„Ein Verweigerer unter Ihnen?“ Pikant war eine klassische Zeitgeistsituation. Offenbar ahnte Hauptmann Sadra, Kompaniechef der 4. Kompanie, was ihm bei der Frage: „Ist ein Kriegsdienstverweigerer unter Ihnen?“ alles passieren konnte. Es meldete sich tatsächlich ein Panzerschütze. Sein Anerkennungsverfahren lief noch und nun hatte der Kompaniefeldwebel das Problem, ihn in seinem Bereich irgendwie adäquat unterzubringen. Auf keinen Fall ging es ab nach Hause. Der Rekrut wurde vielmehr in die Waffenkammer gesteckt, um uns bei Bedarf G3, P1, Uzi, MG1 und das schwere Maschinengewehr mit dem Kaliber 12,7 Millimeter auszuhändigen und wieder einzusammeln. Genau den Job hatte er sich als Kriegsdienstverweigerer vorgestellt. Während wir als Panzermänner nach der Grundausbildung das gerade eingeführte schwarze Barett tragen durften, musste er sich weiter mit dem „Schiffchen Moleskin“ schmücken. „Strafe muss sein!“, könnte man
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WAFFENDIENST: Üben, bis man es im Schlaf kann. Hier wird der Verschluss in das G3-Gehäuse eingeführt. Foto: ullsteinbild
hier als nicht dokumentierte Denkweise der Vorgesetzten vermuten. Ein großes Glück war es für uns, dass wir im Sommer marschierten und durch das Gelände robbten. Auch wenn es 1971 besonders trocken und heiß war. Die schönen Worte „Aufsitzen und Panzer marsch!“ hörten wir in den ersten drei Monaten allerdings nie. Stattdessen bildete man uns bis zum Erbrechen an den Handfeuerwaffen aus. Ich könnte heute noch ein MG1, bekannter als MG42, im Liegen zerlegen und wieder zusammensetzen. „Stecken Sie sich die Schulterstütze zwischen die Kimme, damit die Schließfeder nicht verdreckt!“ ist mir als oft gehörter Ausbildersatz noch in bildlicher Erinnerung, weil da über jedem Rekrutenhintern die MGSchließfeder wippte. Irgendwie lustig, aber in der Sache durchaus effizient.
Dass der Kalte Krieg Realität war, erlebten wir an jedem Schwarzen Brett in der Kaserne. Da hing ein gelb-rotes Plakat, auf dem der Militärische Abschirmdienst (MAD) aufforderte, jedes Fahrzeug zu melden, das ein Nummernschild der russischen Besatzungsmacht trug. Bis zu dem Zeitpunkt wusste ich gar nicht, dass diese Herrschaften im Westen herumkajolen durften. Bei meiner Frage, ob die Russen denn in Uniform unterwegs wären, schaute mich der Unteroffizier irritiert an: „Kann ich Ihnen nicht sagen, hab’ noch nie einen gesehen.“ Bemerkenswert fand ich auch, dass wir wie selbstverständlich die „Übungstruppe Blau“ waren. Übrigens genau die Farbe, in der jeder zehnte Kettenendverbinder an den Panzern meiner Kompanie angestrichen war. Also sind die „Guten“ der blauen Farbe zuzuordnen. Und die
„Anschleichen zur Kontrolle ist heute lebensgefährlich. Die Posten schießen, ohne lange zu fragen. Also immer schön im Licht der Zaunbeleuchtung die Runde laufen!“ 1971 bei der Vergatterung der Offiziere vom Dienst
Ideal für Naturbuschen
SCHUTZMÜTZE: Seit 1959 tragen Besatzungen gepanzerter Fahrzeuge die Panzerkombi mit barettartiger Kopfbedeckung. Foto: ullsteinbild ROBBEN: Mit Gewehr im Vorhalt unter dem Drahtverhau. Grundwehrdienst dritte Woche. Foto: ullsteinbild
„Bösen“ – sprich „Feind“ oder militärisch vornehm „Gegner“ – sind die Roten? Da hatte ich in meiner historisch orientierten Denkart Fehlschlüsse zu korrigieren. Bei der Bundeswehr gab es damals keine „Roten“ vor den Kanonen- und Gewehrmündungen. Das, was sich uns auf der Gegenseite des Eisernen Vorhangs als energischer Gegner präsentierte, hieß im Kriegsspiel und Manöver „Übungstruppe Orange“. Übrigens: Die blauen Endverbinder hatten mit uns „Guten“ auch nichts zu tun. Vielmehr entsprach es der preußischen Methode, die Kompanien zu zählen, und Blau kennzeichnete nun schon seit 100 Jahren die jeweils 4. Kompanie.
Die Blauen sind die Guten? Was mit einem zweistündigen „Spaziergang“ in brütender Hitze und voll aufgerödelt über den Standortübungsplatz Höltigbaum begann und „Marschübung“ genannt wurde, steigerte sich bis zum Ende der Grundausbildung beträchtlich. So verlud man die sechs Mann starken Gruppen mit kompletter Ausrüstung abends auf Unimogs und karrte sie in den Sachsenwald. „Die nächste Gruppe kommt fünf Minuten nach
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Ihnen. Hier ist die Kartenskizze mit den Anlaufpunkten, und stellen Sie sich auf Überraschungen ein. Gruppe marsch!“, hieß es am Ablaufpunkt und schon verschwanden wir auf dem stockdunklen Waldweg. Vor uns mindestens 15 Kilometer Marschstrecke. Im nachtschwarzen Sachsenwald bleibt nur die Möglichkeit, die auf der kopierten Skizze eingezeichneten Wegmündungen oder Kreuzungen beim Durchmarschieren mitzuzählen, um einigermaßen klar zu kommen. Meine Gruppe machte nach kurzer Zeit Skizzenlaufen einen scharfen Schwenk in den Wald, um dem Terminus „Orientierungsmarsch“ gerecht zu werden. Gerüchteweise war bekannt, in welcher Ecke der Hamburger Umgebung wir uns befanden, sodass wir passende Messtischblätter dabei hatten – versteckt in den größeren Verbandspäckchen für Panzerbesatzungen. Für mich als routiniertem Pfadfinder und auf dem Land groß gewordenen „Naturburschen“ war der kürzeste Weg vom Ablaufpunkt zum Endpunkt schnell gefunden und in anderthalb Stunden abmarschiert. Bei Weitem keine 15 Kilometer. „Ab in den Busch und pennen“, hatte bei meinen Gruppenkameraden vollstes Einverständnis. Beim Morgengrauen
SO GEHT’S: Schießen mit dem Gewehr ist eine Sache. Treffen eine andere. Letzteres muss reichlich geübt werden. Foto: ullsteinbild
würden wir dann beim Endpunkt auftauchen. „Wo kommen Sie her?“, herrschte uns unser Kompaniechef an. „Sie sind an keinem Kontrollpunkt durchgekommen.“ „Wir haben uns etwas verlaufen und jetzt sind wir ja da“, kam es treudoof von unserer Seite. Hauptmann Sadra schaute uns gereizt an. Wir waren die Ersten und Einzigen, die bei diesem Orientierungsmarsch am Endpunkt ankamen. Unser mit „Schiffchen Moleskin“ ausgestatteter Panzerschütze hatte beim Anfertigen der Skizzen einige Kartenkoordinaten als Wege eingezeichnet. Ob absichtlich oder aus Unwissenheit, sei dahingestellt. Es dauerte Stunden, bis man die im Sachsenwald umherirrenden Panzerschützen eingesammelt hatte. Solange waren wir auf der zugigen Pritsche des Unimogs „strafversetzt“.
Rollendes Alteisen Nach der Grundausbildung standen wir endlich vor unserem respektablen Waffensystem, auch Kampfpanzer M48 A2 genannt, der sein Kampfgewicht von 48 Tonnen im Namen trug. Eigentlich gehörte dieser Tank mit gusseiserner Wanne und Turm – deshalb auch kurz „Eisenschwein“ genannt – 1971 bereits zum Alteisen des Heeres. Seit sechs Jahren rollte nämlich der Leopard 1 vom Band und war bei den Panzer-Bataillonen des Heeres der Standardtank. Die 6. Panzergrenadier-Division, zu der auch das Panzer-Bataillon 174 gehörte, wäre im Verteidigungsfall den alliierten Landstreitkräften Schleswig-Holstein
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Erzählung
AM STRAND: Der Luftzielbeschuss mit dem schweren MG des M 48 wurde an der Ostseeküste geübt. Foto: Jörg-M. Hormann
UZI IM ANSCHLAG: Und die Pistole P1 im Halfter in der Panzerkombination. Das Waffensortiment der Panzerbesatzungen am Mann – hier bei der Geländeübung. Foto: ullsteinbild
GUSSEISEN: Wanne und Turm des M48 A2 sind aus Gussstahl gefertigt. Sie verleihen dem mittleren Kampfpanzer M 48 die rundlichen Formen. Foto: Sammlung Jörg-M. Hormann
und Jütland (LANDJUT) unterstellt worden und sollte zusammen mit dänischen Truppen und ihren Kampfpanzern an den Ostseezugängen die Stellung halten. Die Dänen liebten ihre „Eisenschweine“ und führten den Leo erst Anfang der 1980er-Jahre ein. Somit rasselte zu meiner Zeit der M48 durch Rahlstedt und über den Standortübungsplatz Höltigbaum – als NATO-Notwendigkeit unter dem Logistikblickwinkel. Da wären wir auch gleich bei einer der beliebten Einsatzsituationen. Mein erster NATO-Alarm war ja noch spannend. Mit größtem Tempo galt es nun, die Kampfpanzer und alle Fahrzeuge voll auszurüsten und in eine Bereitstellung zu fahren, nachdem man, unsanft aus dem Schlaf gerissen, alles, was man hatte, verpacken musste. Der nächste Alarm firmierte dann schon eher unter „nervig“.
Verwaiste Kasernen Ich betete, dass unsere potenziellen „orangen“ Gegner nicht wussten, dass sie die Bundeswehr idealerweise samstags ab 12:00 Uhr angreifen sollten: Gähnend leere Kasernen und gelangweilte – oder das eigene Auto putzende – Rekruten der Bereitschaftszüge hätten sie erobern müssen. Die Bundeswehr
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machte Wochenende, und irgendein Alarm oder eine Übung verbot sich im allgemeinen Eigeninteresse.
„Sie wollen Offizier werden?“ Während der Spezialausbildung am Panzer und dann als Richtschütze hieß es eines Tages: „Gefreiter UA Hormann zum Kompaniechef!“ Nach der Meldung musterte mich Hauptmann Sadra durchaus freundlich: „Sie scheinen ja hier der Einzige zu sein, der seine Gruppe bei den Orientierungsmärschen durchbringt!“ Das lag doch schon einige Wochen zurück, dachte ich und war etwas enttäuscht. Die rund 70 Abiturienten der Kompanie interessierte in den Tagen die Frage, ob und wie man weiterkommt. Ein höherer Dienstgrad und vor allem mehr Wehrsold lockten. In normalen Ausbildungseinheiten garantierte der Abiturientenstatus schon eine gewisse Chance zum Offiziersanwärter. Doch mit 70 OAs wollten das Bataillon und auch die Brigade nichts zu tun haben. Die seinerzeit durchgeführte Ausbildung aller Unteroffiziere und Offiziersanwärter bei der Truppe ohne jeglichen kommandierten Schulbesuch hatte das Stammpersonal be-
reits zur Genüge belastet. Dann kam von meinem Kompaniechef der Kernsatz: „Ihr Vater war doch Offizier, wollen Sie das nicht auch werden?“ Was bleibt einem da als Antwort schon übrig? Der familiäre Frieden in Hannover war somit gerettet. Also gehörte ich zu den drei Ausgewählten, die mit silberner Schlaufe über den Schulterklappen des Arbeitsanzuges herumliefen, die im Jargon als „Neckermänner“ bezeichnet wurden. Ohne Offiziersschule, nur bei ein und derselben Einheit und das effektiv 16 Monate lang, brachte mir das freilich nicht mehr als die Beförderung zum Fähnrich und die Tätigkeit als Panzerzugführer ein. Pünktlich im Oktober 1972 begann ich dann mein Architekturstudium. Als ich Jahrzehnte später meinen Kindern versprach, ihnen meine Kaserne einmal zu zeigen, staunten die nicht schlecht, ihren Vater mit offenem Mund dastehen zu sehen. Die Kaserne, das Tor und der Friseur – alles war weg. ■ Jörg-M. Hormann, Jg. 1949, Freier Journalist aus Rastede mit Schwerpunkten bei der Luftfahrt-, Marine- und Militärgeschichte mit über 40 Buchveröffentlichungen zu den Themen.
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Standorte
Die Kasernen und Truppenübungsplätze
Städte im Flecktarn-Fieber Zahlreiche Standorte fielen seit 2011 der Bundeswehrreform zum Opfer. Häufig endet damit aber nicht nur die Armeepräsenz, sondern vor allem auch eine Tradition. Denn Von Lukas Grawe an vielen Orten war das Militär schon zu Kaisers Zeiten beheimatet. 48
BERLIN: Das Wachbataillon tritt hier am 6. April 2011 in der Julius-Leber-Kaserne zum Empfang des Bundespräsidenten an. Standorte wie dieser haben einzelne Regionen stark geprägt. Foto: picture-alliance/dpa
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as Ende des Kalten Krieges machte es nötig, die Streitkräfte neu auszurichten. Denn überflüssig geworden ist die Bundeswehr keineswegs, nur muss sie ihre Fähigkeiten an die neuen Aufgaben in Zeiten der asymmetrischen Kriegführung anpassen. Im Zuge dessen überprüfte die Führung auch sämtliche Standorte im Hinblick auf Nutzen, Kosten, Attraktivität und Präsenz in der Fläche. So änderte sich die Karte der Bundeswehr-Liegenschaften maßgeblich. Das Bundesverteidigungsministerium warf vor allem infrastrukturelle, betriebswirtschaftliche und räumliche Faktoren in die Waagschale, wenn es um die entscheidende Frage ging, ob ein Standort erhalten bleibt oder nicht (siehe Kasten auf Seite 52). Von den 328 Objekten erfüllten 32 diese Bedingungen nicht, darunter sechs Garnisonen mit mehr als 1.000 Dienstposten. 91 weitere Standorte verschlankte der Dienstherr um bis zu 50 Pro-
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zent. 31 Stand-orte sind seither derart verkümmert, dass man sie fortan nicht einmal mehr als solche bezeichnet.
Knattern im Ländle In Laupheim ist das Hubschraubergeschwader 64 mit seinen Transporthubschraubern und etwa 1.600 Soldaten stationiert. Hier legte die Luftwaffe des „Dritten Reichs“ bereits 1938 einen Stützpunkt an, der 1940 fertiggestellt wurde. Auf dem Gelände befand sich auch eine Waffenversuchsanstalt, in der Heinrich Focke seinen Focke-Achgelis Fa 223 „Drache“, den ersten Militärhubschrauber der Welt, entwarf und testete. Im Krieg mehrfach durch alliierte Flieger bombardiert, übernahm die Bundeswehr das Gelände 1964 und brachte dort verschiedene Hubschraubereinheiten unter. Die Soldaten der Verbände sind seitdem in der Kurt-GeorgKiesinger-Kaserne untergebracht. Seit 2012
untersteht der Flugplatz der Luftwaffe, die damit die Nachfolge des Heeres antrat. Trotz ihrer geringen Größe von 4.800 Einwohnern ist die Stadt Stetten am kalten Markt mit 2.330 Dienststellen einer der wichtigsten Standorte im Südwesten der Bundesrepublik. Gleich zwei Kasernen, nämlich die 1966 eröffnete Albkaserne und das 1910 gebaute Lager Heuberg, sind hier in der Schwäbischen Alb beheimatet. Seit der Kaiserzeit war der ortsansässige Truppenübungsplatz ein Mittelpunkt des militärischen Lebens in BadenWürttemberg. Im Ersten Weltkrieg diente er unter anderem als Kriegsgefangenenlager. In den 1920er-Jahren funktionierten die Behörden das Gelände um und richteten es als Kindertagesstätte her. Erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nutzte man das Areal wieder militärisch. Unweit des Lagers Heuberg entstand 1933 ein Konzentrationslager, in dem vor allem politische Häftlin-
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Standorte BAD REICHENHALL: Bei der Bundeswehr hat man es hin und wieder auch mit „Eseln“ zu tun … Die Tragtier-Kompanie der Bundeswehr, stationiert in Bad Reichenhall, nimmt hier 2006 am traditionellen Rosstag in Rottach-Egern teil. Sie beendet damit einen einwöchigen Übungsmarsch von ihrem Standort zum Tegernsee. Foto: picture-alliance/dpa
ge eingesperrt waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg quartierten sich hier französische und amerikanische Soldaten ein. 1956 übernahm schließlich die Bundeswehr die Anlagen. Heute beherbergen sie das Jägerbataillon 292, das Artilleriebataillon 295, die Panzerpionierkompanie 550 und zahlreiche weitere Einheiten wie das Bundeswehr-Dienstleistungszentrum oder das Zentrum für Kampfmittelbeseitigung. Mit künftig 2.220 Dienststellen ist der Standort Ulm nach wie vor einer der bedeutendsten in Baden-Württemberg. In der Wilhelmsburg-Kaserne ist unter anderem das „Multinationale Kommando Operative Führung“ untergebracht, das Personal und Material für Einsätze der Europäischen Union und der NATO zur Verfügung
stellt. Darüber hinaus organisiert es humanitäre und friedenssichernde Unternehmen, aber auch Kampfeinsätze. Ulm beherbergt außerdem ein Bundeswehrkrankenhaus und ein Sanitätszentrum.
Bayerische Gemütlichkeit? Ein Zentrum für die Gebirgsjäger befindet sich seit 1934 im bayerischen Bad Reichenhall. Mit über 2.000 Dienstposten gehört auch dieser Standort zu den bedeutenderen. Kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme begannen die Bauten an den Kasernen, die seit 1934 Gebirgsjägern als Unterkunft dienten. Zwischenzeitlich war in
LAUPHEIM: Zwei Aufklärungshubschrauber vom Typ BO 105 landen hier im September 2007 auf dem Heeresflugplatz Laupheim. Foto: picture-alliance/dpa
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STETTEN AM KALTEN MARKT: Ein Soldat im Oktober 2014 während der Bundeswehr-Übung „United Endeavour“ auf dem Truppenübungsplatz Heuberg. Foto: picture-alliance/dpa
Bad Reichenhall darüber hinaus auch eine Panzerabwehr-Abteilung stationiert. Nach dem Ende des Krieges richteten die amerikanischen Besatzungstruppen hier ein Lager für Flüchtlinge und heimatlose Menschen ein. 1958 hielt schließlich die Bundeswehr Einzug. Das in den Chiemgauer Alpen gelegene Areal befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum 1.771 Meter hohen Hochstaufen und ist daher für die Gebirgsjäger besonders geeignet. Heute beheimaten die Kasernen das Gebirgsjägerbataillon 231 und ein Gebirgsversorgungsbataillon. Ein Ort, den so mancher Panzergrenadier nicht mehr vergessen wird, ist die Kleinstadt Hammelburg. Hier ist sowohl das „Ausbildungszentrum Infanterie“ als auch das „Vereinte Nationen Ausbildungszentrum“ untergebracht. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts übte in dieser Gegend die königlich bayerische Armee. 1956, nur ein Jahr, nachdem die Bundeswehr entstanden ist, nahm die Schule der Infanterie hier ihren Betrieb auf. 1965 kam ein Truppenübungsplatz hinzu. In Hammelburg lernen die Soldaten unter anderem das allgemeine infanteristische Gefecht und den Orts- und Häuserkampf. Für letzteres steht eigens das „Geisterdorf“ Bonnland zur Verfügung. Seit 1999 werden in Hammelburg auch jene Soldaten ausgebildet und geschult, die an internationalen UN-Missionen teilnehmen. Hinzu kommen Ausbildungsstätten für die Bundeswehr-Kraftfahrer. Das Taktische Luftwaffengeschwader 74, eines von drei Eurofighter-Geschwadern der Luftwaffe, ist im bayerischen Neuburg an der Donau stationiert. Der Verband umfasst
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Standorte MUNSTER: Ein Leopard 2 im Oktober 2013 in „freier Wildbahn“ während einer Schießübung. Foto: picture-alliance/dpa
etwa 900 Soldaten, die im Fliegerhorst Neuburg untergebracht sind. Bereits 1935 entstand der Fliegerhorst, als die Regierung begann, die Wehrmacht aufzurüsten. Vor dem Zweiten Weltkrieg diente er vor allem zu Ausbildungszwecken. Während des Krieges waren jedoch überwiegend Kampfflugzeuge in Neuburg stationiert, darunter auch die berühmte Messerschmitt Me 262, das erste serienmäßig gebaute Strahlflugzeug. Bei Kriegsende durch alliierte Bomber beinahe vollständig zerstört, übernahm die Luftwaffe der Bundeswehr 1961 das Areal. 1967 erlangte es überregionale Bekanntheit, als der deutsche KGB-Spion Manfred Ramminger eine Sidewinder-Rakete der Luftwaffe entwendete und nach Moskau sand-
te. Heute schützen die dort stationierten Eurofighter schwerpunktmäßig den deutschen Luftraum.
Berliner Luft In der deutschen Hauptstadt sind auch nach der Bundeswehrreform annähernd 5.000 Soldaten an zwölf Standorten untergebracht. Die wichtigste, größte und traditionsreichste Garnison stellt die Julius-Leber-Kaserne im Stadtteil Wedding dar. Ihr Gelände diente bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts für militärische Zwecke. Mit dem 1896 aufgestellten Luftschifferbataillon beherbergte das Areal im Übrigen die erste Luftwaffeneinheit der Militärgeschichte. In der Zwischenkriegszeit kaum beachtet, wandte sich die Luftwaffe
DOKUMENT Stationierungskonzept 2011 Im Zuge der Bundeswehrreform erarbeitete die Bundeswehr auch ein Stationierungskonzept. Es ist zum einen noch eine Spätfolge der Wende und Wiedervereinigung, zum anderen aber bereits eine Antwort auf die neue Rolle der Bundeswehr als global agierende Streitmacht. Um zu ermitteln, welche Standorte weiter betrieben werden, formulierte der Dienstherr verschiedene Kriterien. Dazu gehört allgemein die Eignung der Liegenschaft im Hinblick auf den Auftrag der Bundeswehr. Ferner soll der Standort möglichst gute Anbindungen etwa an Übungsplätze oder an die zivile Infrastruktur bieten. Zu Letzterem zählen auch Freizeitangebote, Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen.
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Nicht zuletzt spielt aber auch das liebe Geld eine Rolle: So prüfte die Bundeswehr die Betriebskosten und den Investitionsbedarf, der anfällt, falls ein Standort erhalten bleiben soll. Mit diesen Vorgaben prüfte der Dienstherr die Einrichtungen und kam zu dem Ergebnis, dass von den ursprünglich 394 Standorten 264 erhalten bleiben.
dem Gelände erst 1936 zu. Unter hohem Aufwand ließen die Nationalsozialisten mehr als 130 Gebäude errichten, in denen die spätere Fallschirmpanzer-Division 1 „Hermann Göring“ stationiert war. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete die französische Armee hier ihr Berliner Hauptquartier ein und benannte es in „Quartier Napoléon“ um. Erst 1994, nach dem Abzug der alliierten Truppen, übernahm die Bundeswehr die Kasernen. Heute bieten sie dem Wachbataillon und dem Feldjägerregiment 1 Unterkunft.
Zu Gast bei Friedrich II. Im Falle Brandenburgs denkt man direkt an die traditionsreiche Garnisonsstadt Potsdam, die vor allem zur Kaiserzeit den Mittelpunkt des militärischen Lebens im Deutschen Reich darstellte. Heute beherbergt die brandenburgische Landeshauptstadt jedoch nur noch 300 Soldaten und zivile Bundeswehrbedienstete, darunter vor allem die Mitarbeiter des „Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften des Bundeswehr“ (ZMSBw), sozusagen den „unbewaffneten, wissenschaftlichen Arm“ der Bundeswehr. Das „Kommando Heer“, die dem Verteidigungsministerium nachgeordnete Kommandobehörde des Heeres, hat ihren Sitz im brandenburgischen Strausberg. Die 25.000 Einwohner umfassende Stadt dient bereits seit 1714 als Garnisonsstadt und beheimatete im Laufe der Zeit zahlreiche preußische und deutsche Verbände. Aus dem 18. Jahrhundert stammen zum größten Teil auch die Bauten
Genutzt seit Kaiserzeiten
NEUBURG: Ein Eurofighter hebt hier am 7. Juli 2008 ab. Das JG 74 in Neuburg erhielt als erstes Einsatzgeschwader den Eurofighter. Foto: picture-alliance/dpa HAMMELBURG: Die Bundeswehr „schmiedet“ an diesem Ort ihre zukünftigen Infanteristen. Foto: picture-alliance/dpa
der Von-Hardenberg-Kaserne. Nach dem Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee benutzt, gerieten die Gebäude nach dem Abzug der sowjetischen Truppen in Vergessenheit. Erst nach 1990 griff die Bundeswehr auf die leerstehenden Anlagen zurück. Neben dem Heereskommando sind in Strausberg auch zahlreiche kleinere Dienststellen beheimatet. Anstelle von 2.300 umfasst der Dienstort künftig nur noch 1.060 Stellen.
„Blackborn City“ Hessen bietet nur wenigen größeren Bundeswehrstandorten Platz. Eine Ausnahme stellt das 1.000-Seelen-Örtchen Schwarzenborn dar – im Jargon gerne auch „Blackborn City“ genannt. In der dortigen Knüll-Kaserne ist das Jägerbataillon 1 beheimatet. Ein dazugehöriger Truppenübungsplatz, wo schon vor 1914 Kaisermanöver stattfanden und auch die Artillerie ihr Handwerk erlernte, fiel ebenfalls der Bundeswehrreform zum Opfer und ist heute geschlossen. Am Beispiel Schwarzenborns lässt sich die Bedeutung der Bundeswehr als regionaler Arbeitgeber und Wirtschaftsfaktor eindrucksvoll belegen. So beherbergt der Ort mehr Soldaten (etwa 1.200) als Einwohner. Eine enge Patenschaft
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mit der Bundeswehr pflegt die Gemeinde bereits seit 1976, als Schwarzenborn auch offiziell zum Bundeswehrstandort avancierte. Das Kampfhubschrauberregiment 36 ist im hessischen Fritzlar beheimatet. Als eines von zwei Regimentern dieser Art bei der Bundeswehr verfügt es über Helis vom Typ Eurocopter Tiger. Der etwa 1.400 Soldaten umfassende Verband des Heeres ist auf einem der traditionsreichsten und auch ältesten Heeresflugplätzen Deutschlands stationiert. Die Luftwaffe des Dritten Reichs begann bereits 1935 mit dem Bau der Anlage. Von 1941 bis 1944 fungierte der Fliegerhorst als Produktionsstätte der Dessauer Flugzeug- und Motorenwerke AG. Zahlreiche Zwangsarbeiter mussten ebenfalls auf dem Gelände arbeiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte vor allem die US-Luftwaffe den Fliegerhorst Fritzlar, beispielsweise während der Berliner Luftbrücke der Jahre 1948/49. Von 1951 bis 1956
quartierte sich das französische 5. HusarenRegiment hier ein, sodass der Fliegerhorst für einige Jahre seine Bedeutung als Luftwaffenstützpunkt verlor. Mit der Übernahme des Areals durch die Bundeswehr begann das deutsche Heer ab dem Jahr 1956 damit, einen Heeresflugplatz einzurichten.
„Wasserratten“ für Meck-Pomm Das Panzergrenadierbataillon 401 bezieht seine Unterkunft im 11.000 Einwohner-Städtchen Hagenow. Dort sind die Soldaten seit 1991 in der Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne untergebracht. Neben Einsätzen im Kosovo oder in Afghanistan erreichte das Panzergrenadierbataillon des Ortes vor allem durch seine Einsätze während des Elbhochwassers im Jahr 2002 Bekanntheit. Weit höhere Bedeutung hat das Land Mecklenburg-Vorpommern aber für die deutsche Marine. So bildet der Standort Rostock den Heimathafen des 1. Korvettengeschwaders sowie des 7. Schnellbootgeschwaders und umfasst heute etwa 2.200 Dienststellen. Die im Marinestützpunkt Warnemünde untergebrachten Einheiten umGEDRILLT: Ein Panzergrenadier-Rekrut in voller Montur in Schwarzenborn. Foto: picture-alliance/dpa/dpaweb
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Standorte
DORNSTADT: Auch die Rommel-Kaserne bei Ulm trägt den Namen des deutFoto: picture-alliance/dpa schen Generalfeldmarschalls.
AUGUSTDORF: Beherzt greift dieser Obergefreite der Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne im April 2005 in der BundeswehrKantine zu – Mahlzeit! Foto: picture-alliance/dpa/dpaweb
fassen fünf Korvetten der 130er-Klasse und acht Schnellboote der Gepard-Klasse. Während der beiden Weltkriege war der im Rostocker Stadtteil „Hohe Düne“ gelegene Hafen eher von untergeordneter Bedeutung. 1913 richtete die kaiserliche Marine hier das „Seeflugversuchskommando“ ein. Im Zweiten Weltkrieg diente der Hafen kleineren Flottillen als Stützpunkt. Auch die DDR nutzte die Anlagen ab den 1960er-Jahren nur für kleinere Einheiten. Seit 1991 ist die deutsche Marine Eigentümerin der Anlagen.
„Leo-Gehege“ Niedersachsen Den viertgrößten Standort der Bundeswehr und den größten des Heeres bildet das niedersächsische Munster. Hier sind vor allem wesentliche Teile der deutschen Panzertruppe stationiert. Die Garnison umfasst nach der Reform 5.270 Dienststellen und beeinflusst damit das Leben der kleinen Stadt maßgeblich. Soldaten sind innerhalb des Ortes ein vertrauter Anblick. Bereits während des Ersten Weltkriegs nutzte man das Areal militärisch – und zwar, um chemische Kampfstoffe zu erproben. Noch heute hat Munster mit den Altlasten aus der Zeit der Weltkriege zu kämpfen.
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In der Freiherr-von-Boeselager-Kaserne, der Schulz-Lutz-Kaserne und der HindenburgKaserne finden zurzeit das Panzer-Lehrbataillon 93, das Panzergrenadier-Lehrbataillon 92, das Panzerartillerie-Lehrbataillon 325 und zahlreiche weitere Verbände Platz. Auch ein Artillerie-Lehrverband ist hier untergebracht. Munster ist zudem Sitz des „Ausbildungszentrums Panzertruppen“. Den wichtigsten Stützpunkt der deutschen Marine beheimatet die niedersächsische Stadt Wilhelmshaven. Mit über 8.500 Dienststellen stellt sie einen den größten Kriegshäfen Europas dar. Vor Ort sind das 2. und das 4. Fregattengeschwader, die Einsatzflottille 2 und das Marineunterstützungskommando stationiert. Bereits in der
Literaturtipps Bundesministerium für Verteidigung: Die Stationierung der Bundeswehr in Deutschland Oktober 2011. Bonn 2011 Müller, Laura: Bundeswehrreform und Konversion. Nutzungsplanung in betroffenen Gemeinden. Wiesbaden 2014
Kaiserzeit spielte Wilhelmshaven beim Aufbau der deutschen Marine eine zentrale Rolle. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Stadt und Hafen das Ziel von über 100 alliierten Luftangriffen. 1956 kehrte die bewaffnete Macht nach Wilhelmshaven zurück. Innerhalb von nur 15 Jahren avancierte die Bundeswehr zu einem der größten Arbeitgeber der Region. Den im Vorhafen errichteten Stützpunkt im Stadtteil Heppenser Groden weihte man 1968 ein. Ein wichtiger Standort der Luftwaffe ist der Fliegerhorst Wittmundhafen bei Wittmund. Der Horst erhielt diesen Namen, da er lange Zeit von der deutschen Marinefliegerei betrieben wurde. Er beheimatet die Taktische Luftwaffengruppe „Richthofen“. Bereits 1911 begann das deutsche Heer mit dem Bau eines Luftschiffhafens vor Ort. Seit 1917 befasste sich hier die deutsche Marine mit der Fliegerei. Während des Ersten Weltkrieges diente Wittmund als Hafen zahlreicher deutscher Luftschiffe. Erst 1938 ging der Stützpunkt an die deutsche Luftwaffe über, die das Gelände systematisch ausbaute. Durch alliierte Flieger 1945 weitestgehend zerstört, bauten englische Streitkräfte den Flugplatz 1950 wieder auf. Seit 1963 ist er Stützpunkt des alten Jagdgeschwaders „Richthofen“.
Nordrhein-Westfalen Nach Anzahl der Soldaten bildet die Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne die größte Kaserne Deutschlands. Die im westfäli-
Atomwaffen in Rheinland-Pfalz
„Unsere Gesellschaft hat aus vielerlei Gründen ein hohes und verständliches Interesse daran, dass unsere Bundeswehr in ganz Deutschland präsent bleibt.“ Thomas de Maizière zum Stationierungskonzept der Bundeswehr 2011
schen Augustdorf beheimatete Garnison beherbergt heute Teile der Panzerbrigade 21, auch „Lipperland-Brigade“ genannt. Nach der Bundeswehrreform umfasst der Standort jedoch lediglich noch 2.500 statt 4.000 Dienststellen. Die Rommel-Kaserne entstand 1937 in der Nähe des ortsansässigen Truppenübungsplatzes, auf dem vor allem Landwehreinheiten der Stadt Münster übten. Bereits im 19. Jahrhundert kam Augustdorf daher mit dem Militär in Berührung. Beim Vormarsch der Amerikaner im April 1945 kam es nahe des Ortes zu heftigen Gefechten. Nach dem Krieg vor allem als Auffanglager für „Displaced Persons“ benutzt, zog die Bundeswehr ab 1957 in die Gebäude ein. Deutschlands viertgrößte Stadt Köln beherbergt nach der Bundeswehrreform über 5.700 Soldaten der Bundeswehr, darunter vor allem wichtige Ämter der Luftwaffe wie das „Kommando Einsatzverbände Luftwaffe“. Ein Großteil der Soldaten ist dabei in der Luftwaffenkaserne Wahn untergebracht, die die Bundeswehr seit 1957 nutzt. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte die Garnison vor allem als Standort der deutschen Artillerie fungiert; erst die Wehrmacht legte einen Flieger-
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horst an. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte die britische Royal Airforce das Gelände, auf dem während des Krieges russische Kriegsgefangene und anschließend deutsche Flüchtlinge einquartiert waren.
Rheinland-Pfalz Im pfälzischen Büchel ist das etwa 1.900 Soldaten umfassende Taktische Luftwaffengeschwader 33 stationiert, das bis 2013 den Namen Jagdbombergeschwader 33 trug. Die französische Luftwaffe errichtete den Fliegerhorst in den Jahren 1954/55 und übergab ihn 1955 an die Bundeswehr. Büchel gilt als der einzige Standort amerikanischer Atomwaffen in Deutschland. Wahrscheinlich lagern in den Bunkern der US-Basis etwa 20 Atomsprengköpfe. Der Ort ist daher wiederholt das Ziel von Friedensaktivisten und Demonstranten. In vier Kasernenkomplexen ist die Bundeswehr in Koblenz stationiert. Etwa 7.100 Dienststellen umfasst der Standort nach der Reform und ist damit der wichtigste in Rheinland-Pfalz. In der Zeit der Weltkriege befanden sich auf dem Gebiet der Stadt sogar bis zu 16 Kasernen. Eine der ältesten ist die Rhein-Kaserne, die noch vor dem Ersten
KIEL: Angehörige der algerischen Fregatte LA SOUMMAM statten der Bundeswehr am 20. Juni 2004 anlässlich der Kieler Woche einen Besuch ab. Foto: picture-alliance/dpa
Weltkrieg auf dem Areal der Koblenzer Festung erbaut wurde. Nachdem sich die französische Armee dort für zwölf Jahre eingerichtet hatte, quartierte sich schließlich 1957 die Bundeswehr hier ein. In Koblenz selbst befinden sich heute mehrere Ämter der Bundeswehr, ein Dienstleistungszentrum, ein Krankenhaus und eine Fachschule.
Heimat der U-Boote Die holsteinische Stadt Eckernförde ist heute der Heimathafen der deutschen U-Boote. Alle vier Boote der Klasse 212 A der deutschen Marine sind im Marinestützpunkt der Stadt untergebracht. Die Führung stellte das 1. U-Boot-Geschwader bereits 1961 in Kiel auf und überführte es später nach Eckernförde. Derzeit sind dort 2.300 Soldaten stationiert. Ein weiterer wichtiger Marinestützpunkt ist in der holsteinischen Landeshauptstadt Kiel beheimatet. Nach Abschluss der Bundeswehrreform sind innerhalb der Stadt nur noch 3.600 Soldaten zu finden, während zuvor 5.300 dort ihren Dienst versahen. Von der Reform war auch das 5. Minensuchgeschwader betroffen, das die Bundeswehr auflöste. Seitdem ist Kiel nur noch der Heimathafen des 3. Minensuchgeschwaders. ■ Lukas Grawe, M.A., Jahrgang 1985, Historiker aus Münster.
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Technik
Panzer, Flugzeuge und Schiffe
KAMPFSTARK: Die deutsche Rüstungsindustrie benötigte nach dem Zweiten Weltkrieg einige Zeit, ehe sie richtig anlief. Dann aber schuf sie herausragende Waffensysteme wie den Leopard 2.
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Fotos, soweit nicht anders angegeben, Bundeswehr
Mit der „Stunde null“ musste auch die deutsche Rüstungsindustrie noch einmal fast von vorne beginnen. War sie in der Lage, die neuen deutschen Streitkräfte mit moderVon Thomas Anderson nem Gerät zu versorgen?
WEGWEISEND: Beim Leopard 1 wurde auf eine starke Panzerung zugunsten hoher Beweglichkeit verzichtet. Dieses Fahrzeug ist mit einem Infrarot-Zielscheinwerfer ausgestattet.
FEUERSTARK: Ein Gepard im scharfen Schuss. Das Waffensystem dient zur Bekämpfung von Tieffliegern und Hubschraubern.
HOCHMODERN: Die Boote der Klasse 212 A sind mit ihrem Brennstoffzellen-Antrieb die modernsten, nicht-nuklear betriebenen U-Boote der Welt. Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb
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Technik
men, mit dem sie beschlossen, einen gemeinsamen Standardpanzer zu entwickeln. 1958 trat dann auch Italien diesem Vertrag bei. Auf deutscher Seite waren drei Firmen in eigenständigen Arbeitsgruppen beteiligt, von den Franzosen eine.
Leo lernt fauchen
N
ur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich die internationale Lage grundlegend verändert. Aus den ehemaligen Verbündeten USA und Sowjetunion waren Rivalen und Gegner geworden. Die Linie zwischen den neuen Machtblöcken verlief mitten durch Deutschland. Amerika als westliche Führungsmacht war nun bestrebt, seine Alliierten in Westeuropa aufzurüsten. Als die Bundeswehr 1955 entstand, schuf Westdeutschland auch die Grundlagen für eine neue Rüstungsindustrie. Zwar haben Bombenkrieg und Demontage diese weitgehend zerstört, das technische Wissen sowie gut ausgebildete Ingenieure und Facharbeiter waren jedoch noch vorhanden. Ziemlich weit oben auf der Wunschliste des Heeres stand ein neuer Panzer. Doch ehe die Deutschen und ihre europäischen Partner einen modernen Typ entwickelt hatten, musste die junge bundesdeutsche Armee mit vorhandenem und möglichst billigem Gerät vorlieb nehmen. Ab 1951 führten US Army und Marines einen weiterentwickelten M46 ein. Der mittlere M47 war im Vergleich zu seinem Vorgänger nun kein großer Wurf und so verließen zirka 9.000 Stück lediglich als Übergangslösung die Werke. Um jedoch dem modernen T-54 etwas entgegensetzen zu können, gab die US-Regierung einen neuen Kampfpanzer in Auftrag: den M48, der bereits 1955 den M47 ablöste. Nach und nach gab die amerikanische Regierung daher große Mengen des M47 für den Export frei. Das durch den Krieg immer noch geschwächte Europa musste sich mithilfe der
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USA aufrüsten. So erhielt die deutsche Panzerwaffe bis 1957 insgesamt 1.000 M47. Da der Bedarf der Bundeswehr jedoch größer ausfiel, lieferten die Amerikaner ab Ende der 1950er-Jahre auch M48 an die Deutschen aus. Rund 1.700 Fahrzeuge dieses Typs stärkten die Panzer-Bataillone der jungen Republik. Die 90-mm-Kanone der M47 und M48 war bereits zur Zeit, als die Amerikaner sie einführten, am Ende ihrer Möglichkeiten und die taktische Beweglichkeit der Panzer war allenfalls ausreichend. Über beide Typen konnten die Deutschen nur die Nase rümpfen, denn ihren Vorstellungen eines modernen Tanks entsprachen sie kaum. Immerhin konnte die Industrie den Kampfwert des M48 durch eine 105-mm-Kanone und eine verbesserte Feuerleitanlage steigern. Als M48 A2 GA2 sollte der Panzer bis in die 1990er-Jahre hinein gute Dienste leisten. Schon 1957 unterzeichneten Frankreich und die Bundesrepublik ein Militärabkom-
Deutschland hatte eine große Tradition im Panzerbau, der Panther gilt bei vielen bis heute als bester Kampfwagen des Zweiten Weltkrieges. Der neue Standardpanzer sollte eine noch fortschrittlichere Auslegung zeigen. Das Modell basierte am Ende jedoch mehr auf den Erfahrungen der Nachkriegszeit und dem allgemeinen technischen Fortschritt als auf seinem berühmten Vorgänger. Der Dienstherr schrieb dem neuen Tank bemerkenswerte technische Leistungsdaten ins Lastenheft. So forderte er bei einem Gefechtsgewicht von 30 Tonnen ein Leistungsgewicht von 30 PS pro Tonne. Die Höchstgeschwindigkeit sollte deutlich über 60 km/h liegen und als Hauptbewaffnung sah man ein 105-mm-Geschütz vor. Der Name dieses ambitionierten Fahrzeuges lautete „Leopard“. Bei den Vergleichstests gerieten sich Deutsche und Franzosen jedoch gewaltig in die Haare. Zu unterschiedlich waren die Auffassungen, sodass man fortan getrennte Wege ging. Es zeigte sich jedoch, dass die Ingenieure die Vorgaben nicht so ohne Weiteres umsetzen konnten. Das Produktionsmodell des Leopard etwa übertraf mit einem Gefechtsgewicht von 39 Tonnen die angepeilte Grenze um satte zehn Tonnen – obwohl man die Panzerung bewusst niedrig gehalten hatte.
Der Leopard-Panzer entsteht
INFO
Technische Daten Typ
Leopard 1A1
Leopard 2A5
Bewaffnung Munitionsvorrat Besatzung Panzerung
105 mm, MG3 60 Granaten 4 frontal 70 mm konventionell 42,5 t 830 PS 65 km/h ca. 20 PS/t 250–560 km
120 mm, MG3 42 Granaten 4 Kompositpanzerung
Gewicht Motorleistung Höchstgeschwindigkeit Leistungsgewicht Reichweite
Da die damals verfügbaren Hohlladungsgeschosse jede herkömmliche Panzerung unabhängig von der Entfernung sicher durchschlugen (die 100-mm-Kanone des T-55 knackte theoretisch sogar einen 390 Millimeter starken Schutz), war in den 1960er-Jahren eine hohe Panzerung herkömmlicher Bauart nicht zu rechtfertigen. Letztendlich kam diese Entscheidung der Beweglichkeit des Leopards zugute. Der Leopard wurde durch ein Dieselaggregat mit einer Leistung von 830 PS angetrieben. Anders als beim Panther saß der Motor hinten im Heck. Die Ingenieure hatten ihn zu einem leistungsfähigen Triebwerksblock zusammengefasst, was seit Langem der internationale Standard war. Denn so fanden die Antriebskomponenten sicher im Heck Platz, während Getriebe und Lenkbremsen für Wartung und Reparatur gut zugänglich blieben.
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62 t 1.500 PS 72 km/h ca. 24 PS/t 160–500 km
Hinsichtlich der Kanone entschied sich der Hersteller für die britische, 105 Millimeter starke L7, ein Geschütz von bemerkenswerter Qualität und ebensolchen Leistungsdaten. Auch die Vereinigten Staaten übernahmen bald die L7, die ihrer Panzerwaffe eine deutliche Überlegenheit gegenüber der russischen 100-mm-Kanone des T-54 und T-55 sicherte. Aufgrund seiner bemerkenswerten Beweglichkeit und Zuverlässigkeit und nicht zuletzt dank der Feuerkraft der L7 setzte der Leopard in den 1960er-Jahren neue Standards als Hauptkampfpanzer. So nimmt es nicht Wunder, dass man das Fahrgestell des Leopard nutzte, um eine Reihe gepanzerter Unterstützungsfahrzeuge zu entwickeln. Dazu gehörte etwa der Bergepanzer 2, der die Aufgabe hatte, ausgefallene Leopard zu bergen. Mithilfe eines Drehkrans konnten die Mechaniker ganze Triebwerksblöcke
DER JÜNGSTE: Der Leopard 2A7 ist die am weitesten entwickelte Variante der Bundeswehr. Nach und nach sollen ältere Baulose auf diesen Stand umgerüstet werden.
schnell austauschen. Der Brückenlegepanzer Biber entstand um 1968. Er ist in der Lage, im kurzer Zeit (unter zehn Minuten) eine Brücke über Wasserhindernisse von bis zu 20 Meter auszulegen.
Ein regelrechter „Zoo“ Zur Leopard-Familie gehörte auch der Flakpanzer Gepard, der als mobile, gepanzerte Tiefflieger-Abwehrwaffe diente und der ein Doppelradar nutzte, um das Feuer der beiden 35-mm-Schnellfeuerkanonen zu leiten. Der Gepard war bis in 1990er-Jahre weltweit das leistungsfähigste Allwetter-Flugabwehrsystem. Die Industrie konnte den Kampfpanzer Leopard aufgrund seiner Konzeption den sich ständig ändernden, technisch-taktischen Forderungen durchaus anpassen. Bis in die 1980er-Jahre verbesserte man beispielsweise die Feuerleitanlage sowie die Funkeinrichtung und rüstete den Panzerschutz nach. Doch noch während der Leopard in die Produktion ging, überlegte man, gemeinsam mit den USA einen überlegenen Haupt-
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Technik
INFO
Technische Daten Typ
Marder 1A3
Puma (nur Anhalt)
Bewaffnung Munitionsvorrat Besatzung Panzerung
20 mm, MG3, PAW Milan – 3+6 Schutz gegen 20 mm frontal
Gewicht Motorleistung Höchstgeschwindigkeit Leistungsgewicht Reichweite
33,5 t 600 PS 65 km/h ca. 18 PS/t 200–500 km
30 mm, MG4, PAW Spike – 3+6 Schutz gegen 30 mm frontal, modularer Zusatzpanzer ca. 31 t > 1.000 PS > 65 km/h > 30 PS/t –
kampfpanzer (MBT-70) zu entwickeln. Ende der 1960er-Jahre verliefen allerdings auch diese Pläne im Sande, sodass Westdeutschland begann, in Eigenregie an einem neuen Panzer zu arbeiten, der den Leopard ablösen und dabei natürlich die gewonnenen Erfahrungen nutzen sollte. 1979 liefen schließlich die ersten Fahrzeuge der Truppe zu. Der Name: Leopard 2. Dieser stellte keine Weiterentwicklung seines Vorgängers, sondern ein komplett neues Waffensystem dar. Besonderes Augenmerk hatte man darauf gelegt, die Panzerung zu verstärken. Sowohl Wannen- als auch Turmfront weisen dank hochentwickelter Verbundwerkstoffe ein ungewöhnlich hohes Schutzniveau gegen Wucht- und Hohlladungsgeschosse auf. In der Erprobungsphase testete man verschiedene Geschütze. Neben der verbesserten 105-mm-L7-Kanone, die etwa der frisch entwickelte amerikanische M1 Abrams nutz-
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te, erprobten die Hersteller auch stärkere Kaliber. So entwarf die deutsche Seite ein 120-mm-Glattrohrgeschütz, das neue Standards setzte. Aufgrund der sehr guten Leistungen erwarben die Amerikaner bereits 1984 das Recht, dieses hervorragende Geschütz in Lizenz zu fertigen.
Der Marder – ein „Pfundskerl“ Die stärkere Panzerung hatte jedoch ihren Preis. Gegenüber dem Leopard 1A1 (42,5 Tonnen) wuchs das Gewicht des Leopard 2 um gute 20 auf 62 Tonnen. Zum Vergleich: Der M1A1 bringt ebenfalls 62 Tonnen auf die Waage, der russische T-80 aufgrund einer anderen Philosophie nur 46 Tonnen. Der Antrieb des Leopard 2 musste dem freilich Rechnung tragen, weshalb der Panzer einen Vielstoff-Diesel erhielt, der starke 1.500 PS leistete. Das Leistungsgewicht fiel mit 24,5 PS pro Tonne auch deutlich besser aus als beim Leopard 1, der nur auf 20 PS pro Tonne kam.
NOCH IMMER IM DIENST: Die Bundeswehr führte den Marder 1A5 aufgrund geänderter Einsatzgrundsätze ein. Das Fahrzeug erhielt eine zusätzliche, optimierte Panzerung, um den Schutz gegen Minen zu verbessern. Weitere Modifikationen führten zu einem Anstieg des Gewichts. In dieser Auslegung sollten sich die Marder in Auslandseinsätzen bewähren, so wie hier im brandgefährlichen Afghanistan.
Seitdem Deutschland den Leopard 2 im Arsenal hatte, steigerte der Hersteller dessen Kampfwert verschiedene Male. So verbesserten die Ingenieure unter anderem den Panzerschutz und die Feuerleitung. Die vielleicht am weitesten entwickelte Variante ist das Exportmodell Stridsvagn 122, das an Schweden ging. Gegenüber dem Grundmodell Leopard 2A1 konnte der Panzerschutz dieses Modells fast verdoppelt werden. Der schwedische »Leo« besitzt dank einer kaliberlängeren Kanone (L/55) auch eine größere Feuerkraft als der von der Bundeswehr genutzte 2A6. Auch auf Basis des Leopard 2 entstanden Spezialfahrzeuge. Dazu gehört etwa der Bergepanzer Büffel, der gegenüber dem Bergepanzer 2 eine deutlich stärkere Leistung zeigt, um dem gestiegenen Kampfgewicht des Leopard 2 Rechnung zu tragen. Des Weiteren entwickelte man den Pionierpanzer Kodiak sowie ein Brückenlegefahrzeug.
Transporter für die Infanterie
Der Zweite Weltkrieg bewies, dass es notwendig war, Panzergrenadiere oder MotSchützen, wie deren Pendant im Osten genannt wurde, mit gepanzerten Transportund Kampffahrzeugen auszustatten. Die Bundeswehr forderte schon sehr früh einen Schützenpanzer, der einer Grenadiergruppe auch als Gefechtsplattform dienen konnte.
Wie „geschmiert“
MODERNISIERT: Ende der 1990er-Jahre befanden sich alle Marder auf des Stand 1A3.
Zunächst nutzte die Bundeswehr den amerikanischen M39, ein oben offenes Transportfahrzeug. In den 1960er-Jahren folgte dann der von Hispano Suiza entworfene und in England produzierte HS 30. Dieses leichte Gefährt trug eine 20-mm-Kanone in einem kleinen Drehturm. Allerdings flossen bereits bei der Auftragsvergabe Schmiergelder und technisch konnte der HS 30 die Truppe nicht überzeugen. Keine zehn Jahre später musterte man daher die Masse der Fahrzeuge aus. Mitte der 1960er-Jahre stellte die sowjetische Armee das erste echte InfanterieKampffahrzeug in Dienst. Der BMP konnte deutlich mehr als die damals im Westen verfügbaren Typen. Das Konzept erlaubte den Transport von acht Soldaten unter Panzerschutz (auch in kontaminiertem Umfeld). Obendrein konnten die Mot-Schützen aus den geöffneten Dachluken heraus feuern oder dank Kugelblenden vom vollständig geschlossenen Kampfraum das Gefecht aufnehmen. Die Gruppe konnte den BMP zudem hinten verlassen – ein deutlicher Vorteil gegenüber früheren Lösungen. Der BMP verfügte über einen Drehturm mit einer 73-mm-Waffe, dessen Splittergeschosse die Mot-Schützen wirkungsvoll unterstützten, während es Hohlladungsge-
schosse möglich machten, auch gegen gepanzerte Fahrzeuge anzutreten. Zusätzlich montierten die Sowjets auf dem Turm eine drahtgelenkte Panzerabwehr-Lenkrakete, mit der die Rotarmisten feindliche Kampfpanzer auch über größere Entfernungen bekämpfen konnten. Etwa zeitgleich arbeitete man auch in der Bundesrepublik an einem neuen Schützenpanzer. Das Fahrzeug sollte eine hohe Geländegängigkeit haben, um dem Leopard im Gelände sicher folgen zu können. Getriebe und Antrieb ordneten die Ingenieure vorne an, sodass eine Gruppe von sieben Panzergrenadieren den hinteren Transportraum leicht und gefahrlos verlassen konnte. Der Marder hatte ein Gefechtsgewicht von 33 Tonnen – mehr als doppelt so schwer als sein russischer Gegenpart. Ein Dieselmotor von 600 PS sorgte für ein gutes Leistungsgewicht von 18 PS pro Tonne. Das Fahrzeug trug einen Zwei-Mann-Turm mit einer scheitellafettierten 20-mm-Kanone, die allerdings nicht in der Lage war, Kampfpanzer zu bekämpfen. 1971 liefen die ersten Marder genannten Fahrzeuge der Truppe zu. Der Gesamtauftrag umfasste gut 2.000 Exemplare.
INFO
Ein direkter Vergleich zum BMP fällt schwer, zu unterschiedlich sind die Grundkonzepte. Der russische Schützenpanzer war äußerst flach und theoretisch besser bewaffnet, der Marder besaß deutlich mehr Platz und eine bessere Ergonomie für Besatzung und Panzergrenadiere. Schon bald steigerte der Hersteller den Kampfwert des Marder. So erhielten ab 1977 alle Fahrzeuge die drahtgelenkte Panzerabwehrrakete Milan, die es erlaubte, Tanks mit Komposit- und Reaktivpanzerung auf Entfernungen von bis zu 3.000 Metern (Milan ER) abzuschießen. Ein Wärmebildgerät ermöglichte später den Einsatz des Schützenpanzers bei jedem Wetter und bei Nacht. Der Marder ist mit seinen aktuellen Baulosen noch immer im Dienst, da der geplante Ersatz noch nicht beschafft werden konnte. Die Einsatzerfahrung auf dem Balkan nach Ende des Kosovo-Krieges und in Afghanistan waren im Übrigen durchweg positiv. Ursprünglich wollte der Dienstherr bereits in den 1990er-Jahren das bewährte Fahrzeug durch eine Neukonstruktion ersetzen. Der Marder 2 war durchkonstruiert und zukunftsweisend. So war es bei ihm möglich, die Hauptbewaffnung schnell auszuwech-
Technische Daten Typ
Panzerhaubitze 2000
Bewaffnung Munitionsvorrat Besatzung Panzerung Gewicht Motorleistung Höchstgeschwindigkeit Leistungsgewicht Reichweite
155-mm-Haubitze 60 Granaten 3–5 Schutz gegen Splitter und schweres MG 49–58 t 1.000 PS 60 km/h 17–20 PS/t 250–420 km
Clausewitz Spezial
NEUER MASSSTAB: Mit Einführung der Panzerhaubitze 2000 sollte die deutsche Panzerartillerie eine sehr leistungsstarke Waffe erhalten.
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Technik
NACHFOLGER DER F-104: Der Tornado stärkte die Schlagkraft erheblich, hier ist der Prototyp 08 zu sehen. Foto: picture-alliance/United Archives/TopFoto
seln, um sich verändernden Bedrohungslagen gerecht zu werden. Deutschland brach das Projekt nach der Wiedervereinigung jedoch aus politischen Gründen ab. Es sollte Jahre dauern, bis man die Arbeit am neuen Schützenpanzer wieder aufnahm – allerdings mit anderen Anforderungen. So lag die Priorität nun auf der Fähigkeit, das Fahrzeug per Lufttransport zu verlegen. Außerdem durfte es nicht mehr als 32 Tonnen auf die Waage bringen.
Der Puma kommt Da der neue Schützenpanzer jedoch ein ähnlich hohes Schutzniveau wie der Kampfpanzer aufweisen sollte, ergab sich ein nicht ganz leicht zu lösender Konflikt. Die Antwort war ein modulares Schutzkonzept. In der Grundkonfiguration A kann das Puma genannte Fahrzeug mit dem neuen A400M transportiert werden. Seine Frontpanzerung schützt die Besatzung vor 30-mm-Waffen und Panzerfäusten. In der Gefechtskonfiguration C werden Module angebracht, die den Schutz auch auf Seite und Heck erweitern und vor Minen und Sprengfallen schützen. Die Besatzung besteht aus drei Soldaten zuzüglich eines sechs Mann großen Schützentrupps. Die Beweglichkeit des Puma ist dank eines mehr als 1.000 PS starken Dieselmotors auf einem unerreichten Niveau. Das Fahrgestell ist geeignet, um auf dieser Basis später Berge- oder Flakpanzer zu entwickeln. Der Bedarf der Bundeswehr beträgt mehr als 400 Puma, die im Laufe der nächsten Jahre angeschafft werden. Die Industrie hofft auf Folgeaufträge, doch steht zu befürchten,
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dass der exorbitant hohe Systempreis von mehr als acht Millionen Euro den Kreis der Interessenten eingrenzen wird. So fortschrittlich Tanks und Schützenpanzer auch sein mögen – ohne Artillerie geht es auch heute nicht, allerdings muss diese ebenso beweglich sein. Deutschland führte 1943 als erstes Land gepanzerte Selbstfahrlafetten ein. Diese Panzerhaubitzen waren mit 10,5- und 15-cm-Haubitzen bewaffnet, oben offen und boten Schutz gegen Infanteriewaffen und Splittergeschosse. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die ersten echten Panzerhaubitzen in den USA. Die in den 1960er-Jahren entwickelte M109 trug eine 155-mm-Haubitze in einem geschlossenen Drehturm und war damit zukunftsweisend. Auch die Bundeswehr beschaffte ab 1964 mehr als 500 Exemplare,
dessen Reichweite man später von 14,5 auf 18 Kilometer steigerte. Um 1980 modernisierten die Ingenieure die M109G, indem sie die Haubitze auf den US-Standard M109A3 anpassten und die Waffe durch die 155 Millimeter starke Feldhaubitze 70 ersetzten. Die M109A3GA kam dadurch auf eine deutlich höhere Schussweite (24,7 Kilometer). Ebenso wichtig war ein autonomer Feuerleitrechner, mit dem die Panzerhaubitze ihre Feuerstellung selbst einmaß, was zu einer deutlich schnelleren Feuerbereitschaft führte. In den 1990er-Jahren arbeitete man schließlich an einem Nachfolger. Das Lastenheft forderte unter anderem, die Führung des autonomen Feuerkampfes zu optimieren. Ebenso wünschte man sich eine größere Reichweite. Das neue Geschütz erhielt das Nato-Standardkaliber 155 Millimeter. Die
U-BOOT-SCHRECK: Mit den Fregatten der Bremen-Klasse modernisierte sich die Marine in den 1980er-Jahren. Hier ist die EMDEN zu sehen, dahinter die BREMEN. Foto: picture alliance/dpa
Fahrende Artillerie
Kaliberlänge aber (L/52, 8,10 Meter) übertrifft die der M109G (L/23, 3,6 Meter) um mehr als das Doppelte. Die Reichweite mit konventioneller Munition beträgt 30 Kilometer, reichweitengesteigerte Projektile können mehr als 56 Kilometer erreichen. Im Fahrzeug werden 60 Schuss Munition gebunkert. Ein automatisches Ladesystem ermöglicht eine sehr schnelle Schussfolge. Das Geschütz kann im Regelfall von drei Mann bedient werden. Neben dem Fahrer und Kommandanten ist nur noch ein Ladeschütze nötig. Fällt die Ladeautomatik aus, müssen zwei weitere Ladeschützen ran.
Das Beste vereint Das auf den Namen Panzerhaubitze 2000 getaufte Waffensystem nutzt Fahrwerkskomponenten beider deutscher Kampfpanzer. So dient der Motor des Leopard 1 als Antrieb, wobei die Leistung hier allerdings 1.000 PS beträgt. Das 55 Tonnen schwere Fahrzeug zeigt dadurch deutlich bessere Fahrleistungen als die M109G (23,5 Tonnen). Die Panzerhaubitze 2000 ist zum autonomen Feuerkampf fähig. Ein hoch entwickeltes Feuerleitsystem macht es nicht nur möglich, die Feuerstellung automatisch einzumessen. Es ersetzt obendrein die Feuerleitstelle, da das System auch die Schusswerte selbst errechnet. Es wäre interessant zu erfahren, wie „robust“ die EDV im harten Alltag ist. Denn bei Ausfall derselben sind natürlich wieder die alten Fertigkeiten gefragt. Im Unterschied zum Heer musste die Luftwaffe wesentlich länger mit US-Material vorlieb nehmen. So stand etwa die erfolgreiche und bei den Piloten äußerst beliebte Phantom II noch bis ins Jahr 2013 in deutschen Diensten. Dagegen suchte man bereits Ende der 1960er-Jahre nach einem Ersatz für den Starfighter. Deutschland wagte hier jedoch keinen Alleingang. Stattdessen entstand unter der Bezeichnung Panavia Aircraft GmbH ein deutsch-britisches-italienisches Konsortium, das schließlich den zweisitzigen Tornado als Lösung präsentierte. Bei diesem Mehrzweckkampfflugzeug handelt es sich um ein typisches Kind des Kalten Krieges, das darauf getrimmt war, gegen einen Feind anzutreten, der sowohl über eine sehr starke Luftabwehr als auch eine eigene große Luftmacht verfügte. Entsprechend fällt das tech-
Clausewitz Spezial
KRAFTPAKET: Die Transall C-160 erlangte vor allem durch ihre humanitären einsätze Bekanntheit. Hier ist eine C-160 im September 2014 zu sehen. Foto: picture alliance/dpa
nische Datenblatt aus: Bei einem Leergewicht von rund 14 Tonnen erreicht der Tornado eine Spitzengeschwindigkeit von 2337 km/h in einer Höhe von rund elf Kilometern. Auf Meereshöhe kommt er immerhin auf 1480 km/h. Die Steigrate beträgt 165 Meter die Sekunde. Je nach Variante kann er mit bis zu zwei 27-mm-Bordkanonen vom Typ MauserBK-27 ausgestattet werden. Die Auswahl der Raketen und Bomben hängt von der Einsatzart ab. Grundsätzlich ist der Tornado in der Lage, Seeziele, Radaranlagen Flugzeuge und Bodenziele zu bekämpfen. Indienstgestellt wurde er schließlich im Jahr 1980.
Bärenstarker Tranporter Ebenfalls als Gemeinschaftsprojekt, in diesem Fall waren Deutschland und Frankreich die Initiatoren, entstand die später berühmte Transall C-160. Auch dieser Maschine merkt man schnell an, dass sie vor dem Hintergrund eines möglichen Krieges mit dem Warschauer Pakt entstand. So beträgt ihre Reichweite bei einer Ladung von 14 Tonnen gerade einmal 1200 Kilometer – dass Deutschland dereinst mal „am Hindukusch verteidigt wird“, war Ende der 1950er-Jahre, als man das Lastenheft formulierte, noch nicht abzusehen. Die von zwei Rolls-Royce-Tyne-Mk.22 angetriebene Turboprop kommt auf eine Höchstgeschwindigkeit von 513 km/h. Sie kann eine Fracht von bis zu 16 Tonnen oder 93 Soldaten zuzüglich fünf Mann Besatzung transportieren. Nachfolger der Transall wird der Airbus A400M.
Im Gegensatz zu ihren Kameraden von Heer und Luftwaffe durften sich die Angehörigen der Marine schon relativ früh über genuin deutsches Material freuen. So liefen die ersten beiden Zerstörer der HamburgKlasse bereits 1960 vom Stapel. Die letzten zwei Schiffe dieser Klasse folgten 1962 beziehungsweise 1963. Mit einer Verdrängung von 4050 Tonnen gehörten sie zu den Schwergewichten der Marine. Ihre Aufgabe war es, im Kriegsfall Luft- und Seeziele (auch U-Boote) des Warschauer Paktes zu bekämpfen. Ferner konnten sie auch Minen legen. Die technische Entwicklung eilte diesem Muster jedoch rasch davon, sodass man es bereits in den 1970er-Jahren als veraltet betrachtete. Zu den neueren Modellen des Kalten Krieges gehören die acht Fregatten der Bremen-Klasse, die ab 1982 ihren Dienst antraten. Zwar hat man sie als Mehrzweckkampfschiffe konzipiert, doch galt ihre Hauptaufgabe der U-Boot-Abwehr. Der kombinierte Diesel-Gas-Antrieb leistet 51.666 PS und beschleunigt das Schiff auf bis zu 30 Knoten. Neben einem 76-mm-Geschütz und zwei 27-mm-Kanonen verfügen die Fregatten noch über verschiedene Abschussvorrichtung für Raketen und zwei Doppel-Torpedorohre. Auch zwei Bordhubschrauber gehören zum Arsenal der 219 Mann starken Besatzung. ■ Thomas Anderson ist Autor zahlreicher Sachbücher rund um das Thema Panzertechnik.
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Ausrüstung und Bekleidung
Die Uniformen und Handfeuerwaffen
US-Metall und Tradition Traditionelle deutsche Uniformen waren in Westdeutschland ein politisches „No go“ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit Entscheidungsklimmzügen suchte man nach einer neuen Optik für den „Staatsbürger in Von Jörg-M. Hormann Uniform“.
A
ls sich die Bonner Planer 1952 Gedanken über die einheitliche Uniform einer Europäischen-VerteidigungsGemeinschaft (EVG) machten, schien eines festzustehen: Feldgrau als Grundfarbe der Uniform und die bewährten Knobelbecher (Marschstiefel) durften ihrer Meinung nach auf keinen Fall mehr über Deutschlands Straßen marschieren. Khaki hieß die Farbformel für die EVG-Uniformen und alles sollte möglichst praktisch und schnörkelfrei sein. Somit verboten sich natürlich traditionelle und prägnant deutsche Elemente wie Schulterstücke oder Mützenkordeln der Offiziersmützen. Dieser Notwendigkeit verdankte die EVG-Uniform Schulterklappen, Ärmelstreifen und bestickte Mützenschirme, die angloamerikanischen Gepflogenheiten entsprachen. Dem Kampfanzug schenkte man besondere Aufmerksamkeit. In Schnitt und Farbe lehnte er sich weitgehend an das Vorbild des amerikanischen „battle-dress“ an. Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit standen hierbei im Fokus.
Amerikanische Vorbilder
SCHLICHT: Mitte der 1970er-Jahre avancierte der ursprüngliche Arbeitsanzug zum Kampfanzug, bevor die Tarnstoff-Ära begann. Foto: Sammlung Jörg-M. Hormann
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Teilweise waren die Anforderungen überzogen. So sollte der Stoff für den Kampfanzug nicht weniger als 14 Qualitäten aufweisen. Unter anderem hatte er leicht, waschecht, flammensicher, reißfest, lichtecht, luftdurchlässig und wasserdicht zu sein. Viele Taschen sollten den Rucksack oder Tornister möglichst ersetzen. Kleidsamkeit galt nicht, denn nur die Zweckmäßigkeit war gefragt. Einige
ERSTAUSSTATTUNG: Dieser M 1-Kunststoffhelm mit Stahlglocke gehörte zur frühsten Ausrüstung. Foto: Hermann Historica/JMH
der brauchbaren Ideen tauchen bei der späteren Bundeswehrausrüstung wieder auf. Nachdem sich alle europäischen Staaten und ihre Oberkommandos auf eine weitgehend einheitliche Uniformierung geeinigt hatten, machte Frankreich einen Strich durch die EVG-Rechnung. Ein befürchteter französischer Souveränitätsverlust führte am 30. August 1954 dazu, dass die französische Nationalversammlung den EVG-Vertrag ablehnte, obwohl alle anderen Staaten diesen bereits ratifiziert hatten. Die Bonner Planer standen deshalb jetzt vor der Aufgabe, eine deutsche Uniform für die neuen Streitkräfte zu entwickeln. Von dem einmal beschrittenen Weg, der von seiner politischen Gültigkeit durch die französische Entscheidung nichts eingebüßt hatte, konnte und wollte man sich nicht allzu weit entfernen.
IM VISIER: Maschinengewehre wie das MG1 gehörten lange zur Standardausstattung der Bundeswehr – ebenso wie die olivfarbenen Uniformen. Foto: Jürgen Joachim
Die Symbolik der geplanten Dienstgradabzeichen für die Europa-Armee zeigte das alliierte Übergewicht. Der Ursprung von Ärmelstreifen und Winkeln sowie die fünfzackigen Sterne sind eindeutig amerikanisch. Bei den Dienstgraden der späteren Bundeswehr behielt man zwar die Rangfolge bei, veränderte jedoch die Symbolik. So blieb zum Beispiel der traditionelle vierzackige Offiziersstern auf den Schulterklappen erhalten. Mit dem Brigadegeneral, den die Wehrmacht nicht kannte, gab es einen zusätzlichen, international gebräuchlichen Dienstgrad bei den Generalen. Die Dienstgradkette bei den Teilstreitkräften Heer und Luftwaffe der Bundeswehr lautete ab 1956: Generalleutnant, Generalmajor, Brigadegeneral, Oberst, Oberstleutnant, Major, Hauptmann, Oberleutnant, Leutnant, Oberstabsfeldwebel, Stabsfeldwebel, Oberfeldwebel, Feldwebel, Stabsunteroffizier, Unteroffizier, Hauptgefreiter, Obergefreiter, Gefreiter.
Schiefergrau statt feldgrau Die „schiefergraue“ Grundfarbe der neuen Waffenröcke und der fast vollständige Mangel auffälliger Ausschmückteile, wie sie an den Wehrmachtsuniformen „blitzten“, führte zu dem Urteil, dass die neue Armee mit der Tradition völlig gebrochen habe. Doch einigen Uniformteilen merkte man an, dass das „Heer der Wehrmacht“ der Vorgänger war. Für den Dienstanzug führten die Verantwortlichen eine zweireihige Dienstbluse mit konisch spitz zulaufenden Schulterklappen ein,
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die die Unteroffiziere und Mannschaften auch als Teil des Ausgehanzuges trugen. Diese Bluse erinnerte in ihrem Schnitt sehr stark an die bekannte Sonderbekleidung für Soldaten der Panzertruppe und Sturmartillerie des Zweiten Weltkrieges. Die Bundeswehrangehörigen nannten sie im Jargon auch „Affenjacke“. Weitere Ähnlichkeiten sind beim Ausgehrock der Offiziere und gehobenen Unteroffiziere zu entdecken.
Nicht ganz ohne Tradition Der kleine Rock für Generale der Luftwaffe von 1935 bis 1945 kann ohne Weiteres mit dem Bundeswehrrock verwechselt werden. Der neue Rock für Heer und Luftwaffe von 1957 machte den Zusammenhang zur alten Luftwaffenuniform deutlich. Statt EVG-Khaki bekam der Arbeitsanzug des Bundeswehrheeres, der in den 1970er-Jahren zum Kampfanzug avancierte, die Farbe NATO-Oliv verpasst. Beim Schnitt verfuhr man nicht so rigoros wie bei den Ausschmückungen mit Dienstgrad- und amerikanisch orientierten Truppengattungsabzeichen auf den Kragenecken. Denen folgten allerdings sehr schnell die preußischen Kragenspiegel in Litzenform auf truppenfarbigem Untergrund.
An dem, was sie auf dem Kopf tragen, waren und sind zu allen Zeiten Soldaten zu identifizieren. Somit sind Kopfbedeckungen mit den entsprechenden Abzeichen vorrangiges Erkennungsmerkmal. Hierzu ein kurzer historischer Exkurs: Direkt nach dem Ersten Weltkrieg wurde es, ausgehend vom Freikorps von Hindenburg, üblich, einen Eichenlaubkranz um die Reichskokarde an der Stirnseite der Schirmmütze zu tragen. Dieser Kranz mit Adlerkokarde bei der Reichswehr und Reichskokarde bei der Wehrmacht kam bei der Bundeswehr wieder zu Ehren, jetzt als Unterlage der Abzeichen der drei Teilstreitkräfte. Für das Heer führte man zwei gekreuzte Säbel ein, die Luftwaffe erhielt die Doppelschwinge und die Bundesmarine den unklaren Anker. Oberhalb des Abzeichens der Teilstreitkräfte hatte nun die Bundeskokarde aus geprägtem Metall, in gestickter oder gewebter Form, ihren Platz an den Kopfbedeckungen der ersten Stunde. Die breite amerikanische Tellerform der ersten Schirmmützen DIENSTANZUG: Ab dem 31. Juli 1956 trug die Bundeswehr wieder die traditionellen, waffenfarbigen Kragenspiegel. Foto: Sammlung JMH
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Ausrüstung und Bekleidung 1
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AUTOMATISCHES GEWEHR G3 (1965) 1
Rohr mit Feuerdämpfer Ladehebel Handschutz Magazin für 20 Patronen Gehäusegruppe Sicherung Drehvisier Griffstück mit Abzugskasten Haltebolzen
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STANDARDPISTOLE P1 1 2 3 4 5
Rohrstück mit Korn Verschlussstück Sicherungshebel Hahn Griffstück
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Fotos (2): Sammlung Jörg-M. Hormann
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Foto: Sammlung Jörg-M. Hormann
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Kleiner Dienstanzug Ende der 1980er-Jahre.
Schiffchen Luftwaffe Schulterklappe Zweitaschenrock für weibliche Soldaten 4 Diensthose Heer 5 Viertaschenrock Heer 6 Waffenfarbige Kragenspiegel 7 Verbandsabzeichen 8 Mützenstickerei für Offiziere 9 Schirmmütze mit Bundeskokarde 10 Teilstreitkraftabzeichen 11 Kommandanten Schirmmütze 12 Jackett Marine
bei der Bundeswehr mit großem Schirm aus Lackleder und Metallabzeichen entsprach nicht deutscher Mützentradition. Die Soldaten des Heeres und der Luftwaffe trugen die Mützen in Sattelform bis 1945. Wenige Monate, nachdem der Bundespräsident am 12. November 1955 die ersten Soldaten der Bundeswehr verpflichtet hatte, wurde die Sattelform durch entsprechende Anordnung wieder eingeführt. Für die Paspelierung der Mütze, damit sind die Vorstöße am Mützendeckel und am Besatzstreifen gemeint, stand die alte Luftwaffe Pate. Das heißt, alle drei Paspeln erhielten für Generale eine goldene Farbe und die Offiziere trugen und tragen sie silberfarben. Beim Heer der Wehrmacht waren die Paspeln jeweils waffenfarbig. Später sollte diese Regelung für Unteroffiziere und Mannschaften der Bundeswehr einige Jahre Gültigkeit haben, bevor das Barett Anfang der 1970er-Jahre Einzug hielt. Heute ist beim Heer das farbige Barett mit alten oder neuen Truppengattungsabzeichen und schwarzrot-goldenem Nationalkennzeichen die stets getragene Kopfbedeckung.
Kopfbedeckung als Signal Hatten die ersten Schirmmützen ein ziemlich ungewohntes Aussehen, traf dies auf die Dienstmützen in keiner Weise zu. Sie konnten ihren Ursprung bei der Feldmütze 43 der Wehrmacht nicht verleugnen und die praktischen Erfahrungen waren hier so bestechend positiv, dass politische Ressentiments nicht galten. Ähnliches kann von der Arbeitsmütze gesagt werden, die sich von der
Das Erbe der Wehrmacht 1
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STANDARDMASCHINENGEWEHR 3 (Ursprung 1
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MP 2 A1 „UZI“ 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Dioptervisier Verschlussgehäuse Spannschieber Laufmutter Handschutz Stangenmagazin Griffstück mit Abzug Griffsicherung Metallklappschaft
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Foto: Sammlung Jörg-M. Hormann
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Feldmütze des ehemaligen Deutschen Afrikakorps ableitete. Zu den Rechten des Bundespräsidenten auf dem Gebiet des Wehrwesens gehört, die Uniform zu bestimmen, was im Soldatengesetz § 4 Abs. 3 verankert ist: „Der Bundespräsident erlässt die Bestimmungen über die Uniform der Soldaten. Er kann die Ausübung dieser Befugnisse auf andere Stellen übertragen.“ Bis zum Jahr 1960 erließ der Bundespräsident gleich drei umfangreiche Anordnungen. In den ersten Jahren der Bundeswehr war die Unsicherheit bei der Uniformenfrage offensichtlich. Als man die neuen Kleidungsstücke schließlich einführte, überlegte man sogleich, wie man sie verbessern könnte. Und als der Umfang der Streitkräfte wuchs, wurde es zudem notwendig, das Spektrum der Uniformen zu erweitern.
Dreiteiliges Bekleidungskonzept Hier seien beispielhaft die später eingeführten Dienstgrade General und Hauptfeldwebel sowie die Laufbahn der Sanitätsoffiziere genannt. Begonnen hatte alles mit der „Ersten Anordnung des Bundespräsidenten über die Dienstgradbezeichnungen, die Ernennung und Entlassung sowie die Uniform der freiwilligen Soldaten vom 23. Juli 1955“. Am 12. November des gleichen Jahres trugen die ersten Bundeswehrangehörigen die neue Uniform, als man ihnen in der Ermekeil-Kaserne in Bonn ihre Ernennungsurkunden aushändigte. Anfang November 1955 hatte das Ministerium den Entwurf einer „Anzugordnung für die Streitkräfte“ herausgege-
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MG 42)
Schulterstütze Deckel mit Riegel Spannschieber Bodenstück Visier mit Fliegerabwehrvisier Rohr Gehäuse Korn Rückstoßverstärker Griffstück mit Abzug Rohrwechselklappe klappbares Zweibein
ben. Sie galt als Dienstvorschrift und sollte bis zum Erscheinen der ersten Ausgabe der ZDv. 37/10 „Anzugordnung für die Bundeswehr“ im Juli 1959 Gültigkeit haben. Das erste Bekleidungskonzept der Bundeswehr war durch Dreiteiligkeit gekennzeichnet. Neben dem Kampfanzug und Arbeitsanzug kam die dritte Form, der Dienst-/ Ausgehanzug, hinzu. Nachdem man den jagdmelierten Feldanzug abgeschafft hatte, probierte die Armee ein zweiteiliges Konzept mit Feld-/Arbeitsanzug und Dienst-/ Ausgehanzug für mehrere Jahre aus. Seit 1987 ist wiederum die Dreiteiligkeit der Anfangsjahre mit Kampfanzug in Fleckentarnung, Arbeits-/Dienstanzug und Dienst-/ Ausgehanzug gültig. Als die Bundeswehr entstand, waren auch die infanteristischen Kampferfahrungen der letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges wieder gefragt. Die Heeresausbilder der ersten Stunde, die noch in der Wehrmacht gedient hatten, formulieren die „Grundsätze für neuzeitliche Schießausbildung mit Gewehr und Maschinengewehr“. In den „Sonthofener Vorträgen“ vom Mai und Juni 1956 heißt es unter anderem: „Dem Schießen mit den leichten Infanteriewaffen Gewehr und Maschinengewehr kommt taktisch und
Literaturtipp Kunstwadl, Walter: Von der Affenjacke zum Tropentarnanzug. Die Geschichte der Bundeswehr im Spiegel ihrer Uniformen und Abzeichen. Bonn 2006, ISBN 978-3-932385-24-7
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ausbildungsmäßig derzeit eine erhöhte Bedeutung zu, weil durch die Entwicklung der schweren Unterstützungswaffen und die geplante Einführung eines vollautomatischen ,Sturm’-Gewehres sich die Einsatzgrundsätze für diese 7-mm-Flachfeuerwaffe teilweise geändert haben.“
Bewährtes mit neuer Nummer Die Rede ist vom bewährten MG42 und dem deutschen Standardkarabiner 98k. Den Karabiner finden wir heute nur noch als Paradewaffe beim Wachbataillon in Berlin. Bevor die Bundeswehr aber eine deutsche Eigenproduktion nutzen konnte, musste sie zunächst mit verschiedenen ausländischen Modellen vorlieb nehmen: US M1 „Garand“ (ab 1955), FN „Standardgewehr 1“(ab 1956), „CETME-Gewehr“(ab 1958), Heckler & Koch „Gewehr 3“ (ab 1959), G 36 (ab 1997). Traditioneller verhält es sich beim Maschinengewehr und der Standardpistole. Hier kamen nämlich die kriegsbewährten Muster MG42 und die Pistole P 38 mit wenigen technischen Änderungen und neuer Nummerierung wieder zu Ehren. Bis heute ist die Bundeswehr mit dem MG42 als modifiziertes MG 1, 2 und 3 ausgerüstet. Seit 2005 ergänzt das MG4 von Heckler & Koch mit neuem Kaliber und Kurzpatronen das Maschinengewehr-Arsenal. Bei den Pistolen lief es ähnlich. Neben 13.378 Pistolen vom Typ Colt M1911 A1 lieferte man bereits 1955 Walther P 38, jetzt als P 1 bezeichnet, an die Truppen des Heeres aus. Erst 1997 folgte mit der P 8 ein verbessertes Modell. ■
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Chronik
UNTER NEUER FLAGGE: Angehörige der Heimatschutzbrigade 39 aus Erfurt am 26. Mai 1993 auf dem Truppenübungsplatz Nochten. Bei diesem Verband handelte es sich um die ehemalige 4. Mot.-Schützen-Division der NVA, aus der am 1. Januar 1991 die Brigade 39 hervorging. Später benannte man sie in PanzerBrigade 39 um, ehe der Verband 2001 endgültig aufgelöst wurde. Foto: picture-alliance/ZB
Die Jahre von 1985 –1995
Wenig Feind, viel Wehr 68
Was gestern noch der potenzielle Feind war, wurde plötzlich über Nacht zum neuen Kameraden. Auch für die Bundeswehr kam die Wende überraschend. Von Stefan Krüger Jetzt hieß es verkleinern, abrüsten und … integrieren.
Clausewitz Spezial
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Chronik 1985–1995
Der Kalte Krieg endet 1. JUNI 1987: Der Mehrfach-Raketenwerfer MARS nimmt seinen Dienst bei der Bundeswehr auf. Das Nachfolge-System MARS II wurde im April 2011 bei der Bundeswehr eingeführt. Neben einer größeren Reichweite bietet es auch eine höhere Präzision.
SEPTEMBER 1989: Die Bundeswehr stellt in ihren Kasernen Platz für rund 30.000 Flüchtlinge aus der DDR zur Verfügung.
6. SEPTEMBER 1988:
„KRIEGSGOTT“: Der Raketenwerfer MARS (Mittleres Artillerie-Raketen-System) kann bis zu zwölf Raketen pro Minute abfeuern. Aufnahme vom Juni 1987. Foto: picture-alliance/dpa
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15. FEBRUAR 1989: Die Sowjetunion zieht sich aus Afghanistan zurück. Der erfolglose und äußerst kostspielige Einsatz, der die östliche Supermacht rund 68.000 Mann an Toten und Verwundeten gekostet hat, beschleunigt den Zerfall des Ostblocks.
9. NOVEMBER 1989: Nach 28 Jahren fällt die Berliner Mauer. Die Grenzöffnung leitet das Ende des SED-Regimes in der DDR ein.
15. JANUAR 1990: Ungeachtet der sich abzeichnenden Wende findet auch in diesem Jahr wieder eine REFORGER-Übung statt. Mit 57.300 Mann erreicht die Teilnehmerzahl allerdings wieder ein normales Niveau.
2. AUGUST 1990: Das leichte Kettenfahrzeug Wiesel nimmt seinen Dienst bei der Bundeswehr auf. Das luftverlastbare Fahrzeug kann sowohl als Aufklärungs-, Führungs- und Wirkungsfahrzeug eingesetzt werden und wurde speziell für die Luftlandetruppen entwickelt.
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Das mit Abstand umfangreichste REFORGERManöver beginnt. Es beteiligen sich vier USDivisionen, zwei gepanzerte US-KavallerieRegimenter, zwei Brigaden (darunter eine kanadische) und die 10. und 12. deutsche Panzer-Division mit zusammen 124.800 Soldaten. Dafür fällt REFORGER im nächsten Jahr aus.
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TRIUMPH DER FREIHEIT: Die Massen stürmen hier am 10. November 1989 die Berliner Mauer. Foto: picture-alliance/zb
WIESELFLINK: Ein Waffenträger vom Typ Wiesel mit 20-mmMaschinenkanone. Foto: picture-alliance/ Wolfgang Minich
Stunde der Patrioten und Patriots
16. AUGUST 1990:
2. OKTOBER 1990:
Die „Operation Südflanke“ der Deutschen Marine beginnt; es ist der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr. Die deutschen Schiffe werden hierfür zunächst ins Mittelmeer entsandt, um Präsenz zu zeigen und um Solidarität mit den NATO-Partnern zu demonstrieren. Nach dem Ende der Kämpfe im Irak räumen die deutschen Marineeinheiten Minen im Persischen Golf.
Die NVA wird aufgelöst (siehe Bericht ab Seite 74).
3. OKTOBER 1990: Die Deutsche Demokratische Republik tritt der Bundesrepublik Deutschland bei und beendet damit die Teilung des Landes.
AUF HOHER SEE: Ein aus sieben Schiffen bestehender Minensuchverband läuft am 16. August 1990 ins östliche Mittelmeer aus. Foto: picture-alliance/Frank Kleefeldt
INTEGRIERT: Das erste öffentliche Bundeswehrgelöbnis in Ostdeutschland fand am 19. Oktober 1990 in Bad Salzungen statt. Foto: picture-alliance/Frank Kleefeldt
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INFO
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Das Patriot-System
ALTLASTEN: Diese T-55 der NVA warten 1990 in Löbau darauf, verschrottet zu werden. Foto: picture-alliance/zb
MODERNE LUFTABWEHR: Das Patriot-System kam Ende der 1980er-Jahre zur Bundeswehr. Foto: picture-alliance/zb
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Chronik 1985–1995 BEWÄHRTER TRAINER: Ein Alpha Jet der Luftwaffe bei einer Ausstellung im Jahre 1992. Foto: picture-alliance/ ZB
Die Bundeswehr muss sich neu erfinden 16. JANUAR 1991: Der Zweite Golfkrieg beginnt. Zwar ist die Bundeswehr nicht Teil der von den USA geführten Allianz gegen den Irak, doch stationiert sie 18 Alpha Jets in der Türkei. Die Bundesregierung kommt damit ihrer Pflicht nach, den NATO-Partner vor einem möglichen Angriff aus dem benachbarten Irak zu schützen.
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15. MÄRZ 1991: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag tritt in Kraft. Er beschränkt unter anderem die künftige Stärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann. Er bestimmt ferner, dass „die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“, wie es in Artikel 2 Satz 3 heißt.
MAI 1993: An der letzten REFORGERÜbung nehmen nur noch 7.000 Soldaten teil.
ABGEWICKELT: Gerhard Stoltenberg stellt hier am 1. Juli 1991 das Bundeswehrkommando Ost, in dem die NVA-Einheiten zusammengefasst waren, außer Dienst. Foto: picture-alliance/dpa
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FEIERLICH: Soldaten des Eurokorps während der Parade zum Jahrestag des Sturms auf die Bastille am. Foto: picturealliance/dpa
Unter einem gemeinsamen Dach
NUR NOCH SCHROTTWERT: Abwrackspezialisten zerlegen hier im Jahr 1991 schweres Gerät der ehemaligen NVA. Foto: picture-alliance/zb
IM FERNEN AFRIKA: Der Somalia-Einsatz (1993–1994) gehörte zu den ersten größeren Auslands-Missionen der Bundeswehr. Foto: picture-alliance/zb
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12. MAI 1993:
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SCHLUSSSTRICH: Die Bundeswehr während der offiziellen Verabschiedung der westalliierten Truppen.
Ein 150 Mann umfassendes Vorauskommando des „Deutschen Unterstützungsverbandes Somalia“ trifft in dem afrikanischen Land ein. Es ist der erste Verband der Bundeswehr, der im Rahmen einer UNO-Mission aktiv wird. Aufgeteilt auf zwei Kontingente, werden rund 3.000 deutsche Soldaten nach Somalia entsandt, die vor allem logistische Aufgaben für die Blauhelme übernehmen.
Foto: picture-alliance/dpa
1. OKTOBER 1993: Das Eurokorps entsteht. Neben Deutschland und Frankreich sind auch Spanien, Belgien und Luxemburg an diesem multinationalen Verband beteiligt, dessen Auftrag es ist, Kräfte für NATO- oder EU-Einsätze bereitzustellen.
8. SEPTEMBER 1994: Die Bundeswehr verabschiedet in Berlin die alliierten Truppen mit dem Großen Zapfenstreich.
NEUE UNIFORM, ALTES GEWEHR: Ehemalige NVA-Soldaten beim ersten Appell des Bundeswehrkommandos Ost am 4. Oktober 1990 in Strausberg. Foto: picture-alliance/dpa
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Wiedervereinigung
Die Integration der NVA
Fremde Kameraden Mit dem Ende der DDR war die NVA plötzlich nicht mehr der Feind, sondern ein neuer „Waffenbruder“. Die Bundeswehr stand nun vor der Herkules-Aufgabe, Teile der ostdeutschen Streitkräfte zu integrieren. Von Alexander Querengässer
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ie Nationale Volksarmee veränderte sich Ende der 1980er-Jahre massiv – nicht zuletzt musste die Regierung auch die Größe der Streitkräfte reduzieren, denn es herrschte Ebbe in der Staatskasse. Mit den Montagsunruhen im Herbst 1989 kam jedoch in Ost und West die Furcht auf, dass in der DDR die Armee gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden könnte, wie es die chinesische Armee wenige Jahre zuvor in Peking getan hatte. Diese Ängste bewahrheiteten sich nicht. Stattdessen unternahm der am 18. November ins Amt des Verteidigungsministers berufene Admiral Theodor Hoffmann eiligst Versuche, die Streitkräfte vom engen Zugriff der Parteiführung zu lösen. Die von ihm gebildete Kommission „Militärreform der DDR“ soll sich den dringendsten Fragen stellen, die die unabwendbare politische Umwälzung
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NEUE MONTUR: Nach der Wiedervereinigung stand die Bundeswehr vor der gewaltigen Aufgabe, die NVA zu integrieren und aufzulösen. Hier sind ehemalige NVA-Soldaten zu sehen, die jetzt zum Bundeswehr Kommando Ost gehören. Sie tragen noch ihre KalaFoto: picture-alliance/dpa schnikows.
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Wiedervereinigung
ZULETZT: In der Nacht zum 3. Oktober 1990 trat dieser NVA-Soldat zum letzten Foto: picture-alliance/akg-images Mal an.
vereinigung, was neue Fragen für die Zukunft der NVA aufwarf. Rainer Eppelmann aus der Partei Demokratischer Aufbruch avancierte zum Minister für Abrüstung und Verteidigung. Hoffmann wurde zum Chef der NVA. Am 28. Mai traf Eppelmann in Strausberg auf seinen bundesdeutschen Amtskollegen Gerhard Stoltenberg, um die Rahmenbedingungen für ein zukünftiges Miteinander beider deutscher Armeen abzustecken. Es existierte zwar der Entschluss, beide Staaten zu vereinen, aber es gab keine genauen Vorstellungen, wie dies vollzogen werden sollte.
Bleibt die NVA erhalten?
mit sich brachte. Dazu gehörten die Aufgabe, weiter abzurüsten, die künftige Stellung der NVA im Warschauer Pakt sowie der Status der Armee im Allgemeinen. Hoffmann besetzte die wichtigsten Posten seines Ministeriums neu und löste alle politischen Organe der Armee auf.
Auch die NVA kann streiken Doch vielen Soldaten gingen die Reformen nicht schnell genug. Sie forderten verbesserte Dienstbedingungen, heimatnahe Verwendungsmöglichkeiten und höhere Besoldungsgruppen. Am 1. Januar traten die Soldaten des Standorts Beelitz in den Streik. Hoffmann reagierte mit Sofortmaßnahmen
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und kürzte unter anderem den Wehrdienst von 18 auf zwölf Monate. Nach den Volkskammerwahlen wurden die Streitkräfte im Frühjahr 1990 direkt der Volkskammer unterstellt und diese wiederum dem Verwaltungsbereich der Stasi entzogen. Außerdem schaffte Hoffmann die Militärgerichtsbarkeit ab. Die Kammer entschied sich schließlich für die Wieder-
Die Regierung de Maizière plant eine schrittweise Wiedervereinigung und entsprechende Pläne geisterten auch durch das Ministerium Eppelmann. So sollten die neuen Länder bis 2000 eigenständige Streitkräfte unterhalten, was die Regierung Kohl natürlich ablehnte. Innerhalb weniger Wochen erstellte man Dutzende Übernahmemodelle für die NVA und verwarf sie gleich darauf wieder. Eppelmanns Ideen schienen vor allem deswegen nicht umsetzbar zu sein, weil die NVA, obwohl sie wie die Bundeswehr eine Wehrpflichtigenarmee war, innerhalb der Bevölkerung kein besonders hohes Ansehen genoss. So hatte die Regierung ihre Streitkräfte bewusst von der Bevölkerung isoliert, während sie potenzielle Berufssoldaten mit Vergünstigungen bei der Wohnungs- und Schulsuche lockte. Trotz des Namens war die NVA somit keine Armee des Volkes, weswegen die Idee, die NVA vorerst zu erhalten, in Ost und West auf Widerstand stieß. Die Wiedervereinigung stellte auch die Bundeswehr vor eine ganze Reihe von Herausforderungen. Zum einen musste ein Teil der ostdeutschen Streitkräfte integriert werden – nicht zuletzt, um ein politisches Zeichen zu setzen. Zum anderen einigten sich Kanzler Kohl und der sowjetische Präsident Gorbatschow am 16. Juli 1990 darauf, die gesamtdeutsche Armee auf 370.000 Mann zu beschränken. Die Bundeswehr musste sich daher um satte 125.000 Mann „verschlanken“, wobei die Soldaten aus den Neuen Ländern noch nicht einmal eingerechnet waren. Als besonders schwierig gestaltete es sich, das Offizierskorps zu integrieren. Zwar hatte die NVA mit ihren jüngsten Reformen versucht, die Streitkräfte vom politischen
„Offiziere planten, ihre Schiffe zu versenken, falls die BRD alle ostdeutschen Soldaten auf die Straße setzen sollte. Ein zweites Scapa Flow war allerdings in niemandes Sinne.“
Garant des Grundgesetzes
KARTE
Die NATO und der Warschauer Pakt
Staatsapparat zu trennen, dennoch hatten einige Bundesminister erhebliche Bedenken. Denn noch immer besaßen stolze 90 Prozent der Offiziere ein Parteibuch der SED, sodass die militärische und politische Spitze nach wie vor eng verflochten waren. Dessen ungeachtet, bestand der Kanzler darauf, NVA-Offiziere bis hinauf in die Generals- und Admiralsränge gemäß dem prozentualen Anteil der Neuen Länder zu übernehmen. Außenminister Hans-Dietrich Genscher aber war kategorisch dagegen und setzte sich durch. Noch drastischere Ansichten vertratt Verteidigungsminister Stolberg: Er mochte keinen
AUF DEM WEG ZUR EINHEIT: Kohl und der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow am 13. Februar 1990. Foto: picture-alliance/akg
Clausewitz Spezial
einzigen NVA-Soldaten übernehmen. Aber das wäre für Kohl ein falsches Zeichen an die neuen Bundesbürger gewesen. Obendrein erfuhr Generalleutnant Jörg Schönbohm, der mit der Aufgabe betraut war, die NVA aufzulösen, dass Offiziere der Nationalen Volksmarine planten, einen Teil ihrer Schiffe zu versenken, falls die Bundesregierung alle ostdeutschen Soldaten auf die Straße setzen sollte. Ein zweites Scapa Flow war allerdings in niemandes Sinne.
Feste Überzeugungen Fest stand nur, dass nach den Vorgaben der Bundeswehr jeder Soldat ein Staatsbürger in Uniform sein sollte. War die NVA eine Armee des Staates und der Partei, tritt die Bundeswehr als Garant des Grundgesetzes auf. Dies kann freilich nur funktionieren, wenn die uniformierten Bürger überzeugte Träger dieses Verfassungsmodells sind. Dass dies gerade beim ehemaligen Offizierskorps der NVA schwierig werden würde, bewiesen Umfragen vom Januar 1990. Demnach waren zwar 40 Prozent der Unteroffiziere und Mannschaften für eine Wiedervereinigung, aber nur 22 Prozent der Offiziere. Konnten diese Männer, die nicht nur Befehlsempfänger, sondern auch Entscheidungsträger waren, einen Platz in der gesamtdeutschen Armee finden? Eine andere Entscheidung fiel derweil auf höherer Ebene. Im Juni reiste Helmut Kohl in den Kaukasus und erhielt von Gorbatschow
NEUE ZEIT: Letzter Wachwechsel am „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“, 3. Oktober 1990. Foto: picture-alliance/zb
grünes Licht für die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands, womit ein weiteres Hindernis für eine gesamtdeutsche Armee aus dem Weg geräumt war. Am 2. Oktober 1990 erließ die NVA schließlich ihren letzten Tagesbefehl: „Mit dem 2. Oktober, 24:00 Uhr, hört die Nationale Volksarmee auf zu bestehen. Aber nicht ihre Soldaten und Zivilbeschäftigten. Hiermit entlasse ich Sie als Angehöriger oder Zivilbeschäftigter der Nationalen Volksarmee aus Ihren Verpflichtungen. Fahne senken. Fahnenkommando: Truppenfahne verpacken.“
Das Ende der NVA Mit dem Wiedervereinigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 gehen schließlich sämtliche Liegenschaften und alles Material der NVA in den Besitz der Bundeswehr über. Diese entlässt umgehend Generale und Admirale, Politoffiziere, Soldaten über 55 sowie das weibliche Personal (außer im Sanitätsdienst) oder schickt die Betreffenden in den Ruhestand. Lediglich fünf Generale und Admira-
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Wiedervereinigung
ABGEBAUT: DDR-Grenzsoldaten entfernen am 11. November 1989 Sperranlagen bei Kleinmachnow. Foto: picture-alliance/zb
VERRAMSCHT: Straßenhandel am Checkpoint Charlie im Jahr 1990. Foto: picture-alliance/Herve Champollion/akg-images
le beschäftigt man als zivile Berater weiter, da das Verteidigungsministerium auf ihr Wissen nicht verzichten konnte.
Fragen über Fragen Die Bundeswehr übernahm zunächst rund 90.000 NVA-Soldaten, davon 39.000 Wehrpflichtige, die ihre Dienstzeit normal zu Ende führten. Von den 50.000 Berufssoldaten wurden 35.600 entlassen, davon 24.000 auf eigenen Wunsch. Nicht jeder kann seine Überzeugungen mit einem letzten Tagesbefehl ablegen. Die übernommenen Soldaten mussten vorerst ihre alten Uniformen weitertragen. Obwohl die Kleiderkammer der Bundeswehr im Mobilisierungsfall eigentlich fähig sein sollte, eine Million Mann auszurüsten, konnte sie angeblich den Bedarf nicht decken. Als die neuen Monturen schließlich eintrafen, zeigten die Standortkinos kurze Filme, die die Trageweise demonstrierten. Trotzdem blieben bei etlichen ostdeutschen Soldaten Fragen offen: Werden die NATO-Hosen nun in oder über den Stiefeln getragen?
INFO
Die Nationale Volksarmee
Die Streitkräfte der DDR entstanden offiziell am 1. März 1956 und damit nach der Bundeswehr. Den Vorläufer jedoch, nämlich die Kasernierte Volkspolizei, hatten die Verantwortlichen bereits 1952 aus der Taufe gehoben. Genauso wie im Westen griff auch die NVA in ihrer Anfangszeit auf ehemalige Wehrmachtangehörige zurück. Doch während sich die Bundeswehr vor allem in Hinblick auf die Uniformwahl bewusst von der Wehrmacht distanzierte, ähnelten die ostdeutschen Uniformen denen der Wehrmacht recht stark. Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied ist die Tatsache, dass die DDR erst 1962 die Wehrpflicht einführte. Nur so konnte die Regierung die angestrebte Stär-
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Die Berufssoldaten kamen als sogenannte „Weiterverwender“ SaZ 2 (Soldaten auf Zeit für zwei Jahre) zunächst bis 1991 in der Bundeswehr unter. Unter ihnen wählte man anschließend knapp 11.000 für ein weiterführendes Dienstverhältnis aus. Zu den Auswahlkriterien gehörten die militärischen und zivilberuflichen Qualifikationen, persönliche Fähigkeiten und der nötige Aufwand für Umschu-
ke von 170.000 Mann erreichen. des Weiteren war die NVA politisch sehr stark durchdrungen. So übte die SED größten Einfluss auf die Armee aus, zumal der größte Teil des Offizierskorps ein Parteibch besaß. Eine große Gemeinsamkeit war die feste Einbindung in die jeweiligen Bündnisblöcke. Und auch die NVA beteiligte sich an Großmanövern, die teils ebenfalls auf deutschem Boden stattfanden. Insgesamt konnte die NVA ihre Schlagkraft im Laufe der Zeit erheblich steigern, was sie zu einem der wichtigsten Partner der Roten Armee machte. Im Zuge der Widervereinigung wurde die NVA am 2. Oktober 1990 aufgelöst.
lungsmaßnahmen. Heute haben noch 400 aktive Soldaten eine Vergangenheit in den Streitkräften der ehemaligen DDR. Für einen Teil der Soldaten, die die Bundeswehr nicht übernommen hatte, bot man berufsfördernde Maßnahmen an, die den Einstieg ins Zivilleben erleichtern sollten. Auf der anderen Seite bestand auch bei der Bundeswehr Druck, den Etat zu kürzen. Zehntausende Soldaten – darunter auch Zeit- und Berufssoldaten – mussten ihren Hut nehmen – nicht zuletzt, um Platz zu schaffen für die neuen Kameraden aus dem Osten. Oberste Priorität bei der Integration der verbliebenen Soldaten, besonders der Offiziere, hatte die politische Schulung. Nur mit der Verfassung verbundene Offiziere sind auch in der Lage, die Grundprinzipien der Bundeswehr hinsichtlich der Menschenführung adäquat umzusetzen. So durchliefen die SaZ 2-Soldaten ein eigenes Ausbildungsprogramm. Zunächst galt es, sich im Selbststudium die Prinzipien der Inneren Führung anzueignen und ein Truppenpraktikum in einer westdeutschen Einheit durchzuführen. Daran schloss sich der Ergänzungslehrgang II an der Offiziersschule des Heeres und der Ergänzungslehrgang III an Truppenschulen der Bundeswehr
Wertvoller Schrott
ALTLASTEN: T-55 der ehemaligen NVA in Löbau. Die meisten wurden verschrottet. Foto: picture-alliance/zb
an. Gerade die Praktika sollten darüber entscheiden, ob ein Kandidat geeignet war, in der Bundeswehr zu bleiben. 1992 legte der Rechtsberater des Territorialkommandos Ost allerdings eine Studie vor, die zu dem Schluss kam, dass diese Maßnahmen nicht ausreichten. Dem Prinzip der Inneren Führung konnten nämlich einige NVA-Offiziere wenig Respekt entgegenbringen. „Wenn diese Armee einmal wirklich gefordert würde, einen Krieg führen müsste, dann könnte sie sich solche Scherze nicht mehr erlauben“, erklärt ein ehemaliger Major der NVA. Daher bot man ab dem Folgejahr „Ergänzungslehrgänge zum Ergänzungslehrgang“ an.
Vertrautes Gerät Viel weniger Schwierigkeiten machten den Ost-Soldaten die technischen Umstellungen. Erstaunt stellten die Ausbilder aus dem Westen fest, dass die neuen Kameraden einen Leopard wie einen Sowjetpanzer fahren konnten. Natürlich waren sie über dessen
Ausstattung unterrichtet und darauf geschult worden, im Ernstfall Beutepanzer zu steuern. Dagegen konnten die Panzeroffiziere der Bundeswehr, die die Bestände der NVA inspizierten, einen T 72 kaum von einem T 55 unterscheiden. Die Formationen der NVA wurden in drei Kategorien unterteilt. Ein geringer Teil sollte ganz oder teilweise übernommen, ein Teil kurzfristig bis zu ihrer Abrüstung beibehalten und der Rest sofort aufgelöst werden. In diese letzte Kategorie fielen vor allem die Grenztruppen, die ohnehin eine Sonderstellung genossen, und die Justizeinrichtungen. Aus Sicht der Bundeswehr war die Integration der NVA erfolgreich. Die Betroffenen durchliefen jedoch einen nicht immer stressfreien Prozess, an dessen Anfang die Frage stand, sich in die Armee des ehemaligen Klassenfeindes zu integrieren oder womöglich ohne Berufsqualifikation auf der Straße zu stehen – und dies vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden ostdeutschen Wirtschaft. Wer sich für die Integration ent-
„Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.“ Erich Honecker am 19. Januar 1989
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ABSCHIED: Letzter Appell des NVAPanzer-Regiments Cottbus. Der Verband Foto: picture-alliance/zb bestand 35 Jahre.
schied, musste es sich gefallen lassen, dass sein neuer Dienstherr den persönlichen Werdegang durchleuchtete. Dies war für die NVA-Angehörigen vielleicht noch etwas Gewohntes. Zu kämpfen hatten sie jedoch darum, dass man ihre Bildungs- und Qualifikationsnachweise anerkannte. Ebenso mussten sie damit leben, dass die Bundesrepublik ihre Renten- und Versorgungsansprüche anpasste. Es war zweifellos einfacher, Integration zu fordern, als sich derart drastischen Änderungen anzupassen. Außerdem wurde von den übernommenen Soldaten der Treueeid auf die Bundesrepublik Deutschland gefordert – ein normaler Vorgang in jeder Armee, der aber viele Dienstwillige vor neue moralische Bedenken stellte. Etliche berichteten danach über schlaflose Nächte.
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Wiedervereinigung
ÜBERNOMMEN: Dieses ehemalige NVA-Jagdflugzeug vom Typ Mig 29 diente später beim Jagdgeschwader 73. Diese Aufnahme stammt von 2004. Foto: picture-alliance/zb
UNBRAUCHBAR: Ein ehemaliger NVA-Kampfpanzer wird hier 2005 in der Werkshalle der Battle Tank Dismantling GmbH (BTD) zerlegt. Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb
re Barette gerade trugen und die weitgeschnittenen Kampfblusen so stark gewaschen waren, dass sie enger und körperbetonter saßen. Erstaunt reagierten viele NVA-Veteranen auch darauf, dass einige Bundeswehr-Angehörige Auslandseinsätze ablehnten. Für Soldaten, die sich permanent in erhöhter Wehrbereitschaft befunden haben, war es nicht nachvollziehbar, dass Offiziere, die mit der Tradition einer Armee im Frieden aufgewachsen waren, nicht bereit sind, sich am Golfkrieg zu beteiligen. Die Armee der Einheit ist noch immer eine Streitmacht der Landesverteidigung, nicht des Einsatzes. Für viele Berufssoldaten im Westen ist ihre Tätigkeit ein Handwerk wie Bäcker und Tischler. Dass der Tod ein mögliches Risiko ihres Berufs darstellt, haben viele verdrängt. „Für mich war es schlimm“, beschreibt ein ehemaliger NVA-Major die ersten Monate in der Bundeswehr. „Wenn ich die Wehrpflichtigen sehe, in Halbzivil, da wird nicht gegrüßt, man kriegt zu hören: ,Wir streiken, wir fahren nicht zum Schießen’ – für Militärs ist das eine unerträgliche Sache.“
Ein gewaltiges Arsenal
Die neuen Dienstverhältnisse brachten aber auch erfreuliche Änderungen mit sich. Während in der NVA aufgrund der ständigen erhöhten Gefechtsbereitschaft auch an den Wochenenden Dienst geschoben wurde, dürfen die Bundeswehr-Soldaten am Freitag die Kasernen verlassen, solange sie nicht zum Wachdienst eingeteilt sind. Viele Offiziere aus dem Osten beobachteten diesen allwöchentlichen Kasernenexodus umso erstaunter, als ihnen erklärt wurde, dass dies auch schon vor dem Mauerfall gang und gäbe war. Ebenso verwundert reagierten ihre Kameraden aus dem Westen, als man ihnen demonstrierte, dass sich die ehemaligen NVA-Verbände innerhalb weniger Stunden einsatzbereit auf dem Paradeplatz versammeln konnten.
Ungleiche Bezahlung Reibungspunkte entstanden hingegen bei den neuen Dienstgradgruppen und Besoldungsstufen. Die NVA-Soldaten wurden in jenen Rängen übernommen, die sie nach gleicher Zeit bei der Bundeswehr erlangt hätten. Da die NVA schneller beförderte, führte dies dazu, dass der neue Dienstherr manche Soldaten teilweise über die Grenzen von Dienstgradgruppen hinweg zurückstufte. Außerdem erhielten die ostdeutschen Armeeangehörigen 40 Prozent weniger Sold als ihre Kameraden aus dem Westen, die sogar eine Zulage bekamen, wenn sie auf Standorte in den neuen
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Bundesländern wechselten. Diese Zulage bezeichneten die Soldaten abschätzig auch als „Buschgeld“. Erst 2008 glich die Bundeswehr die Soldstufen vollständig an. Immerhin, denn im zivilen Bereich existieren diese Unterschiede immer noch, daher kann durchaus behauptet werden, dass die Bundeswehr die Integration schneller vollzogen hat. Außerdem verspotteten die ehemaligen NVA-Angehörigen viele Westsoldaten zunächst abfällig als „Di-Mi-Do-Soldaten“, weil sie Montagmittag ihren Dienst im Osten antraten und sich am Freitagvormittag bereits wieder in den Zug Richtung Heimat setzten. Auch die in die alten Bundesländer geschickten Ostsoldaten fielen schnell auf, weil sie ih-
Bei der Wiedervereinigung hinterließ die NVA mehr Munition, als die Bundeswehr zur Verfügung hat, dazu eine riesige Anzahl an Gerät. Darunter befanden sich 10.100 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 2.500 Artilleriegeschütze, 90.000 Lkw und Anhänger, 8.000 Pkw und 3.000 Kräder. Dieses Material teilte die Bundeswehr in drei Kategorien ein: Geräte der Kategorie 1 wie die MiG 29 und der Schützenpanzer BMP 1 können unbefristet weiter genutzt werden. Zur Kategorie 2 zählten vor allem Handwaffenbestände, die kurzfristig ihren Dienst fortsetzten, bis die betroffenen Verbände neue Waffen erhielten. Material der Kategorie 3 lagerte man in zentralen Depots ein; es wurde entweder verschrottet, an andere Länder oder, in demilitarisierter Version, auch an Privatpersonen verkauft.
Verteidigungsminister der DDR 1989–1990
Theodor Hoffmann Der spätere Admiral und Verteidigungsminister wurde am 27. Februar 1935 geboren. Noch bevor die NVA entstand, trat er 1952 der Seepolizei und 1956 der SED bei. Es folgte eine steile Karriere, die 1987 einen vorläufigen Höhepunkt fand, als er zum Chef der Volksmarine avancierte. Am 18. November 1989 „beerbte“ er Heinz Keßler als Minister für Nationale Verteidigung. Hoffmann hatte sodann maßgeblichen Anteil daran, die NVA vom Zugriff der SED zu befreien. Er bekleidete das Amt bis zum 23. April 1990. Heute engagiert sich Hoffmann im Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR.
WEITERBENUTZT: Nun rollen Bundeswehr-Panzer über die ostdeutschen Foto: picture-alliance/zb Übungsplätze.
So verkaufte die Bundesregierung während des Golfkrieges Lastwagen und ABCSchutzausrüstung im Wert von 1,2 Milliarden D-Mark an die USA. Den größten Handel schloss die Bundesrepublik jedoch mit der indonesischen Marine ab, die alle 16 der modernen Korvetten vom Typ „Parchim“ übernahm. Ägypten durfte „entmilitarisierte“ ABC-Schützenpanzer kaufen. Man schiffte die Kampffahrzeuge tagsüber ein, während in der Nacht heimlich die Kisten mit der dazugehörigen Bewaffnung folgten. Da es heikel und teuer war, über 300.000 Tonnen an Munitionsbeständen zu vernichten, verkaufte man große Mengen und gab sie teilweise sogar kostenfrei ab – vor allem an Finnland, Schweden und die Türkei.
halb weniger Monate zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt werden. Eine Armee ist Garant und Stütze eines Staates. Ihre Tradition und ihre Symbole sind Ausdruck eines Esprit de Corps und eines eigenen Stolzes. Die Deutsche Wiedervereinigung war keine Fusion zweier Staaten in dem Sinne, dass sich ein Staat in den ande-
Verkauft in alle Welt Um das enorme Arsenal der NVA rasch zu entsorgen, nutzte man bereitwillig Schlupflöcher in den Rüstungsexportgesetzen. Bis heute gilt es als sicher, dass die Bundesrepublik DDR-Altbestände in Krisengebiete wie Angola verkaufte, nur nicht, in welchem Umfang. Pikant ist vor allem der Umstand, dass auch das zerfallende Jugoslawien mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den Abnehmern gehörte, also jenes Land, in dem die Bundeswehr wenige Jahre später ihren ersten eigenen Kampfeinsatz erlebte. Das Verramschen der OstWaffen lässt das vereinte Deutschland inner-
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VERSCHLANKTE ARMEE: Auch das Gebirgsjäger-Bataillon 571 wird im Zuge der Wende aufgelöst. Foto: picture-alliance/dpa
ren eingliederte. Dies war unmittelbar verbunden mit dem Ende aller Traditionen der NVA. Denn sie konnte nicht in die Bundeswehr integriert werden, lediglich ein Teil ihrer Soldaten und ihres Rüstungsmaterials. Während es ein Leichtes ist, Panzer umzulackieren und Flugzeuge mit neuen Hoheitsabzeichen zu versehen, ist es schwierig, von Menschen zu verlangen, ihre bisherige Identität und Überzeugung abzustreifen. Rein statistisch verlief dies erfolgreich. Auch Bundespräsident Weizsäcker unterstrich 1992: „Der von der Bundeswehr bisher geleistete Beitrag für das Zusammenwachsen des geeinten Deutschlands verdient unsere Achtung und Anerkennung.“ Inwiefern sie psychologisch erfolgreich war, lässt sich heute nur schwer beantworten. Ein Gefühl der Demütigung trugen sicherlich viele ehemalige NVA-Soldaten mit in das neue Dienstverhältnis. Nicht nur, weil ihr Weltbild sich aufgelöst hatte, sondern weil es in der Natur des Integrationsprozesses lag. Und gerade durch den unterschiedlichen Sold wurde auch seitens der Bundeswehr das Gefühl geweckt, die Männer aus den Neuen Bundesländern seien Soldaten zweiter Klasse. Die wirkliche Integration der Neuen Länder kann daher nur über die fortgesetzte Wehrpflicht stattfinden, in der junge Männer ihren Dienst als Staatsbürger in Uniform verrichten. ■
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Chronik
Die Jahre von 1995 –2015
Wandel oder Kris Standorte schlossen ihre Tore und viele Fahrzeuge wurden eingemottet, während die Bundeswehr ihre ersten Gefechtstoten zu beklagen hatte. Doch die gewaltigsVon Stefan Krüger te Neuerung sollte noch kommen: das Ende der Wehrpflicht.
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se? ENTSCHEIDENDER WANDEL: Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht 2011 kam eine der wichtigsten Institutionen der Bundeswehr zum Erliegen. Hier sind die letzten wehrpflichtigen Rekruten des Meldebataillons 610 der Uckermark-Kaserne im März 2011 zu sehen. Sie dienten nur noch sechs Monate. Foto: picture-alliance/dpa
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Chronik 1995–2015
IM ANSCHLAG: Die Stabskompanie der Panzerbrigade 42 aus Potsdam bereitet sich auf dem Truppenübungsplatz Foto: picture-alliance/dpa Klietz auf ihren KFOR-Einsatz vor.
1995
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Die Bundeswehr zieht in den Krieg 15. OKTOBER 1996:
INFO Frauen/Männer in der Bundeswehr
Die Bundeswehr verzichtet fortan darauf, den britischen Truppenübungsplatz Castlemartin zum Gefechtsschießen zu nutzen. Panzer- und Panzeraufklärungsverbände der Bundeswehr übten dort bereits seit 1961.
1998: Das Panzerartillerie-Lehrbataillon 345 erhält als erste Bundeswehreinheit die Panzerhaubitze 2000.
24. MÄRZ 1999: Operation Allied Force (Unternehmen Bündnisstreitmacht) beginnt. Nachdem die Verhandlungen mit Jugoslawien gescheitert waren, entschloss sich die NATO zu einer militärischen Intervention (siehe Bericht auf Seite 92).
12. JUNI 1999: Der KFOR-Einsatz der Bundeswehr startet, nachdem Jugoslawien infolge des Luftkrieges die Bedingungen der NATO schließlich akzeptiert hat. Grundlage ist die Resolution 1244, die den Aufbau einer Zivilverwaltung im Kosovo unter dem Schutz internationaler Kräfte, der KFOR, vorsieht.
1. JANUAR 2001: Frauen haben fortan die Möglichkeit, sämtliche Laufbahnen der Bundeswehr einzuschlagen.
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Einsätze rund um den Globus
Krieg gegen den Terror 11. SEPTEMBER 2001:
INFO Deutsche Soldaten in Afghanistan
Islamistische Terroristen führen mehrere Anschläge auf die USA, unter anderem auf das World Trade Center, durch, bei denen mehr als 2.800 Menschen ums Leben kommen. In der Folge schließt sich auch die Bundeswehr dem Kampf gegen den Internationalen Terrorismus an.
7. OKTOBER 2001: Operation Enduring Freedom (Unternehmen andauernde Freiheit) beginnt als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September. Da gemäß des NATO-Vertrages ein Bündnisfall vorliegt, beteiligt sich auch die Bundeswehr. So sichern Kräfte der Marine fortan das Horn von Afrika, wo wichtige Handelsrouten verlaufen.
22. DEZEMBER 2001: Der Bundestag beschließt den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen der ISAF-Mission (International Security Assistance Force = Internationale Sicherheits-Unterstützungsgruppe).
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DER TERROR ERREICHT DIE USA: Die Anschläge vom 11. September 2001 stellten auch für die Bundeswehr eine Zäsur dar.
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ENDLICH ZU HAUSE: Mit einem weißen Heimatbanner geschmückt läuft die Fregatte BAYERN am 3. Juli 2002 in ihren Heimathafen in Wilhelmshaven ein. Die BAYERN diente seit Januar 2002 als Flaggschiff der Operation Enduring Freedom und überwachte die internationalen Seewege am Horn von Afrika. Foto: picture-alliance/dpa
Foto: picture-alliance/AP Photo
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Chronik 1995–2015 ZURÜCK: Angehörige des Jägerbataillons 292 mit dem Wappen der deutsch-französischen Brigade im März 2012) beim Rückkehrappell. Foto: picture-alliance/dpa
INFO Standorte in Afghanistan (2013)
Zum ersten Mal im Gefecht 29. APRIL 2009: Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stirbt ein deutscher Soldat bei Kämpfen. Der Gefallene gehörte zu einem Konvoi des Jägerbataillons 292, das auf dem Rückmarsch zum Feldlager Kunduz im Norden Afghanistans in einen Hinterhalt geriet. Angehörige der Bundeswehr sind bereits seit 2003 in diesem Teil des Landes stationiert. Militärische Unternehmen führt die Bundeswehr seit 2009 durch.
20. JULI 2009: Die Kämpfe im Norden Afghanistans werden heftiger. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte setzt die Bundeswehr auch schwereres Gerät wie Mörser und Schützenpanzer ein. 28 Aufständische werden dabei getötet oder verwundet, 14 weitere können die Deutschen gefangen nehmen. Die Bundeswehr erleidet hierbei keine Verluste.
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TRAUERFEIER: Die Bundeswehr nahm am 3. Juni 2011 in Hannover Abschied von drei in Afghanistan getöteten Soldaten. Foto: picture-alliance/dpa
INFO Gefallene der Bundeswehr (2013)
4. SEPTEMBER 2009: Die deutschen Kräfte in Kunduz fordern einen Luftangriff gegen zwei von den Taliban gekaperte Tanklastzüge an. Dabei verlieren 69 Aufständische und 30 Zivilisten ihr Leben.
2. APRIL 2010: Eine deutsche Patrouille gerät in einen Hinterhalt, worauf ein heftiges Gefecht entbrennt, bei dem sechs Bundeswehrsoldaten schwer verletzt werden. Drei von ihnen erliegen später ihren Wunden. Insgesamt verlieren acht Deutsche im Rahmen der ISAF-Einsätze bei Kunduz ihr Leben, rund 50 werden verwundet.
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Das Ende der Wehrpflicht ÄUSSERSTE VORSICHT: Afghanistan im Oktober 2011. Bundeswehr-Soldaten der in Kunduz stationierten 3. Task Force sind hier während einer Patrouille zu sehen. Foto: picture-alliance/JOKER
1. JULI 2011: Die Wehrpflicht wird ausgesetzt. Die letzten wehrpflichtigen Rekruten werden zum 1. Januar 2011 eingezogen. Interessierte haben fortan die Möglichkeit, einen sogenannten Freiwilligen Wehrdienst zu leisten, der sechs bis 23 Monate betragen kann.
6. OKTOBER 2013: SCHWERES GERÄT: Eine Panzerhaubitze 2000 feuert am 1. November 2010 bei Kunduz während eines Feuergefechts mit Aufständischen. Das Waffensystem ist erst zwei Jahre zuvor in Dienst gestellt worden.
Die Bundeswehr übergibt das Feldlager Kunduz an die afghanische Armee. Damit endet auch das militärische Engagement Deutschlands in dieser Region.
12. NOVEMBER 2015: Die Bundeswehr wird 60 Jahre alt.
Foto: picture-alliance/dpa
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INFO
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2015
Wehrpflicht in Deutschland
INFO
Krieg in der Seele
Behandlungsfälle mit 1423 Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) bei Soldaten 1143 der Bundeswehr 922 729 466 245
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Ausrüstung
Die modernen Handwaffen der Bundeswehr
Zwischen „Tupperteil“ und „Handartillerie“ Noch nie in ihrer Geschichte hat sich die Bundeswehr so stark gewandelt wie in den letzten 20 Jahren – angefangen von den Uniformen bis hin zu den Handfeuerwaffen. Von Stefan Krüger Kann das neue Gerät die Vorgängerwaffen übertreffen?
S
chmeichelhaft klingt es nicht: „Plastepengpeng“, „Barbie-Gewehr“, „Legogewehr, „Tupperteil“ – häufig sagen die scherzhaften Bezeichnungen mehr über das Gerät aus als jede Dienstvorschrift. Und wer dieses Gewehr selbst schon einmal in der Hand gehabt hat, wird mit Sicherheit schon beim ersten Wort gewusst haben, von welcher Waffe hier die Rede ist: nämlich dem G36. Das teilweise hart gescholtene Sturmgewehr von Heckler & Koch läuft bereits seit 1997 vom Band und löste das bisherige Standard-Sturmgewehr der Bundeswehr, das G3,
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ab. Das „Legogewehr“ trat damit freilich in große Fußstapfen, denn das G3 galt zu Recht als sehr präzise und zuverlässig. Auf der anderen Seite jedoch bringt es mit 4,4 Kilogramm ordentlich Gewicht auf die Waage. Zum Vergleich: Das M16A1 aus dem altehrwürdigen Hause Colt kommt mit 2,86 Kilogramm aus. Nur das archaisch anmutende AK-47 erreicht ein ähnlich hohes Gewicht. Ein weiterer Nachteil des Infanterie-Dinosauriers ist das relativ hohe Kaliber von 7,62 Millimeter NATO, was die Magazingröße auf 20 Schuss begrenzt. US-Studien nach dem
Zweiten Weltkrieg haben jedoch ergeben, dass die Kampfkraft der Infanterie mit der Feuerrate und der Munitionsmenge steigt. In der NATO setzte sich daher die Ansicht durch, die Kalibergröße zu verringern.
Ersatz für das G3 Mangelnde Konsequenz kann man den Deutschen nicht vorwerfen: Bereits Ende der 1960er-Jahre begann Heckler & Koch an einem geradezu revolutionären Konzept zu arbeiten. Die neue Waffe sollte hülsenlose Munition mit dem bemerkenswert niedrigen
FÜR DEN INFANTERISTEN DER ZUKUNFT: Das MG4 mit angesetztem AGDUS-Laser-Sender. AGDUS steht für „Ausbildungsgerät Duellsimulator“, ein laserbasiertes Trainingssystem). Foto: picture-alliance/Wolfgang Minich
IM WANDEL: Die Ausrüstung der Bundeswehr hat sich seit der Wiedervereinigung stark gewandelt. Zu den größten Neuerungen gehört die Ablöse des G3 durch das G36.
KOMPAKT: Das G36K so, wie es im Norden Afghanistans eingesetzt wurde. Foto: picture-alliance/dpa
Foto: picture-alliance
Kaliber von 4,7 x 33 Millimeter verschießen, während im Magazin stolze 50 Patronen Platz fanden. Die G11 genannte Waffe hätte das G3 eigentlich schon 1990 ablösen sollen, doch gemeinsam mit dem Warschauer Pakt trug man auch dieses Projekt schließlich zu Grabe, obwohl die Bundeswehr dem G11 bereits bescheinigt hatte, dass es truppentauglich war. Dennoch suchte die Bundeswehr weiterhin nach einem Nachfolger für den betagten „Elefantentöter“. Parallel zum futuristischen G11 arbeitete Heckler & Koch auch an eher konventionellen Entwürfen. Dazu gehörten das HK36, das dem späteren G36 schon ziemlich ähnlich sah, und das HK50. Aus Letzterem ging dann das G36 hervor. Doch was war nun neu? Anstelle eines Rückstoßladesystems mit beweglich abgestütztem Rollenverschluss handelt es sich
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beim G36 um einen Gasdrucklader, ein Ladesystem, wie es auch bei der AK-47 und beim M16 genutzt wird. Der Gaskolben und das Gasgestänge sorgen jedoch für zusätzliches Gewicht, sodass das „Plastepengpeng“ trotz der vielen Kunststoffteile immer noch 3,4 Kilogramm auf die Waage bringt.
Moderne Zielhilfen Der auffälligste Unterschied zum G3 ist jedoch das duale Hauptkampfvisier, das aus einem Reflexvisier und einem Zielfernrohr besteht. Benutzt der Schütze Ersteres, schiebt er lediglich die obere Öffnung der Visiereinrichtung zurück, sodass das Tageslicht einen roten Leuchtpunkt erzeugt, den der Soldat als Zielhilfe nutzen kann – das vergleichsweise umständliche Anvisieren über Kämme und Korn ist somit nicht mehr nötig. Bei
Nacht kann der Schütze als Ersatz für das Tageslicht eine Batterie anschalten, die den Leuchtpunkt erzeugt. Zudem ist er beim Ziel nicht genötigt, ein Auge zuzukneifen, sodass sein Sichtfeld nicht eingeschränkt wird. Unterhalb des Reflexvisiers befindet sich das Zielfernrohr, das der Soldat nutzt, um Ziele ab 200 Meter zu bekämpfen. Neben der Standardversion bietet Heckler & Koch unter anderem auch die Varianten G36K und C für Spezial- und Polizeieinheiten an. Diese Modelle zeichnen sich durch eine kompaktere Bauart und ein geringeres Gewicht aus. Neben der Bundesrepublik statteten noch 19 weitere Nationen Teile ihrer Streitkräfte und Polizeieinheiten mit dem G36 aus, sodass man durchaus von einem Exporterfolg sprechen kann. Einen schweren Rückschlag
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Ausrüstung 1
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MASCHINENGEWEHR MG4 1 2 3 4 5 6 7
Schulterstütze Visier Handschutz Zweibein Gasabnahme mit Antriebshülse Kornhalter, klappbar Rohr mit Mündungsfeuerdämpfer (450 mm)
STURMGEWEHR G36 1 2 3 4 5 6 7 8
Schulterstütze Optisches Visier Magazin für 30 Patronen Magazinschacht Tragebügel Spannhebel Handschutz Mündungsfeuerdämpfer
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„Das G36 hat offenbar ein Präzisionsproblem bei hohen Temperaturen, aber auch im heißgeschossenen Zustand.“ Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen
musste die Waffe jedoch im Sommer 2014 hinnehmen, als das Verteidigungsministerium beschloss, vorerst keine neuen Sturmgewehre dieses Typs anzuschaffen. Hintergrund ist eine Trefferungenauigkeit, die sich einstellt, sobald der Schütze eine bestimmte, hohe Anzahl an Schüssen abgegeben hat, wodurch sich die Kunststoffteile zu sehr erhitzen. Wo genau der Fehler liegt und wie man diesen beheben kann, muss die Bundeswehr aktuell jedoch noch untersuchen.
Rückstoß, sondern mit Gasdruck arbeitet. Ferner verwendet das MG4 ebenfalls das Kaliber 5,56 Millimeter mal 45 NATO. Der „Infanterist der Zukunft“ besitzt nun ordentlich Feuerkraft, doch besteht eine Armee nicht nur aus Fallschirmjägern und Panzer-Grenadieren. NATO und Bundeswehr ergänzten ihren Wunschzettel daher um eine Handwaffe für Unterstützungseinheiten wie
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Sanitäter und Artilleristen, die dem IdZ-Konzept entspricht. Den Streitkräften schwebte jedoch keine Neuauflage der Uzi vor. Die neue Begleitwaffe sollte vielmehr die doch recht breite Lücke zwischen herkömmlichen Maschinenpistolen und Sturmgewehren schließen: Die MP7 war geboren. Was bei ihr sofort ins Auge fällt, ist die extrem kompakte Bauweise, die sich auch im Gewicht niederschlägt. So belastet sie den Träger gerade einmal mit 1.900 Gramm – nichts im Vergleich zu den weit über drei Kilogramm der MP2. Lediglich die Kompaktversion der MP5 reicht hier mit immerhin zwei Kilogramm heran. Ein weiterer bedeutender Unterschied zu früheren Maschinenpistolen ist das kleinere Kaliber. Anstelle von 9x19-mm-
Infanterist der Zukunft Neben einem neuen Sturmgewehr forderte die Bundeswehr auch einen Nachfolger für das MG3, das im Grunde schon seit 1942 verwendet wird – damals allerdings noch unter dem Namen MG42. Ähnlich wie beim G36 setzte man sich auch beim neuen Maschinengewehr das Ziel, das Gewicht möglichst stark zu reduzieren, um die Waffe für das Konzept „Infanterist der Zukunft“ (IdZ) tauglich zu machen. Dies gelang mit dem MG4 von Heckler & Koch: Anstelle der 11,5 Kilogramm des MG3 kommt das MG4 mit 7,35 Kilogramm aus. Damit wird der Ladeschütze theoretisch „arbeitslos“, sodass die Schützengruppen nun zwei MG-Schützen einsetzen könnten. Ein weiterer Unterschied zum Vorgängermodell ist der Lademechanismus, der nicht mit
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FÜR DIENST UND GEFECHT: Noch vor dem G36 führte die Bundeswehr den Tarndruck (Flecktarn B, groß) im Jahr 1991 für den Feldanzug ein. Foto: picture-alliance/dpa
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verschießt die MP7 4,6×30-mm-Patronen, die es der Waffe erlauben, nahezu rückstoßfrei zu feuern. Doch wie ist es nun um die Leistungsfähigkeit dieser in der Tat handlichen Waffe bestellt?
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Kleiner Bruder des Gewehrs Der geringe Geschossdurchmesser macht es möglich, auch Schutzwesten zu durchschlagen, wozu die größerkalibrigen Vorgängermodelle nicht in der Lage waren. Laut Heckler & Koch durchschlägt die MP7 den aus 1,6 Millimter Titan und 20 Lagen Kevlar bestehenden CRISAT-Schutz noch auf eine Entfernung von 200 Metern. Damit übertrifft die kleine Maschinenpistole die ursprüngliche Anforderung der NATO glatt um das Vierfache. Die MP7 erfüllt somit den Anspruch, die Kompaktheit einer Maschinenpistole mit der Feuerkraft eines Sturmgewehrs zu vereinen. Dass das IdZ-Konzept im Hinblick auf die Geschosse keine Einbahnstraße ist, beweist das 2005 eingeführte Scharfschützengewehr G82. Mit einem kolossalen Kaliber von 12,7 × 99 Millimeter hat diese „Handartillerie“ der Bundeswehr die Aufgabe, über große Entfernungen technische Ziele, zum Beispiel Radarantennen und sogar leicht gepanzerte Fahrzeuge, zu bekämpfen. Ferner eignet sich dieser halbautomatische Rückstoßlader, um Minen oder Munition aus sicherer Entfernung unschädlich zu machen. Die Reichweite beträgt 1.800 Meter. Zwar bringt diese Waffe aus dem Hause des US-Herstellers Barrett mit 12,9 Kilogramm ordentlich was auf die Waage, doch gelang es in der Version A1, das Gewicht um immerhin 2,5 Kilogramm zu reduzieren, indem Barrett Titan und Aluminium verwendete. ■
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Strategie
Die Zukunft der Bundeswehr
Armee ohne Es erscheint paradox: Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor die Bundeswehr ihren „Hausfeind“. Dennoch hatte sie noch nie so viele Tote zu beklagen wie in den verganVon Alexander Querengässer genen zehn Jahren.
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uo vadis, Bundeswehr? Mit dem Ende des Kalten Krieges setzen in der Bundesrepublik Debatten über die Zukunft ihrer Streitkräfte ein. Dabei wird auch erörtert, ob die Armee außerhalb des NATO-Gebiets operieren soll. Die schwarzgelbe Bundesregierung befürwortet diese Einsätze im Rahmen von UN-Mandaten, die rot-grüne Opposition ist strikt dagegen. Auch in der Bevölkerung ist dieser Gedanke nicht mehrheitsfähig und selbst innerhalb der Bundeswehr stößt er auf Ablehnung.
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Dass Deutschland letztendlich nicht militärisch in die Golfkrise eingreift, liegt jedoch daran, dass die Regierung Kohl darin eine Gefahr für den Zwei-plus-Vier-Vertrag sieht, der noch ratifiziert werden muss.
Die ersten Auslandseinsätze Nach dem Einsatz von Sanitätspersonal in Kambodscha im Winter 1991/92 beordert die Bundesrepublik 1993 erstmals Bodentruppen in ein Kriegsgebiet. Im vom Bürgerkrieg zerrütteten Somalia werden 1.700 Heeressoldaten in Belet Uen sowie 600 Marineund 120 Luftwaffensoldaten in Dschibuti stationiert. Der Einsatz findet im Rahmen eines UN-Mandats statt. Belet Uen ist bewusst den Deutschen zugeteilt worden, da die Region als eine der friedlicheren im Land gilt. Die eingesetzten Verbände sollen die übrigen UN-Truppen vor allem logistisch unterstützen. Im März 1994 räumt die Bundeswehr Belet Uen schließlich. Im Jahr 2008 kommen allerdings erneut Marineverbände nach Dschibuti, um das ausufernde Piraten-
unwesen vor dem Horn von Afrika einzudämmen. Zeitweise kreuzen drei Fregatten der Bundesmarine im Indischen Ozean. In den 1990er-Jahren dreht die öffentliche Meinung, was das Thema Auslandseinsätze angeht, allerdings nicht. In der Politik zeichnet sich dagegen ein Kurswechsel ab. Mit den Petersberger Beschlüssen von 1992 stimmt die SPD Auslandsmissionen zu, die durch UN-Mandate sanktioniert sind. Genau dies ist jedoch der Knackpunkt, als sich die neue rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder mit der Frage konfrontiert sieht, ob sie im Rahmen eines NATO-Einsatzes in den Kosovokonflikt eingreifen soll. In der südserbischen Provinz tobt seit 1998 ein Bürgerkrieg zwischen der albanischen UCKMiliz, die nach Unabhängigkeit strebt, und der serbischen Armee. Obwohl beide Seiten
Feind?
FERN DER HEIMAT: Das Ende des Kalten Krieges erwies sich für die Bundeswehr mitnichten als das Ende der (Militär-)Geschichte. Denn vor allem im Kampf gegen den Terror beteiligte sie sich aktiv – wie hier in Afghanistan. Die Aufnahme zeigt Soldaten der in Kunduz stationierten 3. Task Force (ISAF) der Bundeswehr am 22. Ok-tober 2011 während einer Patrouille. Foto: picture-alliance/JOKER
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Strategie auf Drängen der UNO im Winter Verhandlungen aufnehmen, finden Sie keine befriedigende Lösung. Als die Kämpfe im Januar wieder aufflammen, nimmt die Zahl der Berichte über mutmaßliche Massaker an Kosovo-Albanern durch die Serben sprunghaft zu. Da die Erinnerungen an ähnliche Vorkommnisse seitens der serbischen Armee aus dem Bosnienkrieg noch frisch sind, schenken westliche Politiker diesen Meldungen bereitwillig Glauben. Nachdem auch die Verhandlungen von Rambouillet, wo über einen möglichen autonomen Status des Kosovo debattiert wird, von Jugoslawien abgebrochen werden, beschließt die NATO, militärisch gegen das Land vorzugehen, allerdings ohne entsprechendes UN-Mandat.
Umstrittene Luftschläge Der überwiegend von US-Truppen geführte Einsatz beginnt am 24. März 1999, als Langstreckenbomber, träger- und landgestützte Flugzeuge strategische Ziele in Serbien angreifen. Darüber hinaus schießen U-Boote Marschflugkörper ab. Daran beteiligt ist auch das in Italien stationierte Einsatzgeschwader 1 der Luftwaffe mit 14 TornadoJagdbombern. Diese bekämpfen serbische
Flugabwehrstellungen und Radaranlagen. In der Adria kreuzt die Fregatte RheinlandPfalz. Der Bundestag hatte den Einsatz zuvor mit 386 zu 258 Stimmen bewilligt, wobei die Mehrheit der beiden Regierungsparteien gegen den Einsatz stimmte. Doch die Luftangriffe zeigen zunächst nicht die von der NATO erhoffte Wirkung. Im Gegenteil, die serbische Armee beginnt, Hunderttausende Menschen, überwiegend muslimische Albaner, aus dem Kosovo zu vertreiben. Dies wiederum interpretieren die einzelnen NATO-Staaten als Versuch einer gezielten ethnischen Säuberung. Gerade in Deutschland, wo der Krieg äußerst unpopulär ist, werden diese Vorgänge dramatisch ausgeschlachtet. Es heißt, die serbische Regierung habe dies schon vor dem Beginn der Luftschläge genauestens geplant, ein Vorwurf, der sich bis heute nicht nachweisen lässt. Medienwirksame Berichte über Massaker der serbischen Armee sollen die Bevölkerung für den Kriegseinsatz einnehmen. In historischen Vergleichen werden die Gräueltaten der Serben mit denen von Wehrmacht und SS gleichgesetzt und der Einsatz zu einer humanitären Hilfsaktion wider den Völkermord stilisiert. „Humanitäre Hilfsak-
„Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz stehen.“ Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Begründung des Kosovokrieges
Ein schier endloser Einsatz Die Kritik am Kosovokrieg geht Hand in Hand mit einer wachsenden Skepsis gegenüber der US-Außenpolitik. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks versuchen die USA die Europäer zu überzeugen, dass das Verteidigungsbündnis seine politischen Interessen global vertreten muss. Doch gerade die Deutschen haben Zweifel. In der öffentlichen Meinung herrscht das Bild vor, dass der „Ami“ mit dieser „Out of area“-Politik nur „Weltpolizist“ spielen möchte. Im Juni gibt der serbische Präsident Milosevic dem militärischen Druck nach und räumt der Kosovo. Damit ist der Krieg jedoch noch nicht beendet. Den alliierten Luftstreitkräften folgen Bodentruppen, die die politische Stabilität der Region gewährleisten und Kämpfe zwischen Albanern und Serben verhindern sollen. Die K(osovo)-Force-Truppen teilen sich auf fünf Sektoren auf. Das deutsche Kontingent von knapp 3.000 Soldaten richtet vier Lager im Süden des Landes ein. Der KFOR Einsatz dauert bis heute an und ist damit der längste Auslandseinsatz der Bundeswehr. 27 Soldaten verloren im
MADE IN GERMANY: Diese US-Soldaten nutzen den Einsatz, um sich am deutschen MG3 zu versuchen. Im Gegenzug probierten die Deutschen amerikansiche Waffen aus. Die Schießübungen fanden im September 1993 am Strand nahe des Flughafens von Mogadischu statt. Foto: Lars Erdmann
BLAUHELM-EINSATZ: Dieser BundeswehrSoldat wartet im August 1993 im deutschen Feldlager in Somalia auf eine Fahrt nach Mogadischu. Bei dem Fahrzeug handelt es sich um einen Transportpanzer Foto: Lars Erdmann Fuchs.
APOKALYPTISCH: Ein US-Soldat im März 2003 im Südirak. Die Bundeswehr beteiligte sich nicht an diesem Krieg. Foto: picture-alliance/dpa
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tion“ wird auch in den kommenden Bundeswehreinsätzen das Schlagwort für die Einsätze der Bundeswehr bleiben. „Wir haben immer gesagt: ‚Nie wieder Krieg!‘ Aber wir haben auch immer gesagt: ‚Nie wieder Auschwitz!‘“, appelliert Außenminister Fischer und wird wenig später auf dem Parteitag der Grünen in Bielefeld mit einer Farbbombe beworfen. Kriegsgegner sprechen von einem Bruch des Völkerrechts, des internationalen Vertragsrechts und des Verfassungsrechts.
Bundeswehr erleidet erste Gefechtstote ANGETRETEN: Soldaten der Luftbeweglichen Brigade 1 in Fritzlar, Hessen. Die Brigade beteiligte sich bis zu ihrer Außerdienststellung 2013 an Auslandseinsätzen. Hier werden am 6. Mai 2010 Rückkehrer aus Afghanistan und dem Kosovo empfangen. Foto: picture-alliance/dpa
Rahmen der Mission ihr Leben, die Mehrheit davon allerdings durch Unfälle und nicht durch den Feind. Der Anschlag auf das World Trade Center 2001 erschüttert das Vertrauen der Deutschen in eine friedliche Zukunft. Die Befürchtungen der USA scheinen sich zu bewahrheiten. Es folgen die Kriege in Afghanistan und im Irak. Während Kanzler Schröder 2002 ein deutsches Kontingent im Rahmen der ISAF ins afghanische Kabul entsendet, beteiligt sich die Bundesrepublik auf der anderen Seite nicht am dritten Golfkrieg. Schröder weiß, dass ein großer Teil der Deutschen dies ablehnt. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan von 2002 bis 2014 stellt die verlustreichs-
te militärische Operation deutscher Truppen seit dem Zweiten Weltkrieg dar. 55 Soldaten verlieren ihr Leben, 35 durch unmittelbare Feindeinwirkung. Die steigende Zahl von Soldaten, die bei Auslandseinsätzen ums Leben kommen, löst auch neue Debatten über den Umgang mit den Gefallenen aus. In Bosnien, im Kosovo und in Kunduz errichtet sich die Bundeswehr ihre eigenen Ehrenmäler. Die FDP setzt sich für ein Denkmal am Reichstag ein, um den Status der Bundeswehr als Parlamentsarmee zu unterstreichen. 2009 wird schließlich ein solches Ehrenmal eingeweiht, allerdings am Bendlerblock und nicht nur für die Kriegstoten, sondern für alle 3.100 im Dienst verstorbenen Soldaten.
Hitzige Debatten entbrennen auch um mögliche Ehrenzeichen. 2007 etwa reichen über 5.000 Bundeswehrangehörige eine Petition beim Bundestag ein, in der sie fordern, das Eiserne Kreuz wieder einzuführen. Obwohl das Schinkelkreuz das offizielle Hoheitszeichen der Bundeswehr ist, stößt der Vorstoß im Bundestag und in der Öffentlichkeit auf Kritik. Dennoch stiftet man 2008 ein Ehrenkreuz für Tapferkeit. Weniger präsent, aber sicherlich wichtiger als die Frage, wie man Tote und Helden ehren soll, ist der Umgang mit traumatisierten Kriegsheimkehrern. Öffentlichkeit und Politik verdrängen dieses Problem lange Zeit. Erst 2009 eröffnet Verteidigungsminister
WACHSAM: Eine Feldjägerin im August 2010 in der Nähe von Pristina, Kosovo. Sie trägt eine moderne Maschinenpistole vom Tp MP7. Foto: picture-alliance/Hannibal Hanschke
KEIN ENDE IN SICHT: Der KFOR-Einsatz begann auch für die Bundeswehr bereits 1999. Selbst wenn es im Kosovo seit 2008 merklich ruhiger geworden ist, dauert die Mission an. Hier warten deutsche Soldaten am 10. Dezember 2013 in Novo Selo auf den Besuch des Verteidigungsministers ThoFoto: picture-alliance/dpa mas de Maizière.
NUR KEINE BERÜHRUNGSÄNGSTE: Ein deutscher Soldat durchsucht in der Ortschaft Vlasnja, nahe der albanischen Grenze, einen Albaner nach Waffen. Hintergrund ist die Übung Dymanic Response, die die NATO hier im März 2000 abhielt. Foto: picture-alliance/AP Photo
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Strategie Jung eine entsprechende Debatte im Bundestag. Gerade in dieser Zeit steigt die Anzahl von Soldaten, die mit posttraumatischen Belastungsstörungen aus dem Ausland zurückkehren, von 244 im Jahr 2009 auf 729 im Jahr 2011 an – kein Zufall, denn in diesem Zeitraum erreichen auch die Kämpfe in Afghanistan einen neuen Höhepunkt. Die Verlustraten aller ISAF-Truppen steigen von etwa 25 Mann monatlich im Frühjahr 2009 auf über 100 im Sommer 2010. Nach Angaben eines Bundeswehrpsychiaters ist es vor allem das Gefühl, sozial ausgegrenzt zu sein, welches die Kriegsheimkehrer belastet. Nach einem kurzen Rückgang 2013 steigt die Zahl der PBTS-Fälle heute wieder an. Ein stringentes Konzept gibt es nicht. Stattdessen marginalisierte eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums noch im März 2015 das Problem mit einer zunehmenden öffentlichen Sensibilität für das Thema.
Ist es ein Krieg? Die Herausforderungen, vor die sich die Bundeswehr gestellt sieht, sind enorm. Afghanistan ist das Vietnam des 21. Jahrhunderts. Es fehlt an entsprechender Ausrüstung, gepanzerten Fahrzeugen, Ersatzteilen. Und vor allem fehlt es am Rückhalt der eigenen Bevölkerung, die sich eher darüber amüsiert, dass weibliche Soldaten sich über den fehlenden Nachschub an Tampons beklagen, als eine Debatte über Ziele und Mittel des Einsatzes zu führen. Um Freiwillige zu gewinnen, streichen Offiziere dessen Charakter als Hilfsmission heraus und verharmlosen selbst den Umstand, dass es auch im deutschen Sektor Gebiete gibt, in denen pausenlos gekämpft wird. Zudem zeigen sich strukturelle Probleme der
„Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt.“ Peter Struck im Februar 2002
Bundeswehr. Jeder Kampfeinsatz muss politisch abgesegnet werden. Den Kommandeuren vor Ort wird die Entscheidungsfreiheit genommen. Dies gipfelt 2010 im „KunduzMassaker“. Die Bundeswehr hatte hier einen Luftschlag von US-Jagdbombern auf einen Tanklastzug angefordert, dem 142 Menschen, darunter auch Kinder, zum Opfer fielen. Dass der Krieg in Afghanistan ein asymmetrischer Konflikt ist, bei dem die Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten nahezu nonexistent sind, geht in der Debatte unter. Der deutsche Befehlshaber, Oberst Georg Klein, wird wegen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung angeklagt, später aber auf Druck der Bundesregierung freigesprochen. Allerdings bringt der Vorfall Bundesverteidigungsminister Jung zu Fall. Sein Nachfolger wird der CSU-Politiker Karl Theodor zu Guttenberg. Nachdem bereits acht Jahre Bundeswehrsoldaten am Hindukusch im Gefecht stehen, löst der neue Minister zunächst einen Sturm der Entrüstung aus, weil er feststellt, man könne beim ISAFEinsatz umgangssprachlich von „Krieg“ sprechen. Diese scheinbare Nebensächlichkeit hat ernste juristische Konsequenzen, die wesentlich auf den Kunduz-Vorfall zurückgeführt werden können. Für Kriege gilt das internationale Kriegsvölkerrecht. Dieses gibt den Soldaten vor Ort einen ganz anderen Handlungsspielraum. Doch in der neu entflammenden Debatte geht eine viel wichtigere
Bemerkung des Ministers unter, derzufolge die Bundeswehr überhaupt erst einmal eine Strategie für den weiteren Einsatz benötige.
Auf dem Weg zur Einsatzarmee Guttenberg sieht sich aber mit wesentlich dringenderen Problemen konfrontiert. Sie betreffen die Armee selbst. Die Bundeswehr steckt in einer Strukturkrise. Und dieses Problem ist seit der Wiedervereinigung bekannt. Bereits der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg plante die Transformation der Streitkräfte hin zur Einsatzarmee. Doch erst mit dem Afghanistaneinsatz und Peter Strucks berühmter Aussage, die Sicherheit Deutschlands werde auch am Hindukusch verteidigt, rückt dieses Problem wieder in den Vordergrund. Aus den ersten Konzepten gehen 2001 der Zentrale Sanitätsdienst und die Streitkräftebasis hervor. Damit werden zwar die logistischen Probleme gemindert, wenn auch nicht beseitigt, nicht jedoch die strukturellen. Um den Anforderungen einer modernen Armee zu genügen, muss die Bundeswehr sich von einer ihrer wichtigsten Traditionslinien trennen: der Wehrpflicht. Bereits das Strukturmodell 2010 sieht vor, die Anzahl der Grundwehrdienstleistenden auf 25.000 Mann zu reduzieren, während die Gesamtstärke des Heeres 156.000 betragen soll. Dieses Modell wird nach dem Rücktritt von Verteidigungsminister Jung jedoch nicht realisiert. Stattdes-
BRANDGEFÄHRLICH: Die 3. Task Force (ISAF) der Bundeswehr patrouilliert hier im Oktober 2011 während der mehrtägigen Operation Orpheus im Raum Nawabad gemeinsam mit Angehörigen der afghaniFoto: picture-alliance/JOKER schen Armee.
TRAGISCH: Oberst Georg Klein, Kommandeur des zivilmilitärischen Wiederaufbauteams, in Kunduz am 14. August 2009. Klein forderte 2010 den Luftangriff auf die Tanklastzüge an, bei dem auch Zivilisten ums Foto: picture-alliance/dpa Leben gekommen sind.
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Die Wehrpflicht in der Krise
Clausewitz Spezial LETZTE EHRE: Angehörige des Wachbataillons stehen hier im Berliner Ehrenmal für die im Dienst getöteten Soldaten Ehrenwache. Das Ehrenmal wurde erst am 8. September 2009 eingeweiht.
Internet: www.clausewitz-magazin.de Redaktionsanschrift CLAUSEWITZ Spezial Infanteriestr. 11a, 80797 München Tel. +49 (0) 89.13 06 99.720 Fax +49 (0) 89.13 06 99.700
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sen kann Guttenberg in einem Eilverfahren eine völlige Neuausrichtung durchsetzen. Das Konzept sieht vor, den Personalbestand auf 55.000 Mann zu beschränken und die Wehrpflicht auszusetzen. Schon am 15. Dezember 2010 genehmigt der Bundestag den Vorschlag und am 3. Januar 2011 treten die letzten Grundwehrdienstleistenden ihren Dienst an. Die Anzahl der Soldaten reduziert man jedoch nicht in dem Umfang, wie es Guttenberg geplant hatte. Stattdessen ist aktuell eine Etatstärke von 170.000 Mann vorgesehen. Das Heer als größte Teilstreitkraft wird von fünf auf drei Divisionen umstrukturiert, die Divisionsstruktur bei der Luftwaffe aufgelöst und diese in die Kommandos „Einsatzund Unterstützungsverbände“ eingeteilt. Die Marine besteht aktuell aus zwei Einsatzflotillen sowie dem Marinefliegerkommando.
Derzeit kämpft die Bundeswehr gegen ein wachsendes Imageproblem. Schwierigkeiten bei Materialbeschaffung und Einsatzbereitschaft von Gerätschaften ziehen ihr Ansehen ins Lächerliche. Doch dies ist nicht das Hauptproblem. In 25 Jahren seit der Wiedervereinigung hat sich noch kein mentaler Wandel in der öffentlichen und sogar politischen Meinung vollzogen. Die Bundeswehr wird vielleicht als parlamentarische Einrichtung, nicht jedoch als Einsatzarmee wahrgenommen. Tadellose Technik bereitzustellen, kann hier nur ein Schritt sein. Der Übergang zur Armee des 21. Jahrhunderts ist immer noch eine Herausforderung für die Zukunft. ■ Alexander Querengässer, Jg. 1987, ist Militärhistoriker und Autor aus Dresden.
SCHWIERIGES TERRAIN: Während einer Patrouille der 3. Task Force versank der Dingo-Transporter (im Bild) am 22. Oktober 2011 beinahe in einem Fluss. Soldaten einer Nachbareinheit halfen ihren Kameraden schließlich aus der Patsche und bargen dabei auch das Fahrzeug. Foto: picture-alliance/JOKER
ES IST GESCHAFFT: Dieses Abzeichen trugen die Angehörigen des ISAF-Einsatzes am Ärmel. Die Aufnahme entstand am 3. Oktober 2013 während der offiziellen Übergabe des Feldlagers an die Afghanische Armee (ANA). Foto: picture-alliance/dpa
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Epilog
Das Jahr 1980 stand noch ganz im Zeichen des Kalten Krieges – auch wenn man es diesen Soldaten, die hier am 15. Mai in Emden vereidigt werden, nicht unbedingt ansieht. Foto: picture-alliance/Werner Schilling
Eine starke Truppe Woran misst man den Erfolg einer Armee? Sind es ihre Erfolge im Gefecht oder sind es vielleicht sogar die Schlachten, die sie nie schlagen musste, weil ihre bloße Existenz abschreckte? Gilt Letzteres, kann man die Bundeswehr zweifellos als erfolgreichste deutsche Armee bezeichnen.
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