»D as K a p ita l h a t e in e n H o r r o r v o r A b w e s e n h e it von P r o fit. M it e n t s p re c h e n d e m P r o f it w ird K a p ita l k ü h n . F ü r 1 0 0 P r o z e n t s t a m p f t es a l le m e n s c h lic h e n G e s e tz e u n t e r s e in e n F u ß ; 3 0 0 P r o z e n t , u n d es e x i s t i e r t k e i n V e r b r e c h e n , d a s es n i c h t r i s k i e r t , s e lb s t a u f G e fa h r des G a lg e n s .«
T h o m a s Jo sep h D u n n in g (1799-1873),
englischer Gewerkschaftsfunktionär, zitiert nach Karl M arx, »Das Kapital «
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser ahrscheinlich hat noch kein von M enschen erdachtes System - keine Religion, keine Ideo logie, keine Philosophie - die W elt je so um fassend verändert wie der Kapitalismus. Denn erstens ist dieses Wirtschaftssystem anders als etwa das Christentum oder der Kommunismus wahrhaft global. Die Kaffeepflückerin in Angola, der Programmierer im Silicon Valley, die Stahlarbeiter in China, Japan, Russland: Sie alle sind Teil von internationalen Märkten. Und die Friseurin in Bang kok oder der Verkäufer auf dem Hamburger Gemüsemarkt konkurrieren mit ihren jeweiligen Nachbarn nebenan, die das gleiche Produkt, die gleiche Dienstleistung anbieten. Darüber hinaus schafft der Kapitalismus seit Jahrhun derten immer wieder Anreize für Erfindungen, die das Antlitz der Erde dramatisch verändert haben: von der Infrastruktur (Eisenbahntrassen, Straßen, Containerhäfen) über den Abbau von Bodenschätzen, der ganze Landschaften umgepflügt hat, bis zu den Industriestädten, die um Fabriken herum wucherten. Und schließlich berührt er nicht nur die Sphäre der Gü terproduktion, sondern hat die Tendenz, alles zur Ware zu machen: die Kommunikation (weil Telefone und Gesprächs zeiten Geld kosten), die Kultur (Bücher und Kinofilme sind Produkte, die in der Regel Profit machen sollen), ja selbst die Liebe (wie zumindest Ökonomen postulieren, die Liebe und Ehe als gewinnorientierte Zusammenschlüsse von Menschen betrachten, vergleichbar etwa Firmenfusionen). Dabei sind die Ursachen für den Triumph dieser W irt schaftsordnung im Grunde genommen sehr einfach: Der Ka pitalismus beruht auf zwei der stärksten menschlichen Emo tionen - Gier und Angst. Die Gier befeuert das Streben nach Gewinn. W eil aber die hohen Profite des einen M arktteilneh mers andere anlocken, entsteht Wettbewerb. Und im Konkur renzkampf kann nur überleben, wer seine Ressourcen ökono misch einsetzt, innovativ und einfallsreich ist. W er hingegen zu teuer produziert oder an der Nachfrage vorbei, wird ver drängt. Das ist die permanente Angst der Akteure. Dieser ständige Druck, gespeist aus dem Drang zu immer größerem Gewinn sowie der Furcht vor dem wirtschaftlichen Untergang, erklärt die unvergleichbare Produktivität der kapi talistischen Marktwirtschaft. Dieser Druck lastet auf allen A n bietern, ob sie Brötchen, Werkzeugmaschinen oder Autos verkaufen. Oder ihre Arbeitskraft. Und er erklärt auch die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Denn unkontrollier tes Gewinnstreben, ver bunden m it einer immer w eiter wachsenden Ge Konzeption schwindigkeit des W an H eftredakteur Jens-Rainer Berg (M .) dels und der Universalität wurde beraten von Dr. Carsten der W irtschaftsordnung, Pallas (I.) und C h ris to f Jeggle
W
GEO E P O C H E Kapitalism us
lässt nationale Krisen wieder und wieder zu weltweiten Kata strophen anschwellen. So wie 1929, als dem Börsencrash an der W all Street eine jahrelange globale Depression folgte. Oder im Jahr 2007, als das Platzen einer Immobilienblase in den USA eine dramatische Finanzkrise auslöste, die schließlich ganze Staaten in die Pleite zu stürzen drohte (und die noch lange nicht ausgestanden ist). Über die Finanzkrise - und das Zeitalter der Gier, das ihr vorangegangen ist - werden Sie ab Seite 126 einen Beitrag finden, der zu den längsten gehört, die wir je in GEOEPOCHE gedruckt haben. Denn an dem folgenreichen Untergang der Investmentbank Lehman Brothers lässt sich exemplarisch zei gen, was geschehen kann, wenn bestimmte Marktteilnehmer im Kapitalismus nicht überwacht, reguliert und für mögliche Verstöße zur Verantwortung gezogen werden. Zudem haben wir großen W ert darauf gelegt, die hoch komplexe Hintergrundgeschichte der Lehman-Pleite auch für Laien nachvollziehbar aufzubereiten. Ich gestehe: Erst durch diesen Beitrag habe ich richtig verstanden, wie brandgefährlich die Finanzprodukte waren, die sich die W all-Street-Banker hatten einfallen lassen, und wie grotesk zum Teil die Geschäfts modelle, die sich hinter CDOs, CDS und RM BS verbargen. Momentan ist weit und breit keine Alternative zum ka pitalistischen System zu erkennen; alle sozialistischen Staaten sind gescheitert (wie etwa die Sowjetunion), sind gerade dabei zu scheitern (wie Kuba) oder haben sich längst (wie China) auf den W eg in eine vom Profitdenken diktierte Gesellschaft ge macht. Und selbst die schärfsten Kritiker des Kapitalismus tun sich schwer, einen anderen W eg zu weisen. A ber ebenso klar ist - zum indest meiner M einung nach - , dass die Verfechter einer radikalen, von der Regierung und Aufsichtsbehörden mehr oder minder unkontrollierten M arktwirtschaft eine falsche Richtung einschlagen. Dass es vielmehr darum gehen muss, die Interessen der verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft vernünftig und fair auszutarie ren - mehr noch: die Interessen der Menschen in den verschie denen Regionen einer globalisierten und wirtschaftlich eng vernetzten Welt. Damit es solche Exzesse wie an der W all Street oder in den Ausbeutungsfabriken der sogenannten Dritten W elt eines Tages nicht mehr gibt. Herzlich Ihr
M ichael Schaper
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FLORENZ In der toskanischen Metropole entsteht um 1300 ein Bank wesen, das Kaufleuten risikoreiche, lukrative Geschäfte ermöglicht.
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FERNHANDEL Um
1600 gründen Nieder länder die Vereinigte Ostindien-Kompanie - die weltweit erste Firma, die sich durch börsengehandelte Aktien finanziert.
GEWINNSTREBEN Im 14. Jahrhundert entwickelt sich in Italien ein Wirtschafts system, das die Welt von Grund auf verändern wird: der Kapitalismus. War über Jahrtausende die Selbstversorgung die primäre Aufgabe des Wirtschaftens, beginnen Kaufleute nun, sich den möglichst großen Zugewinn zum Ziel zu setzen.
KARL MARX In England beobachtet der deutsche Philosoph das Elend der Industriearbeiter - und wird zum schärfsten Kritiker des Kapitalismus.
GROSSBRITANNIEN Mit der brutalen
FINANZBRANCHE Unbehelligt von der
Entmachtung der Gewerkschaften setzt die Regierung von Margaret Thatcher 1984 die Ideen des Neoliberalismus um.
Politik, wagen die Banker an der Wall Street immer irrwitzigere Wetten - bis die Gier 2008 zum Absturz führt.
GEO E P O C H E Kapitalism us
INHALT # 69 KAPITALISMUS DIE M A C H T DES PROFITS Im 14 . Jahrhundert entsteht ein Wirtschaftssystem, das auf maxi male Gewinne zielt. Und die Welt für immer verändern wird 6
NEOLIBERALISMUS, 1984 THATCHERS REVOLUTIO N Die Premierministerin will mehr Wettbewerb - und besiegelt brachial das Ende des Wohlfahrtsstaates 106
FLORENZ, UM 1 3 0 0 DIE ERSTEN KAPITALISTEN Damit aus ihrem Geld mehr Geld wird, wagen italienische Bankiers und Händler immer kompliziertere Transaktionen.........22
GLO BALISIERUNG , UM 1 9 9 0 HAN D E L OHNE GRENZEN Die Liberalisierung der Wirtschaft vernetzt die Märkte der Welt. Doch der Wandel geht zu Lasten der Schwachen............122
Z A H LU N G S M IT TE L DIE E V O LU TIO N DES GELDES Zunächst in Münzform, dann auf Papier gedruckt, heute oft digital: Geld ist der Treibstoff des Kapitalismus.....................30
FIN AN ZKA P ITA LIS M U S IM ZEITALTER DER GIER Nie sind die Spekulationen der Finanzbranche so ungezügelt wie zwischen 1 987 und 2 0 0 8 - mit fatalen Folgen..................... 126
H AN D E L, UM 1 6 0 0 M IT GEWEHR U N D G O LDW AAG E Als erste moderne Aktiengesellschaft der Welt erobert die Ver einigte Ostindien-Kompanie das Gewürzgeschäft mit Asien.....4 0
ZEITLEISTE DATEN U ND F A K T E N ...................................160
Bildquellen...................................................................................167 Die Welt von G E O ..................................................................... 168
KARL MARX, 1867 SYSTEM DER AUSBEUTUNG In seinem Hauptwerk analysiert der deutsche Philosoph den Industriekapitalismus - und prophezeit dessen Untergang......... 56
Impressum.................................................................................... 171
RÄUBERBARONE, UM 1 880 DAS PRINZIP ROCKEFELLER Der US-Olmagnat John D. Rockefeller wird Ende des 19. Jahr hunderts zum Inbegriff des rücksichtslosen Kapitalisten............. 74
VO RSCHAU KARL DER GROSSE UND DAS REICH DER DEUTSCHEN
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GROSSE DEPRESSION, 1929 DER SYSTEMAUSFALL Lange Zeit gilt: Nach der Krise kommt bald der Aufschwung. Bis zum Tag, an dem die Wall Street einbricht............................ 90
BRD, AB 1949 GEZÄHM TER KAPITALISMUS Das Wirtschaftssystem der jungen Bundesrepublik steht für eine sozialere Gesellschaft - zu Recht?................................104
Ein Verzeichnis mit den Themen aller GEOEPOCHf-Ausgaben sowie einen Briefkasten für Leserzuschriften finden Sie unter www.geo-epoche.de - oder besuchen Sie uns auf Facebook
T it e lb ild : »The E xp e rt« vo n C a rl Barks. A lle F a k te n , D a te n und K a rten in d ie se r A u s g a b e sind vo m G E O E P O C H E -V e rifik a tio n s te a m a u f ih re R ic h tig k e it ü b e rp rü ft w o rd e n . K ü rzu n g e n in Z it a t e n sind n ic h t k e n n tlic h g e m a c h t. R e d a k tio n s s c h lu s s : 2 6 . S e p te m b e r 2 01 4
GEO EPOC HE K a p ita lis m u s
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Kapitalismus
Die Macht des PROFITS U m 130 0 r e i f t in Ita lie n ein neues W ir ts c h a fts s y s te m heran, das vo n e in e r sim p le n , ab er h o c h w irk s a m e n Idee a n g e trie b e n w ird : A u s G e ld soll m e h r G e ld w erd e n . G in g es z u v o r m e is t d a rum , die E xiste n z zu sich ern o d e r sich sta n d e sge m ä ß zu ve rs o rg e n , g e rä t j e t z t der m ö g lic h s t g ro ß e Z u g e w in n zum Z ie l des W ir ts c h a fte n s . D a fü r setzen M e n sche n eigenes o d e r g e lie h e n es V e rm ö g e n ein: K a p ita l. U nd e n tfe s s e ln so eine D y n a m ik , die die W e lt von G ru n d a u f v e rä n d e rt T e xte : J E N S - R A IN E R B E R G
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GEO EP O C H E Kapitalismus
Kaufleute folgen als Erste der kapitalistischen Wirtschaftsweise: Wie dieser Danziger Händler um 1530 dokumentieren sie in ihren Geschäftsbüchern (rechts unten) präzise Kosten und Ertrag ihrer Investitionen (Gemälde von Hans Holbein d. J., 1532) GEO EPOCHE Kapitalismus
Ein Platz zum
TAUSCHEN
D e r M a r k t ist die H e rzka m m e r des K a p i talism us. H ie r t r e f f e n M enschen zusammen, um G ü te r auszutauschen und d a m it G eld zu v e r dienen. A n fa n g s werden nur einige D in g e des tä g lich e n Lebens g e h a n delt. Später w ird so g u t wie alles zur W are
s
GEO E P O C H E Kapitalismus
Kapitalismus
Im Mittelalter versorgen sich die Menschen noch zum großen Teil selbst. Doch nach und nach wird die Landwirtschaft ertragreicher, produziert Überschüsse, die die Bauern auf Märkten wie hier in Mailand gewinnbringend anbieten können. So orientiert sich auch die Agrarwelt allmählich an kapitalistischen Grundsätzen (Alessandro Magnasco, um 1730) GEO EP O C H E Kapitalism us
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GEO EP O C H E Kapitalismus
Das Geschäft mit dem GELD
Je komplexer der Handel und je ausge prägter die A rb e its te ilu n g , desto w ichtiger wird Geld: um G ü te r nicht d irekt gegen einander tauschen zu müssen - und in Form von Kredit. Um 1250 ermöglichen die
den Kaufleuten gewaltige Geschäfte
Kapitalismus
ersten Bankiers in Italien m it ihren Darlehen
Ein Geldwechsler in den Niederlanden wiegt Münzen aus Edelmetall ab, um deren Wert zu prüfen. Geschäftsleute wie dieser tauschen im ausgehenden Mittelalter nicht nur Währungen, sondern verleihen oft auch Geld gegen Zinsen - eine Aufgabe, die jedoch zunehmend richtige Banken übernehmen (Quentin Massys, 1514)
GEO EP O C H E Kapitalismus
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Treffpunkt der
INVESTOREN
Im L a u fe der Z e it en tw ickeln K a u fle u te im m er a u sg e fe ilte re M eth od en , um das W ir t s c h a f t e n zu e r le ic h tern: S ie e rfin d e n b a rg e ld lo se Z a h l u n g s m ittel, ü b e rtra g b a re S c h u ld s c h e in e , A k t ie n . 1531 rich tet A n tw e rp e n
die erste fe ste Bö rse für F in a n z g e s c h ä ft e ein - unter anderem , um den H a n d e l mit K a p ita l besser zu k o n trollieren
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GEO EP O C H E Kapitalismus
K apitalism us
An den frühen Börsen wie hier in Amsterdam wickeln Händler Warengeschäfte ab, verständigen sich aber auch über Kauf und Verkauf von unterschiedlichsten Wertpapieren. Anfang des 17. Jahrhunderts gibt die nieder ländische Vereinigte Ostindien-Kompanie als erste Aktiengesellschaft der Welt Anteilsscheine aus, auf die sie stetig eine Dividende zahlt, eine Gewinnausschüttung (Job Adriaenszoon Berckheyde, um 1670) GEO EP O C H E Kapitalismus
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G o ld g e sch m ü ckte T apeten, edle T isch te p p ich e , te u re G e m ä ld e im Haus e in e r nied erlä n disch e n B ü rg e rfa m ilie um 1680: Im K a p ita lism u s h a t d e r K onsum schon bald eine w ic h tig e F u n ktio n , er tr e ib t die N a ch fra g e an. D o ch d e r w ic h tig s te M o to r b le ib t d e r W ille zum P ro fit (E m anuel de W itte , 1678)
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GEO EP O C H E Knpit.-llisrnus
Eine ELITE aus eigener Kraft
In der Regel investieren die neuen U nternehm er einen G roßteil ihres Gewinns in weitere Projekte, vermehren so ihr ertragbringendes Kapital. Doch sie leisten sich o f t auch edle Dinge, die zeigen, dass
von Privilegierten gibt, die ihren Status nicht auf H e rk u n ft zu rückführt, sondern auf
Kapitalismus
es neben den Adeligen nun eine Gruppe
den w irtschaftlichen Erfolg
GEO E P O C H E Kapitalism us
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Der ewige Zwang zur VERÄNDERUNG
Um 1750 e rfa sst der K a p it a lis m u s v e rstä rk t auch die P ro d u k tio n von G ü te rn . In ihrem S tre b e n nach hohen G e w in n e n - aber auch g e trie b e n von der K o n k u rre n z - versuche n F a b rik a n te n , durch te c h n isch e N e u e r u n gen und o p tim ie rte A rb e its p ro z e s s e die H e r s te llu n g von W aren im m er e ffiz ie n te r zu o rg an isie re n
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GEO E P O C H E K a p i t a l i s m u s
Kapitalismus
Erfindungen, die es erlauben, ein Produkt schneller und in besserer Qualität herzustellen, erhöhen den Profit. Vom 18 . Jahrhundert an ersetzen Unternehmer vielerorts altes Handwerk durch Massenfertigung. In dieser italienischen Seidenmanufaktur lösen Frauen die Fäden in Warmwasserbecken aus den Kokons, um sie auf spezielle Apparaturen zu wickeln. Später werden die Einzelstränge von Maschinen verzwirnt (Giovanni Migliara, 1820 ) GEO E P O C H E Kapitalismus
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N u r a u f die A n k ü n d ig u n g hin, dass die L o n d o n e r S o u th Sea C o m p a n y m it dem L a te in a m e rika -H a n d e l fa b e lh a fte G ew inne m achen werde, versetzen um 1720 viele M enschen ihren Besitz, um A n te ile der G e se llsch a ft zu kaufen, bedrängen wie h ie r die M akler. A ls die E rfo lg e je d o ch a u sbleiben, k o lla b ie rt der vie l zu hohe A k tie n k u rs der C o m pa n y und lö st dabei in Lon do n eine w irts c h a ftlic h e D e pression aus (E dw ard M a tth e w W ard, 1847)
1«
GEO EP O C H E Kapil.llism us
Die Kehrseite des WACHSTUMS
V o m 17. J a h r h u n d e r t an b e t e i l i g e n sich i m m e r m e h r A n l e g e r an U n t e r
i h r G e l d , h e l f e n so b e i der Finanzierung der
Kapitalismus
n e h m e n ; si e i n v e s t i e r e n
G e s c h ä fte und sind d a fü r am G e w in n bete ilig t. D o c h v e r lo c k e n d e r sind o f t riska nte W e tte n a uf die Z u k u n f t - In v e s ti t io n e n , die a llein a u f die E n tw ic k lu n g von P rei sen u n d K u r s e n s e tz e n . W e n n a b e r die G ie r zu S p e k u l a t i o n s b l a s e n fü h r t , die schließlich p la tze n, stü rze n viele in d e n R u i n
GEO EP O C H E Kapitalismus
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Die
VERWANDLUNG der Welt
Im Rauch der Fabriken e n tfa lte t der Kapitalismus ab 1 8 0 0 eine noch größere Kraft: Die industrielle Produktion u n te rw irft bald nahezu alle Lebens bereiche der Logik von M arkt und P rofit, b ring t materiellen Fortschritt, aber auch soziales Elend. Und wird die folgenden Jahrhunderte stärker denn je bestimmen
GEO EP O C H E Kapitalismus
M e h r und m ehr M enschen a rb e ite n ab 1800 in Fabriken wie diesem H a m m e rw e rk, ziehen vom Land in die S tädte. D ie A rb e its k ra ft, fü r viele e in stig e K le in b a u ern und H a n d w e rke r n u n m e h r fa st der ein zige Besitz, w ird wie eine W are a u f dem M a rk t g e h an d e lt. U nd a u sg en u tzt: A rb e its ta g e von bis zu 16 S tunden, g e fä h rlich e T ä tig k e ite n , Z ü c h tig u n g e n . K in d e ra rb e it. D och die P ro d u k tiv itä t der W irts c h a ft s te ig t, und la n g fris tig verbessern sich die Lebensverhältnisse fa st a lle r B e sch ä ftig te n (G o d fre y Sykes. 1850) ^
GEO EP O C H E Kapitalismus
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F lo re n z -
um 1300
Die
PIONIERE einer neuen ORDNUNG
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Die ersten Banken bestehen o ft aus kaum m ehr als dem Wechsel tisch und werden von zwei oder drei G eschäfts partnern geführt
In Florenz und anderen Städten M ittel- und Norditaliens wagen sich im 14. Jahrhundert manche Kaufleute an immer kom plexere Transaktionen, operieren m it Wechseln und Zahlungs anweisungen, gründen Banken und verwenden eine einfache Form der doppelten Buchführung. Alles m it dem Ziel, möglichst hohe Profite zu erwirtschaften. Diese Händler sind die Vorboten einer neuen Zeit: Es sind die ersten Kapitalisten --------------
Von O L IV E R FIS C H E R
M it mehr als 90 000 Einwohnern gehört Florenz um 1300 zu den größten Städten Europas. Tuchhersteller, H ändler und Bankiers sorgen für eine G eschäftigkeit, in der der Kapitalismus zum ersten Mal aufblüht. Die neue Elite zeigt ihren W ohlstand m it Prachtbauten wie dem 1314 vollendeten Palazzo della Signoria (heute Palazzo Vecchio, hinten rechts), dem Sitz der Stadtregierung, vor dem sich hier Menschen zu einem Festumzug versam m elt haben
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Die Revolution kom m t still und schleichend. Kein Tyrann w ird gestürzt, kein G efängnis gestürm t. N iem and schreibt M anifeste, keiner brüllt Paro len. U nd doch ist sie eine der gew altigsten U m wälzungen in der Geschichte der M enschheit: die G eburt des Kapitalismus. Für im m er verändert dieses System die A rt, wie M enschen wirtschaften. N icht die bloße Ver sorgung, das Überleben, ist nun Ziel aller M ühen, auch nicht nur die Befriedigung von bestim m ten m ateriellen Bedürfnissen, sondern eine abstrakte Kategorie: der G ew inn, das M ehr-als-zuvor. U nd selbst dieses M eh r ist nicht genug; es soll nicht gehortet, sondern eingesetzt werden, um noch m ehr zu erbringen: A us K apital soll m ehr Kapital werden, selbst w enn das Risiko groß ist. Schon seit Jahrtausenden setzen H än d le r G eld ein, um W aren zu kaufen und sie anschlie ßend gew innbringend au f einem M ark t zu ver kaufen: Sie investieren also. U nd H ändler sind es auch, die bereits um die Zeitenwende in manchen Regionen der Erde, etwa in Rom , au f die neue W irtschaftsw eise des Profitstrebens setzen, zu m indest in A nsätzen kapitalistisch handeln. D och erst im Italien des späten M ittelalters verdichtet sich das kapitalistische D enken erstmals zu jener Kraft, welche die G eschichte nachhaltig prägen wird. In den Stadtstaaten der A penninen-H albinsel w ird im frühen 14. Jahrhundert das Erreichen hoher Profite um jeden Preis - lange Z eit von der Kirche als Z eichen gottloser H abgier gebrand m arkt - zum Ziel eines jeden klugen Kaufmanns. H ier perfektionieren die H ändler die Techniken des Kalkulierens, Investierens und Bezahlens. H ier entsteht ein entwickeltes Bankwesen, in dem so gar das G eld selbst zur W are wird. U nd hier for men die neuen kapitalistischen Kaufleute Leben, Gesellschaft und Politik ihrer Gemeinwesen. W ohl an keinem O rt wird das klarer sichtbar als in Florenz, um 1300 eine der größten Städte Europas. Ü ber 90 000 M enschen bewegen sich täglich durch die Straßen der M etropole, m ehr als in L ondon oder Rom. Lasttiere trotten durch die
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Die Geld wechsler führen Konten für ihre Kunden
Tore, hochbeladen m it englischer W olle und fei nen Stoffen aus F lan d ern . W agen m it Säcken voller W eizen aus Apulien erreichen die M auern, unterw egs zur großen G etreidem arkthalle nahe dem D om , wo die M üller bereits warten. In m itten jenes Kosmos aus G eschäftigkeit haben Schulen eröffnet, wie es sie nie zuvor ge geben hat. H u n d erte Kinder lernen hier nur eine einzige Fertigkeit: rechnen. Jahrhundertelang war M athem atik in E uro pa eine gering geschätzte W issenschaft, kaum jem and konnte dividieren oder m ultiplizieren w ohl deshalb, w eil kaum jem an d wusste, wozu diese Z ahlenkünste gut sein sollen. D och das hat sich geändert, denn in der Stadt gibt es inzwischen viele Betriebe, in denen B uchhalter und andere M än n er gebraucht w erden, die rechnen können. In den L ehranstalten üben Jungen die vier G rundrechenarten, lösen Aufgaben zum Dreisatz und Bruchrechnen. Sie nutzen dabei den Abakus, ein R echenbrett m it kleinen Steinen, die für die Zahlenwerte stehen. Das G erät hat dieser A rt von Schule ihren N am en gegeben: scuola d ’abbaco. Immer komplexer werden im Laufe der Aus bildung die Fragen der Lehrer: W ie viel Zinsen erhält m an über eine D auer von zehn Jahren au f ein K a pital von 2000 Lire, wenn der jäh rlich e Z in ssatz bei acht P ro zen t liegt? U n d wie viel bei zehn Prozent? N ach etwa zwei Jahren begin n en viele Schüler, für eine der etwa 200 Textilwerk stätten in Florenz zu arbei ten , wo sie u n te r anderem lernen, die Kassen zu verwal ten. O der sie arbeiten bei ei ner der m ehr als 60 Banken, die in den Jahrzehnten zuvor gegründet w orden sind - oft von Geldwechslern, die nach u n d nach begonnen haben, für ihre K unden n ich t nur frem de W ä h ru n g en b ereit zuhalten, sondern ihnen Kre dite zu geben. D ie B anken sind klein, häufig hab en sie nur einen oder zwei M itarb eiter; von der Straße aus sind sie leicht zu erkennen an dem großen T isc h , der stets m it einem Teppich bedeckt ist. D er T raum aller A b a kus-S ch ü ler aber ist sicher
GEO E P O C H E Kapitalismus
eine Stelle bei einem der großen Handelshäuser der Stadt, in denen oft 30 oder mehr Angestellte die Kassenbücher fuhren, Verträge ausfertigen und mit Niederlassungen in Brügge, Palermo und Tu nis korrespondieren. Nur die Besten schaffen es, hier anzuheuern. Bei Kaufleuten wie den Peruzzi. Viel erzählt man sich in den Gassen über die Geschäfte dieser Familie. Gerüchte gehen um über die außergewöhnlich hohen Kredite, mit denen die Peruzzi angeblich den stets klammen König von Neapel versorgen. Doch Geldverleih macht nur den kleineren Teil der Geschäfte der Firma aus, die von dem Oberhaupt Tommaso Peruzzi geleitet wird. Das Unternehmen handelt mit großen Mengen Ge treide aus Neapel, verkauft es in Florenz, Tunis und vielen anderen Städten am Mittelmeer. Aus England lassen die Peruzzi Wolle kom men, aus Sizilien W ein, Käse und gesalzenen Thunfisch. In Florenz besitzen sie drei Mühlen, sind dazu an einem Pelzladen beteiligt. Kein Geschäft ist ihnen zu klein, keines zu weit ent fernt - Hauptsache, es bringt hohe Renditen. Und nicht nur die Familienangehörigen pro fitieren davon, auch Außenstehende können sich
an der Firma beteiligen. Es ist eine „Handels gesellschaft“: Die rund 20 Teilhaber arbeiten in der Firma mit und erhalten entsprechend ihrem Anteil am Unternehmen einen Teil des Gewinns (müssen aber auch für mögliche Verluste einste hen). Darüber hinaus gibt es 300 „stille“ Teilhaber: Adelige, Landbesitzer und Kirchenmänner, die für ihre Einlagen einen Zinssatz von sieben oder acht Prozent jährlich erhalten. So haben die Unternehmer stets große Men gen Kapitals zur Verfügung. Nur wenige andere Firmeninhaber nutzen diese neue Art des W irtschaftens so geschickt wie die Peruzzi. Aber kaum einer wird auch so tief fallen.
Mehr als 60 Banken gibt es um 1300 in Florenz, darunter bald international tätige Unternehmen mit Filialen überall in Europa, angestellten Geschäftsführern und zahlreichen Beschäftigten
Sie liegen weit zurück, die Ursprünge des Kapi talismus: Seine W urzeln gründen in mehreren Kulturen auf unterschiedlichen Kontinenten, be Florenz
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einflussen sich aber oftmals auch gegenseitig und bilden verschiedene Facetten aus. Bereits in der A ntike treiben die Kaufleute der griechischen S tadtstaaten F ernhandel, reisen nach Ä gypten, Sizilien, an die Schwarzmeerküste, um etwa G etreide zu kaufen. M anche schließen sich für die D auer einer Reise m it anderen H ä n d lern zusam m en, teilen am E n d e die Profite. A uch im Im perium R om anum transportie ren H än d ler W aren wie O livenöl oder kostbares G eschirr über w eite Strecken aus den Provinzen nach Rom . Besitzer großer L andgüter verkaufen N ahrungsm ittel in die Städte. D och nach im m er höheren G ew innen streben die Kaufleute im A ll gem einen nicht: Ih n en ist ein sicheres G eschäft lieber als ein hochprofitables m it großem Risiko. Als im 2. Ja h rh u n d e rt n. Chr. im Im perium Seuchen w üten u nd H u n d ertta u sen d e sterben, bricht der Fernhandel jedoch in vielen Provinzen zusammen. Eine W irtschaftskrise beginnt, von der sich der W estteil des Reiches lange nicht erholt. In C h in a k om m t 960 n. C hr. die handels freu ndliche D y n astie der S ong -K aiser an die M acht - und eröffnet ein Z eitalter von D ynam ik und Profit. D ie H errscher bauen eine starke Flotte, in deren Schutz Kaufleute an die K üsten Indiens und A rabiens, sogar bis nach O stafrika reisen. In die frem den L änder bringen die H ändler Porzel lan u nd Seide, kaufen dort G ew ürze, Pferde und E delsteine und m achen dabei gute G ew inne. C h in a b lü h t a u f u n d erreicht um das Ja h r 1000 das höchste Pro-K opfE inkom m en der W elt. Sogar P ap ie rg e ld ist b e re its im U m la u f- in E uropa w erden Banknoten erst Jahrhunderte sp äter g ed ru c k t. A ls aber m ongolische R eiterk rieg er die D ynastie 1279 stürzen, setzt sich dieser w irtsch aft liche A ufschwung nicht fort. E tw a zur gleichen Z eit w ie die S ong-K aiser h e rr schen die Kalifen von B ag dad ü ber ein m uslim isches G ro ß reich . G ew in n streb en ist im Islam nichts A n stö ßiges: S chon der P ro p h e t M o h a m m e d a rb e ite te der Ü b e rlie fe ru n g zufolge als K aufm ann. U n d so m achen arabische H ändler Geschäfte auf drei Erdteilen, ziehen mit K araw anen d u rch A frik a, fahren m it Schiffen nach In dien, C hina und Südeuropa.
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U m das B ezahlen von W aren ü ber w eite E n tfernungen zu erleichtern, nutzen sie Schecks: unterschriebene Papierstücke, die sie bei einem Bankier an einem fernen O rt gegen G eld eintauschen. Sie verleihen G eld gegen Z insen, investie ren einen Teil ihrer G ew inne in neue Geschäfte. L ange Z eit floriert der H an d el in der m us lim ischen W elt - bis im 11. Jah rh u n d ert im W es ten ein ernsthafter neuer K onkurrent ersteht.
Arbeiter in einer Wollmühle, Mehr als 200 Woll-Werkstätten gibt es in Florenz. Kaufleute liefern das berühmte Tuch an Abnehmer in Italien und ganz Europa - es ist die Grundlage des Reichtums in der Stadt
E uropa beginnt in jen er Z eit seinen Aufstieg zur führenden W irtschaftsm acht der W elt, und seine Kaufleute nutzen dabei die T echniken des kapi talistischen W irtsch a fte n s konsequenter als die H än d ler der anderen Kulturen. D abei sind w eite Teile des A bendlandes bis etwa 1000 n. Chr. noch dünn besiedelt. Städte gibt es kaum , n u r Klöster, B urgen u n d w eit vonein ander en tfern t liegende D örfer. D as wenige, was die B öden hergeben, verzehren die Bauern oder liefern es als Abgabe an ihre G rundherren. Es gibt so gut wie keine Überschüsse, kaum etwas, w om it m an H andel treiben könnte - und viel zu wenige M enschen, die W aren kaufen könnten. D o ch zum Jah rtau sen d w echsel n im m t die Z a h l der E uropäer rasch zu - vor allem w ohl deshalb, weil schon län gere Z eit keine Seuchen gras siert haben und sich das Klima erw ärm t. E tw a zur gleichen Z eit beginnen die Bauern, die A n b au fläch e p la n m äß ig zu vergrößern und bei ihrer Feld arbeit neue M ethoden zu n u t zen. Sie reißen die Böden nun beispielsw eise m it schw eren Pflügen auf, statt sie wie zuvor m it einem H aken zu ritzen. D ie effizien ter b e w irt sc h a fte te n Ä ck er e rn ä h re n m ehr M enschen, die Einw oh nerzahl n im m t weiter zu. D ie B a u ern k ö n n e n ein en T eil ihrer E rn te nun m it G ew inn verkaufen, etwa auf den M ärk ten der S tädte, die aufleben oder von H errschern ganz neu begründet werden.
GEO E P O C H E Kapitalism us
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auf neu angelegten H olzstegen bewegen sie sich h ier d u rch S chluchten, um zu den S tädten Süddeutschlands zu gelangen. A ll diese Geschäftsreisen sind voller R isiken: F ür den S eeh an d el m uss ein K aufm ann ein S chiff chartern, muss K a p itä n u n d M a n n sch a ft bezahlen, viel für den K auf von W aren ausgeben - und schon ein U n w etter au f See kann sein Investm ent ruinieren. A u f dem Festland lauern Wegelagerer a u f g roße Beute, besonders die d ich ten W älder um Paris sind b erüchtigt für ihre Räuberbanden. A b etwa 1200 le b t der Fernhandel, seit dem D o ch kein W eg ist den italienischen Kauf Ende des Im perium leu ten zu m ühsam , keine Reise zu gefährlich, Rom anum in weiten Teilen w enn ein guter G ew inn zu erw arten ist. Europas verfallen, wieder D en erhoffen sie sich beispielsweise auf den auf. Zentren sind die M essen im N ordosten Frankreichs. A b E nde des Städte Italiens, die von 12. Ja h rh u n d e rts treffen sich a u f diesen großen überregionalen M ärkten sechsmal im Jahr H än d ihrer Lage zwischen ler aus F lan d ern , dem R heinland und den d eu t O rie n t und M itte le u ro p a schen H ansestädten. D ie Italiener verkaufen dort p ro fitie re n
DIE ITALIENISCHEN STADTREPUBLIKEN Florenz
A uch der Fernhandel, seit dem E nde des Röm ischen Reiches in w eiten Teilen E uropas verküm m ert, setzt w ieder ein. Vor allem jüdische K aufleute, die seit Jahrhunderten die w enigen W ohlhaben den m it Luxusw aren versorgen, dehnen ihre R outen aus, bringen K ostbarkeiten wie Salz u nd W ein n un von O rt zu O rt. Z e n tre n dieses erb lü h en d en H andels werden die H afenorte N ord- und M ittelitaliens - Venedig, Pisa und G enua. D en n ihre Lage ist günstig: U ber das M ittelm ee r sind sie m it den großen H andelsm ächten des O rients verbunden, dem Im perium der K aiser von Byzanz und dem Reich der Kalifen. D ort kaufen italienische H än d ler W aren wie Seide, Papier, W eihrauch u nd E l fenbein. Von O beritalien aus sind auch die nun w irtschaftlich aufstrebenden R egionen M itte l europas gut zu erreichen. U n d dort, in F landern, Burgund und Schwaben, w arten K unden auf die K ostbarkeiten aus dem M orgenland. D e n V enezianern n ü tz t bei diesem O stW est-H andel ihre traditionelle V erbindung nach Byzanz: D ie H errscher von K onstantinopel sind form al ihre obersten L ehnsherren. D a die N o rd italiener den byzantinischen Kaiser in m ehreren K riegszügen m it S chiffen u n te rs tü tz t haben, erhalten sie 1082 in fast all seinen H äfen Steuerund Zollfreiheit - ein gewaltiges Privileg, um das sie die Kaufleute der anderen Städte beneiden. D ie H ä n d le r aus G en u a u n d P isa sichern sich bald Privilegien für den H an d el m it N o rd afrika. U n d alle drei S tädte grü n d en N iederlas sungen in den H äfen des Heiligen Landes, in dem seit 1099 die Kreuzfahrer herrschen. Venedig, G enua und Pisa sind w eitgehend unabhängige S tadtrepubliken. M e ist ohne E in m ischung ausw ärtiger H errsch er verw alten sie ihre A ngelegenheiten selbst - und das hilft ihnen bei ihrem kom m erziellen A ufstieg: D e n n die K aufleute kö n n en sich an der P o litik b eteili gen. D ie Regierungen unterstützen den H andel, sichern etwa m it ihren F lotten die Seewege. Ü berall im östlichen M ittelm eer segeln in zwischen die Zw eim aster der italienischen Kauf leute, oft in Konvois von 50 oder m ehr Schiffen. In Venedig legen zweimal im Jahr solche G eleit züge ab, die au f festen R outen R ichtung Byzanz, Palästina un d A lexandria fahren. A uch a u f dem F estland sind die Italiener unterw egs. H än d le r führen ihre Packtiere über die V ia Francigena, die sich durch die H ügel der T oskana über den A p en n in nordw ärts bis zum G roßen St.-Bernhard-Pass zieht. D o rt überqueren die Kaufleute die A lpen, reiten weiter nach N ord europa. Ab 1237 nutzen sie auch den Gotthardpass;
M ailand
Verona Venedig
Istrien Ferrara G enua Ravenna
A ncona >
Korsika (zu Genua)
KG R. NEAPEL
Grenzen der Herrschafts gebiete um 1300
Die nördliche Hälfte Italiens zerfällt um 1300 in eine Vielzahl von Stadtrepubliken wie Florenz, Siena, Genua und Venedig, die erbitterte wirtschaftliche Konkurrenten sind, aber auch immer wieder Krieg gegeneinander führen 27
die Luxuswaren aus dem Orient, selbst Hofliefe ranten des französischen Königs decken sich bei ihnen ein. A uf dem Heimweg in die Toskana nehmen die Kaufleute Wolltuch aus den Nieder landen mit, das für hohe Qualität berühmt ist. Auch Geschäftsleute aus Florenz reisen zu den Messen. An ihrer Stadt, rund 80 Kilometer vom Meer entfernt, ist der Aufbruch der italieni schen Kaufleute lange Zeit vorbeigegangen. Doch seit etwa 1170 holen die Florentiner rasant auf, vor allem dank der vielen kleinen Textilwerkstätten in der Stadt sowie des Getreidehandels, der enorm wichtig ist, um die Einwohner der schnell wach senden Metropole zu ernähren. Zum Zeichen seines neuen W ohlstands prägt Florenz ab 1252 eigene Goldmünzen, den Florin - ein Zeichen des Selbstbewusstseins und
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Selbstbewusst lassen sich die Ange hörigen der neuen Kaufmannselite von den angesehensten Künstlern ihrer Zeit porträtieren - wie hier ein Florentiner G e schäftsmann um 1506 von dem berühm ten Raffael
der Souveränität. Voller Kraft stoßen die Florentiner nun in fast jede ökonomische Lücke vor, die die Händler der großen Hafen städte gelassen haben: Sie verkau fen Süßwein aus Süditalien in England, bringen Zinngeschirr von England nach Italien, trans portieren Mandeln von Valencia nach Brügge. Und sie exportieren die Wolltuche aus den Florenti ner Textilwerkstätten in andere Städte Italiens und in den Orient. Vermutlich bildet sich in dieser Zeit unter Italiens Kauf leuten eine neue M entalität her aus, die man später „kapitalis tisch“ nennen wird. Es ist eine Geisteshaltung, in der sich zwei gegensätzliche Eigenschaften mi schen: einerseits Wagemut, der die Händler auf der Suche nach Profiten immer höhere Risiken eingehen lässt, andererseits ein nüchternes Kalkulieren, um eben diese Risiken zu bändigen. Über ihre Motive und Ge schäftsstrategien haben die Kauf leute kaum Aufzeichnungen hin terlassen. Aber man kann ihre Denkart rekonstruieren: an der W eise, wie sie ihren Handel or ganisieren. Und an den Rechts formen, die sie perfektionieren, systematisieren oder neu schaffen, um ihre Geschäfte abzuwickeln, um an Kapital zu kommen, um ihre Transaktionen abzusichern. Kaum eine Institution ver körpert den Geist der neuen Zeit so sehr wie die com m enda (was so viel bedeutet wie „jemandem etwas anvertrauen“), eine geschäftliche Partner schaft, zu der mindestens zwei Kaufleute gehören: einer, der auf eine Handelsfahrt geht, und einer, der zu Hause bleibt. Derjenige, der vor Ort wartet, überlässt dem Reisenden eine Summe Geldes, um Geschäfte zu machen. Der Leihgeber trägt alle Risiken bis hin zum Totalverlust des Kapitals, dafür erhält er nach Rückkehr seines Kompagnons in der Regel 75 Prozent des Gewinns. Ein manchmal hochprofitables Geschäft: Ein Leihgeber aus Genua etwa schafft es zwi schen 1156 und 1158, bei drei Partnerschaften den anfangs eingesetzten Geldbetrag zu verdreifachen. In ähnlichen Zusammenschlüssen arbeiten auch Kaufleute in der islamischen Welt - womög-
G EO E P O C H E K a p i t a l i s m u s
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Die Händler vergeben irgend wann auch Kredite
tet, kann so dennoch bereits ins nächste investie ren. Ein Service, der die wirtschaftliche Dynamik weiter antreibt. Die Wechsler sind aber stets nur innerhalb einer Stadt aktiv. Um die Geldgeschäfte außerhalb kümmern sich die Kaufleute selbst. Händler aus Siena etwa vergeben auf den Messen in Frank reich um 1260 Hunderte von Darlehen und be rechnen dafür einen Zinssatz von 40 bis 50 Pro zent - um das Risiko abzufedern, dass der Kunde seine Schulden gar nicht zurückzahlen kann. Von den Messen in Frankreich aus ziehen die Kaufleute weiter in die Niederlande und nach England, bleiben dort für einige Zeit und gewäh ren ebenfalls Darlehen. Händler aus Florenz ver leihen in Trient Geld und in den Städten Istriens. Um 1300 lässt sich ein Florentiner mit dem Na men Zino in M ainz nieder und macht dort Geld geschäfte. W er immer in Westeuropa in dieser Zeit einen größeren Kredit aufnehmen möchte, kommt an den Italienern kaum vorbei. Sie verleihen an Handwerker, Krämer und Kaufleute, die die Darlehen oft in den Ausbau ihrer eigenen Geschäfte investieren oder Waren dafür kaufen. Denn dank des neuen Instruments des Kredits muss niemand mehr jahrelang müh selig sparen, wenn er etwa seinen Betrieb vergrö ßern will. Und so feuert italienisches Kapital an etlichen Orten des Kontinents die W irtschaft an.
Florenz
lieh haben die Italiener dieses M odell bei ihren Orientfahrten kennengelernt. Ein weiterer Vorzug der Commenda: Sie bringt oft Menschen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen zusammen. Ein Kaufmann, der nur wenig Geld hat, dafür aber den M ut für eine lange Reise aufbringt, kann sich mit einem rei chen Kollegen zusammenschließen, der den Auf wand weiter Handelsfahrten übers Meer scheut. Die Rollen dieser Partnerschaft sind aber flexibel: Der gleiche Kaufmann kann mal L eih geber, mal Reisender sein. Manche Händler be teiligen sich daher an mehreren Commende zur gleichen Zeit; sie investieren beispielsweise sowohl in ein Schiff, das Gewürze aus Alexandria bringt, als auch in die Reise eines Kollegen, der in Kon stantinopel Seide kaufen will - während sie selbst vielleicht zu einem Tuchhändler nach Brügge aufbrechen. Umsichtig streuen die Kaufleute so ihre Risiken, lassen ihr Kapital gleichzeitig an verschiedenen Orten arbeiten. Auch Menschen mit wenig Vermögen haben nun eine Chance, in den Fernhandel einzustei gen - vorausgesetzt, sie finden Geldgeber. Doch der Hunger nach Kapital ist so groß, dass die Commenda allein ihn nicht befriedigen kann. Daher wird nun das Geld selbst zu einem hochbegehrten Gut; es wird gekauft und verkauft. Und es kostet: Geld. Großzügige kommerzielle Kredite sind eine weitere große Neuerung der Epoche in Europa. Früher, als es kaum Handel gab, waren Darlehen nicht nötig. Wozu sich ver schulden, wenn es kaum Waren zu kaufen gibt? Nun beginnen zuerst die Geldwechsler, die stets große M engen Bargeld in ihren Kassen ha ben, an ihre Kunden Kredite auszuzahlen und dafür Zinsen zu berechnen. Umgekehrt deponiert mancher Florentiner bei den Wechslern einen Teil seines Vermögens und kassiert dafür Zins. Die cambiatori, die Wechsler, beginnen auch, Konten für ihre Kunden zu führen und betätigen sich so als Bankiers. Ein Geschäftsmann, der bei einem anderen Händler Ware kaufen möchte, muss nun nicht mehr M ünzgeld zu ihm brin gen - es genügt, die Summe vom eigenen Konto beim Geldwechsler abziehen zu lassen und sie dem Konto des Kollegen gutzuschreiben. Dazu müssen sie nicht einmal beim selben Wechsler ein Konto haben; die Cambia tori einer Stadt führen auch untereinan der Konten, über die sie Zahlungen ihrer Kunden gegenseitig verrechnen. Außerdem gewähren die Wechsler Überziehungskredite. Ein Kaufmann, der gerade nicht genug Kapital hat, w eil er noch auf den Ertrag aus einem Geschäft war-
M it dem S ch iff und per M aultierzug, wie hier, lassen die italienischen G ro ß händler Rohwolle aus England oder Flandern zur W e ite r verarbeitung in ihre H eim atstädte transportieren
Misstrauisch beobachtet dagegen die Kirche das Gebaren der Kaufleute. Ist Geldverleih gegen Zinsen nicht wider Gottes Gebot? Ist es nicht Wucher? H eißt es nicht in der Bibel: „Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, so sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zinsen von ihm nehmen.“ Je dichter die Kaufleute ihr Netz über Eu ropa und den Orient spannen, desto heftiger protestieren die Geistlichen gegen die neuen Geschäftsmethoden. Es sind dabei nicht nur die Aussagen der Bibel, die aus Sicht der Kirchenleute gegen den Geldverleih m it Zinsnahme sprechen - sie sehen durch diese Profitsucht den Zusammen bruch der gesamten Gesellschaft nahen. Papst Innozenz IV. etwa fürchtet, dass Bauern die mühsame Feldarbeit aufge ben könnten, um selber als Geldverleiher
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DAS KOSTBARSTE GUT DES KAPITALISMUS Um
600 v. C h r. w ird im kle in a sia tisch e n K ö n ig re ic h L y d ie n in d e r h e u tig e n T ü rk e i e rstm a ls G e ld v e rw e n d e t - d e n n
n u r d a d u rc h ist ein e ffe k tiv e r H a n d e l ü b e rh a u p t m ö g lic h . Z u e rs t w ird es zu M ü n z e n g e p rä g t, s p ä te r a u f P a p ie r g e d ru c k t. H e u te e x is tie rt d e r G r o ß te il d e r u m la u fe n d e n G e ld m e n g e n u r n o c h in e le k tro n is c h e r F orm
h n e G eld kein K apitalism us. K om plexe G eschäfte Im kleinasiatischen Königreich Lydien kam en im 6. Jah r über zeitliche und räum liche D istanzen hinw eg sind h u n d e rt v. Chr. schließlich die erste n M ü n zen auf: von der n u r mit M ünzen, B anknoten oder B uchgeld m ö g O brigkeit g ep rä g te M etallscheiben. Etw a 17 Ja h rh u n d e rte lich. D enn G eld ist eine universelle M aßeinheit, in sp äter en tstan d in Italien das Buchgeld, bei dem nicht m ehr der sich der W ert von W aren u nd D ienstleistungen G eldstücke von H an d zu H an d gingen, son d ern Einnahm e, a n g e b e n u n d b e re c h n e n lässt. Es ist z u d e m ein A u sg ab e u n d S ald en von Soll u n d H ab e n in B üchern e in Tauschm ittel, das m eist von allen V erkäufern a k z e p g etra g en w urden. Das erste europäische P apiergeld kam in tiert w ird un d mit dem ein K unde folglich je d e a n g e Schw eden um 1660 in G ebrauch (in China gab es bereits um botene L eistung oder W are erw erb en kann. das Jah r 1100 Geldscheine). Der auf den Bank n o ten v erm erk te B etrag bezifferte d ab ei zu Und schließlich lässt sich G eld speichern und zu einem späteren Z eitpunkt w ieder eintaun äc h st die M en g e ein es E delm etalls (G old schen; anders als bei einem N aturalientausch oder Silberstandard), die die ausgebende Bank k ö n n en H än d ler G eschäfte d a n n ab sch lie jederzeit geg en die N oten eintauschen musste. ßen, w enn sie für sie am günstigsten sind. H eu tz u ta g e ist d er G eldw ert n u r durch E n tstanden ist das G eld ab er lange vor d as V ersprechen der jew eilig en Z entralb an k dem K apitalism us. Ü ber viele Ja h rta u se n d e ab g esich ert, für d essen S tabilität zu sorgen. lebten die M enschen als bloße Selbstversor G elingt es d er au sg eb e n d en N o ten b an k ab er ger, die w eder H andel noch G eld brauchten. nicht, die im U m lauf befindliche G eldm enge in einem au sg ew o g en e n V erhältnis zur w irt Erst mit zu nehm ender A rbeitsteilung b ild e ten sich in vorgeschichtlicher Zeit A ngebot sc h a ftlic h e n P ro d u k tio n zu h alten , d ro h en G eld en tw ertu n g oder Preisverfall. u nd N achfrage, w echselte eine W are geg en eine andere den Besitzer. In diesem T ausch M eh r u n d m eh r v erliert das G eld seine p hysische G estalt. Im m er se lten er w echseln Italienische G old h an d e l d ie n te n b e g e h rte G ü ter w ie etw a h eu te M ü n zen o der B anknoten d en Besitzer, stücke (13. Jh.). Ganz Vieh, G etreide, Salz, G old oder Silber als dafür nim m t der bargeldlose Z ahlungsverkehr oben ein Florin - die eine Art W arengeld. Ägyptische G rabdarstel offizielle Münze der lu n gen aus der Zeit um 2400 v. Chr. zeigen zu. U nd der m oderne H ochfrequenzhandel ist nur möglich, weil digitales Buchgeld in Sekun Stadt Florenz diese einfachste Form des H andels. N ach u nd n ach w u rd e M etall in vielen d e n b ru c h te ile n zum An- u n d V erkauf g en u tzt K ulturen zum M aßstab für die B ew ertung von w e rd e n k an n . D er v o rerst letzte Schritt in der W aren u n d so zum allg em ein a k z e p tie rte n Evolution des G eldes ist die virtuelle K unstw äh Tauschmittel. Im Europa der Bronzezeit nutzten die M enschen ru n g Bitcoin. Sie ist kein gesetzliches Z ahlungsm ittel, keine m etallene Beilklingen als eine Art Proto-Geld, in China bron Z e n tra lb a n k h at sie h e ra u sg e g e b e n , ih ren W ert bestim m t zene Modelle von M essern. Der Vorteil: M etall ließ sich leich allein d er H an d el an O nline-B örsen - u n d doch lassen sich ter transportieren als etw a ein G etreidesack, es verdarb nicht, m it Bitcoins im In tern et m ittlerw eile D iam anten kaufen und und der W ert w ar besser einschätzbar als bei N aturalien. Spielschulden b egleichen. A nja Fries
M it solchen hand geschriebenen Schecks wickeln italienische H ändler in der Frühzeit des Kapitalismus ihren Zahlungsverkehr unterein ander ab (d a tie rt auf den 28. Juni 1400)
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sie nicht m ehr jedes G eschäft selbst vor O rt aus handeln können. S tatt zu reisen, gründen sie N ie derlassungen, so in Brügge und Paris, entsenden V ertreter dorthin. A u ch die Ü b erlandw ege sind inzw ischen sicherer geworden - H errscher verbreitern in vie len G eg en d en E uropas die S traß en und bauen Brücken. D ie H än d ler m üssen den Transport ih rer G ü te r n ich t m ehr persönlich beaufsichtigen, können ih n F uhrunternehm ern überlassen. Bislang haben sie ihre U n tern eh m en m eist allein geführt. Partnerschaften wie die C om m ende sind sie nur über eine kurze Frist eingegangen. N u n aber schließen sie sich oft zu Handelsgesell schaften m it zahlreichen Teilhabern zusamm en. Compagnia (von cumpanis - „derjenige, m it dem m an sein B ro t te ilt“) h e iß t diese neue R echtsform einer F irm a, die w ohl ebenfalls von K aufleuten aus der L om bardei u n d der Toskana erfunden wird. D ie Teilhaber setzen bei der G rün dung einer solchen Gesellschaft einen Vertrag auf, in dem sie den N am en der F irm a festlegen, wie lange sie existieren soll u n d w er von ihnen das F irm enoberhaupt sein soll. A ußerdem verpflich ten sie sich, dass sie sich w ährend der D auer der C om pagnia nicht an anderen G eschäften beteili gen und ihr Kapital nicht vorzeitig zurückziehen. Italiens H ändler machen sich auf diese Weise bereit für neue G eschäfte - komplexer und w ag halsiger als je zuvor.
Florenz
Geschäfte zu machen. D ie für die G esellschaft so w ichtige L andw irtschaft w ürden sie dam it eintauschen gegen ein vermeintlich völlig unproduk tives G ew erbe - m it katastrophalen Folgen: D as L and w ürde veröden, H ungersnöte könnten aus brechen. Insgesam t fünfmal beschäftigt sich ein K on zil, die höchste Versam mlung der Kirche, m it der Sünde des W uchers - so nennen die T heologen in dieser Z eit jede Form von G eldverleih gegen Z ins. N otorische W ucherer, das legen P apst und Bischöfe fest, dürfen nicht die heilige K om m uni on em pfangen, erhalten kein christliches Begräb nis; es sei denn, sie haben vor ihrem T od bereut. Von den K anzeln w üten Prediger gegen das Z insnehm en, nennen es die „Sünde, die niemals ruht“. D enn selbst wenn der Geldverleiher schläft: „Das zu W ucherzinsen verliehene G eld h ö rt nicht a u f zu arbeiten. Es erzeugt ohne U nterlass G eld: Unrechtes, schändliches, verachtensw ertes G eld.“ D ie Kaufleute, tiefgläubig wie fast alle M e n schen dieser Epoche, fürchten die Strafen G ottes und der Kirche - aber genauso den Verlust eines g u te n G esc h äfts. Sie v erle ih en w eiter G eld , kaschieren aber verm utlich die Z inseinnahm en, indem sie etwa in ihren G eschäftsbüchern nur die fällige Sum m e m itsam t den Z in se n eintragen (und nicht die niedrigere Ausgangssumme, die sie dem Schuldner tatsächlich geliehen haben). M ancher G eschäftsm ann beginnt im Alter, zur B uße für die S ünden des B erufslebens ein betont frommes L eben zu fuhren, stiftet G eld für A rm enhäuser u n d H ospitäler. E inige legen in ihren Testam enten sogar fest, dass K unden, denen sie überm äßig viel G eld abgenommen haben, en t schädigt w erden sollen. U nd so w ächst der K redithandel weiter, die Banksparte wird bei m anchen italienischen H än d lern zu einem eigenen G eschäftszw eig. „K auf m annsbanken“ w ird m an diese M isch-U nternehm en später einm al nennen. E s ist ein in E uropa wohl völlig neuartiges Firm enkonstrukt, das schon je tz t den H andelskapitalism us um den frühen F inanzkapitalism us erw eitert. W arenhandel und Kreditgeschäfte sind da bei keine strikt getrennten Bereiche, sondern fördern sich gegenseitig: Als G egenleistung für K redite an einen H errsch er etw a si chern sich die K aufleute o ft M onopole für den H an d el m it b estim m ten W aren aus seinem Reich. Schneller und schneller dreh t sich so das R ad des H andels. E n d e des 13. Jahrhunderts sind die italienischen K auf leute bereits häufig in so vielen S tädten engagiert, schlagen so viele W aren um , dass
Reiche Kaufleute aus Florenz haben de fa cto das M o n o p o l fü r den Handel m it G e tre id e aus Süd italien - ein gewaltiges G eschäft: A lle in 1311 kaufen florentinische H ändler 45 0 0 0 Tonnen apulisches Korn auf
A m 1. M ai 1300 g ründen 17 M än n er in Florenz eine C om pagnia. Schon die H ö h e des S tam m kapitals zeigt, dass h ier G roßes en tsteh en soll: 124000 Lire zahlen die Investoren ein; 2000 T on nen G etreide könnte m an dafür kaufen. M eh r als die H älfte des Kapitals stam m t von sieben M itg lied ern der Fam ilie Peruzzi - eines Clans, der schon seit Jahrzehnten in der Stadt aktiv ist. D ie Peruzzi stellen T extilien her, h andeln m it ihnen u n d anderen L uxusgü tern, machen Bankgeschäfte, mehren ihren W ohlstand m it G eschick und w ohl auch m it Gerissenheit: W ie andere Geldverlei h er auch haben sie o ft gezielt D arlehen an die Bauern im U m land vergeben - und dabei verm utlich d ara u f spekuliert, dass die Landleute, w enn sie die Schulden nicht zurückzahlen können, ihnen ihre Felder ver-
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A u ch über den
kaufen. Mehrere Männer der Familie sind so zu großem Landbesitz gekommen. Und das schätzen die Kunden, die bei ihnen Geld deponieren: Grundeigentum ist das wichtigste Zeichen der Seriosität, gewährleistet echte Sicherheit. Oberhaupt der Familie ist Filippo Peruzzi, ein alter, umsichtiger Mann. Er fühlt wohl sein Ende nahen und setzt daher eine komplette Neu organisation des Unternehmens in Gang. Schon die Vorgängerfirma war als Compagnia geführt worden, allerdings nur mit einigen wenigen Teilhabern von außen. Nun aber holt Filippo gleich zehn Familienfremde hinzu, die rund 40 Prozent des Kapitals beisteuern. Gleich
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Fluss Arno, der Florenz teilt, erreichen Waren die Stadt. Lastkähne steuern direkt die Speicher der Lagerhäuser an, die oftm als am U fer liegen
berechtigt mit seinem Sohn, den drei Neffen und zwei Großneffen werden sie in der Führung des Geschäfts arbeiten. Sie bringen nicht nur frisches Geld mit, sondern auch Tatkraft und Ideen. Eine Compagnia wird meist für einige Jahre geschlossen, kann dann erneuert werden, falls die Partner es wollen. Doch voll Zuversicht, dass an diesem Tag eine lange, glanzvolle Geschichte beginnt, lässt Filippo in die Gründungsurkunde „Erste Compagnia“ schreiben. Dass weitere folgen werden, scheint ihm fast selbstverständlich. Schon bald kommt für das neue Handels haus - das auch Geld verleiht - die Chance zu einem lukrativen Geschäft: König Karl II. von
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Der König braucht die Hilfe der
Z u d ritt schließen sie sich 1316 zu einem S y ndikat zusam m en, um ihre G esch äfte m it R obert zu bündeln (und mögliche Konkurrenten auszuschalten). D ie Kaufleute übernehm en nun neben ihren H andels- und Geldgeschäften auch andere A ufgaben für den König: Sie zahlen die G ehälter seiner B eam ten und den Sold der Sol daten, verw alten die Arsenale des M ilitärs, ver handeln bei Problem en m it seinen Bediensteten. Auch sammeln sie von den U ntertanen Steu ern ein, die sie zum Teil als L ohn für ihre D iens te behalten dürfen. Diese „Steuerverpachtung“ an auswärtige H än d ler ist für M onarchen mangels eigener B eam ter o ft die einzige M öglichkeit, überhaupt A bgaben einzufordern.
Florentiner Händler
Weihrauch, unerlässlich für die katholische Liturgie. importieren die Italiener aus Arabien, andere Luxusgüter wie chinesische Seide erreichen Europa über Konstantinopel
Vor allem aber überlässt der K önig ihnen das M onopol für den Getreideexport in seinem Reich. M eh r als 12 000 T onnen Getreide kaufen sie nun meist jährlich ein, geerntet auf den Feldern A pu liens, das zum Königreich N eapel gehört. In den H äfen dort lassen die Peruzzi und die anderen Kaufleute des Syndikats den größten Teil des Korns verladen, au f Schiffe, die sie von G e nuesen oder Venezianern gem ietet haben. Eigene Frachter besitzen die Peruzzi nicht, und selbst das große Lagerhaus in Florenz haben sie nur gepach tet. Sie wollen m öglichst w enig Firm engeld in Immobilien oder Transportmittel investieren - das Kapital soll frei bleiben und fließen, in Waren und Kredite, und im m er neues G eld erzeugen. D ie Getreideschiffe aus dem Süden machen m eist in Venedig oder A ncona fest, über L and lassen die Kaufleute die L adung nach Florenz transportieren und d ort an M üller oder andere H ändler verkaufen. Was sie für den H eim atm arkt n ic h t b en ötigen, veräußern sie in zahlreichen H äfen am M ittelm eer, etwa in Nordafrika. Aus Sizilien, wo die Peruzzi ebenfalls Getreide kaufen, ist bekannt, dass die Kauf leute oft erst kurz vor A bfahrt eines Schif fes entscheiden, w ohin sie es schicken solange warten sie auf Informationen über die Preise, die gerade in Tunis, Alexandria oder au f der Peleponnes gezahlt werden. U n d optim ieren so ihren Profit. D ie N achrichten kommen häufig aus einer der 16 Niederlassungen, die die Firm a unterhält. Es ist ein weit gespanntes Netz, das
Florenz
Neapel hat gerade einen Krieg m it Sizilien beendet. N u n beg in n t er, sein Reich u nd seine M ach t aus zubauen, kauft etwa einen H afen auf der Peloponnes - und benötigt viel Geld. D e n n E in k ü n fte erh a lte n H errscher oft nur sehr stockend. Eine straffe Verwaltung, die in al len Provinzen regelmäßig Steuern einzieht, existiert nicht. D ie Peruzzi leihen dem Kö nig 90 000 Florin, zwei Jahre später noch einmal 45 0 00: Sum m en, die selbst ihr gewaltiges Stamm kapital übersteigen und wohl nur dank der E inlagen der vielen stillen T eil haber zu bewältigen sind. D och König Karl ist ein guter Schuldner, rasch zahlt er zurück. U n ter seinem Sohn R obert, der 1309 die Regierung übernimmt, wird die Beziehung zu den Floren tinern noch enger. Schon kurz nach seiner Krönung in Avignon besucht der neue M onarch Florenz. D enn auch Robert braucht ständig Geld: für seine H ofhaltung, seine T ru p pen und für die jährliche Abgabe an den Papst, von dem er das Kö nigreich als L ehen erhalten hat. D ie Peruzzi zahlen: Kleinere A usgaben erh alten die k ö n ig li chen B eam ten unkom pliziert au f A nforderung erstattet, für größere Sum m en schließt R obert m it den K aufleuten D arlehensverträge ab. D arin ist auch geregelt, w ie der H errscher seine Schulden zu be gleichen hat. O ft überschreibt er den Peruzzi Steuereinnahm en aus einer Stadt oder Provinz. O der er erlässt ihnen den A usfuhrzoll für G etreide, das sie in seinem Reich kaufen. Zinsen zahlt er nicht, genau wie es die Kir che verlangt. In den V erträgen verpflichtet er sich stattdessen, den K aufleuten „G e schenke“ zu machen: m anchm al Bargeld, oft Vergünstigungen, wie die Befreiung von w eiteren Steuern und Z öllen, oder das Recht, G etreide zu exportieren. N eben den Peruzzi versorgen noch zwei weitere Florentiner Firm en den Kö nig m it gew altigen S um m en G eld: die Bardi und die A cciaiuoli, zwei H an d els häuser ähnlich groß wie die Peruzzi.
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im Ja h r 1335 von Z y p e rn bis M a llo rc a reicht, von
den. D ie Z ah lu n g san w e isu n g benutzen sie dabei
T u n is bis nach L o n d o n . A u c h in A v ig n o n befindet sich eine w ichtige
n u r in n erh a lb des eigenen U n tern ehm en s. F ü r Ü b e rw e isu n g e n an K a u fle u te anderer
F ilia le . H ie r residiert seit 1309 der P apst u n d u n
F irm e n stellen sie W e ch se l aus - ein Instrum ent,
terhält den glänzendsten H o f Europas. K ardin äle,
das u m 1200 a u f den M e sse n in N o rd fra n k re ich
B ischö fe, Ä b te aus allen T e ile n des A b e n d la n d e s
in G e b ra u c h kam u n d in ä h n lich e r W e ise bereits
siedeln sich m itsam t ihrem G e folge h ier an, w ett
in der isla m ische n W e lt existiert.
e ifern m it p ru n k v o lle r L e b e n s fü h ru n g u m die
A n einem W ech sel sind im m er vier Personen
A u fm e rk sa m ke it Seiner H e ilig k e it - u n d scheren
beteiligt: zw e i am O r t der A u sste llu n g , zw e i am
sich w e n ig u m das Z in sve rb o t: S ch o n b a ld n e h
O r t der E in lö s u n g . W e n n die P e ru z z i G e ld an
m en die Prälaten bei den P e ru zzi K re d ite a u f u nd
einen T u c h h ä n d le r in G e n t überw eisen w o lle n ,
legen T e ile ihres Verm ögens bei ih n e n an.
w o sie selber keine N ied e rlassu n g haben, w enden sie sich an einen F lo re n tin e r K a u fm a n n , der d ort vertreten ist u n d so m it über B a rm itte l v or O r t verfügt. B e i ih m za h le n sie den Ü b e rw e isu n g s betrag in F lo r in ein, erhalten dafür den W e ch se l brief. D a ra u f ist der N a m e des Absenders u nd des E m p fä n g e rs v e rm e rk t u n d die A u ffo rd eru n g , ih m „in nerh alb der ü b lich e n F ris t“ die entsprechende S um m e in G e n fe r W ä h ru n g aus zuzahlen. D ieses D o k u m e n t s ch i ck e n d ie P e ru z z i zu dem T u c h h ä n d le r in G e n t. D e r g eht d a m it z u r F ilia le des K a u fm a n n s, w o er sich gegen V orla g e des W e c h s e l brie fs den B e trag abholen kann.
U n d dann w ird sogar der Papst zu ihrem Kunden:
E in W e c h s e l is t also eine
G e m e in sa m m it den B a rd i sollen die P e ru z z i im Ja h r 1317 Abgab en , die in E n g la n d fü r den H e i li
E rk lä ru n g , in der sich jem and ver p flic h te t, an ein em anderen O r t
gen Vater gesam m elt w orden sind, nach A v ig n o n
u n d in e in e r anderen W ä h ru n g
tra n sfe rie re n . E in A u ft r a g v o m S te llv e rtre te r
eine be stim m te S u m m e G e ld an
C h r is t i a u f E rd en ! D a s steigert das A n s e h e n der
eine b estim m te Person auszuzah
P e ru zzi in der gesamten H a n d e ls w e lt gewaltig.
len . D e r A u s s te lle r e rh ä lt d a fü r eine G e b ü h r von dem jenigen, der
Sie lassen n un allerdin gs n ic h t Säcke v o lle r M ü n z e n nach S üd fra n kre ich schleppen. Sondern
D a n k solcher Z a hlun gsm ittel
eigene G esch ä fte: Ih re L o n d o n e r F ilia le k a u ft
w ird das G e ld im m a te rie ll, w ie g t
davon W o lle - diesen R o h sto ff für die F lo re n tin e r
n ic h t m e h r als e in B o g e n Papier,
Textilw erkstätten zu besorgen ist eine ih re r w ic h
den m an rasch per B o te n ü b e rall
tigsten A u fg a b e n . D a sie das G e ld des Papstes
h in se n d e n k a n n . N u r d a n k der
nutzen, sparen sie n un u nter anderem die W e c h
W e ch se l u n d Z a h lu n g sa n w e isu n
selgebühren, die anfallen w ürden, w enn sie F lo r in
gen ist es den P eruzzi u nd anderen
in englische P fu n d Um tauschen müssten.
K a u fm an nsb an kiers m ö g lich , ihre
N a c h F lo re n z sch icken die L o n d o n e r dann
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die S um m e e in g e za h lt hat.
m achen in E n g la n d m it dem G e ld des Papstes
H a n d e ls im p e rie n aufzubauen.
statt B a rg e ld eine s c h riftlic h e Z a h lu n g s a n w e i
E s sin d gute Ja h re fü r die
sung über den Betrag der päpstlichen G elde r; die
Firm a , die seit dem T o d des G rü n
F lo re n tin e r Z e n tra le w ie de ru m sendet per B r ie f
ders F ilip p o v o n seinem N e ffe n
eine A n w e is u n g an d ie K o lle g e n in A v ig n o n ,
T o m m a so g e fü h rt w ird . A ls 1308
d ie das G e ld an die p ä p stlich e S ch a tz k a m m e r
die erste C o m pagn ia endet u nd die
auszahlen.
P e ru z z i B ila n z zie h e n , e rh a lte n
D e r bargeldlose T ran sfer h oher S um m e n ist
die T e ilh a b e r eine D iv id e n d e von
eine enorme Vereinfachung für den H andel: K a u f
100 P ro z e n t. Z w e i Ja h re später
leute u nd ihre H e lfe r m üssen sich nun w eder m it
s in d es 40 P ro z e n t, 1319 beträgt
dem T ra n s p o rt k ilo sch w e re r G e ld k is te n m ühen
die ausgeschüttete Z w is c h e n d iv i
n och furchten, unterw egs ausgeplündert zu w e r
dende 100 P roze nt.
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Rund 80 M änner sind inzwischen für das Unternehmen tätig, etwa die Hälfte von ihnen im Hauptquartier, das wahrscheinlich in einem der Stadtpaläste der Familie untergebracht ist - turm artigen Gebäuden aus graubraunem Stein, an denen außen das Familienwappen angebracht ist: ein blaues Feld mit goldenen Birnen. Unter den Angestellten, die hier arbeiten, sind vermutlich auch Absolventen der Abakus-Schulen, die täglich die oft viele Hundert Seiten dicken Geschäfts bücher mit neuen Zahlenreihen füllen. Der wohl wichtigste Band ist das „Vermö gensbuch“. A uf Seiten über Seiten führen die Buchhalter für die Florentiner Kunden der Peruzzi Schulden- und Guthabenkonten. Sie notieren die Höhe der Vermögen, die der Firma zur Verwah
Messen sind w ichtige Handelsplätze für die italienischen Kaufleute - regionale, wie hier in einem Städtchen nahe Florenz, vo r allem aber die großen, internationa len Verkaufsaus stellungen, etwa in
rung anvertraut sind, aber auch die Verbindlich keiten der Kreditnehmer. Fast ebenso wichtig ist das „Geheime Buch“, in dem die Kapitaleinlagen der Teilhaber verzeich net sind, wie auch die Höhe ihrer Schulden. Vor allem Tommasos prachtliebender Bruder Giotto leiht sich immer wieder bei der eigenen Firma Geld, um seinen Lebensstil zu finanzieren, schließlich wohnt er in einem der größten Paläste der Stadt. 1324 sind seine Schulden doppelt so hoch wie seine Einlagen, einen beträchtlichen Teil seiner Dividende muss er aufwenden, um die Zin sen in Höhe von acht Prozent jährlich zu bezah len - bei den Peruzzi sind Familie und Geschäft strikt getrennt: Selbst enge Verwandte erhalten Darlehen nur zu den üblichen Bedingungen.
Nordfrankreich
F lo re n z
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In dem G eheim en Buch sind auch die Z w i schenbilanzen verzeichnet, die die M itarb eiter offenbar jährlich erstellen. D abei w enden sie eine einfache F rühform der doppelten B uchführung an, die E n d e des 13. Ja h rh u n d e rts von italien i schen K aufleuten entw ickelt w orden ist: Jeder Zahlungsvorgang wird dabei zweimal erfasst: ein m al unter der R ubrik „H aben“ u nd einm al unter „Soll“. Z ah lt ein A nleger 100 F lorin ein, steigt das V ermögen der F irm a um diesen Betrag. G leich zeitig nehm en aber auch ihre V erbindlichkeiten, also die noch ausstehenden Z ahlungen, in selber H ö h e zu, da sie dem K unden das G eld ja später plus Z insen zurückerstatten müssen. U m gekehrt verhält es sich, w enn sie einen K redit vergeben: D an n sinkt ihr V erm ögen und ihre Forderungen steigen. M it diesem System können Kaufleute jeder zeit einschätzen, ob die B ilanz ihres U n te rn e h m ens noch ausgeglichen ist - oder ob die Schul den n icht längst das Verm ögen übersteigen. Bis heute schreiben U nternehm en ihre Bilanzen nach diesem G rundprinzip. A llerdings bleiben Florenz und die anderen großen H andelsstädte lange kapitalistische Inseln. In w eiten G eg en d en E uropas w irtschaften die M enschen noch im m er w ie vor Jah rh u n d erten : Sie leben - abhängig von ihren F eudalherren vom E rtrag ihrer Äcker und treiben Tauschhandel.
Ihre Buch haltung ist effizient und komplex
Fernhandel m it dem S ch iff ist ein einträgliches, aber auch heikles G eschäft. Daher entwickeln
Längst gehören die Peruzzi zu den angesehensten Familien von Florenz. Tom m aso und sein Bruder G io tto w erden m ehrm als in das A m t der Priors gew ählt, der für jeweils zwei M o n ate die S tad t regierung führt. G em e in sa m m it an d e ren g ro ß e n K au f m annsfam ilien bestim m en sie n ic h t n u r die Politik der Stadt, sondern prägen auch einen L ebensstil voller Luxus u nd G eschm ack, den sie vor ihren M itb ü rg e rn gern zur Schau stellen. So leiten sie einen Teil ihrer G ew inne in exklusiven K onsum der seinerseits die W irtsch a ft anfacht. Insgesam t steigen in dieser Z e it m ehr als 30 H ändlerclans a u f u nd for men nun eine neue Elite. In den Privat g e m äc h ern ih re r P alä ste fin d e n sich K ostbarkeiten wie religiöse G em älde u nd
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Italiens K aufleute neue U nternehm ensform en, in denen sich das Risiko auf m ehrere Partner ve rte ilt
Skulpturen, dazu wertvolles G eschirr und G efäße aus Keram ik, G las u n d Silber. V iel G eld geben sie für die K leidung ihrer F rau en aus: D ie D am e n aus den K aufm anns fam ilien w etteifern m iteinander um die neueste M ode; dazu tragen sie bei besonderen A nlässen Juw elen und anderen Schmuck. D er R eichtum der H än d le r übertrifft alles, was m an in der Stadt bis dahin kannte. Z u r E hre G ottes und zum R uhm ihrer Fam ilien lassen die Florentiner Geschäftsleute Kirchenräume pracht voll ausstatten. D ie Peruzzi stiften eine Kapelle in der Franziskanerkirche Santa Croce. M it d er A u sm alu n g b eau ftrag en sie den b erü h m ten G io tto di B ondone, der m it seinen realistischen F iguren u n d perspektivischen D a r stellungen gerade die K unst revolutioniert. U m 1330 geraten die bis dahin so erfolgrei chen G eschäfte der Peruzzi ins Stocken. In E n g land zählt ein G ünstling König Eduards II. lange Z eit zu den besten K unden der Familie, der bei ihnen sein G eld anlegt und sich von den Italie nern m it fast jeder A rt von W aren versorgen lässt. D och dann w ird E duard II. von seiner eige nen Frau, ihrem G eliebten und weiteren Adeligen gestürzt, das Volk w ütet gegen die ausländischen Kaufleute, die eng m it den Freunden des verhass ten alten Königs verbunden sind - die M itarb ei ter der Peruzzi-N iederlassung in L ondon müssen sich w ahrscheinlich sogar vorübergehend verste cken, um dem Z o rn der U ntertanen zu entgehen. Z w ar g estattet die neue R egierung den Peruzzi, ihre Filiale weiterzufuhren. D och der U m fang des H andels m it E n gland g eh t stark zurück. D azu stagnieren offenbar auch die Profite im Getreidehandel. N ach zwei aufeinanderfolgen den M issernten kom m t es in Italien 1329 zu einer H ungersnot, in Florenz stürm en Verzweifelte den G etreidem arkt. D ie Stadtregierung setzt nun für anderthalb Jahre einen K ornpreis fest, der unter dem üblichen M arkterlös liegt. Z w ar ersta tte t die K om m une den Peruzzi u n d and eren Im p o rteu ren die D ifferenz, doch G ew innsteigerungen sind im K ornhandel vorerst nicht m ehr möglich. U nd der D ruck von Volk und R egierung ist w ahrscheinlich so groß, dass die H än d ler es gar nicht wagen, für ihr G etreide sehr viel m ehr zu verlangen als das, was sie beim E in k au f in A pulien oder Sizilien da für bezahlt haben. Z u d e m sin k t d er G o ld p reis u n d d am it auch der W e rt der G old w äh ru n g F lo rin , in der die Peruzzi ihre D arleh en vergeben. Schuldner, die sich bei den Kauf leu ten in den Ja h re n zuvor G eld geliehen haben, als der G oldpreis hoch war, zahlen nun
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G EO E P O C H E K a p i t a l i s m u s
D er M ön ch Luca Pacioli beschreibt 1494 in einem m athem a tischen Lehrbuch erst mals systematisch die d o p pe lte Buchhaltung, die italienische Kauf leute bereits seit zwei Jahrhunderten ver wenden. Sein W erk wird in zahlreiche Sprachen übersetzt - so ve rb re i te t sich die Kenntnis von der m odernen Rechnungsführung in ganz Europa
D as angeschlagene U n tern e h m en kann diesen Betrag n ich t selbst aufbringen - es muss ihn sich leihen oder durch neue Einlagen stiller Teilhaber gegenfinanzieren. W o h er das G eld stam m t, ist nicht bekannt, vielleicht von A nlegern in Florenz. Bonifazio hofft wohl, dass er sich mit Eduard a u f ein ähnliches A rran g em en t w ie im K önig reich N eapel einigen kann: K redite gegen H a n delsprivilegien. In diesem Fall nicht für Getreide, sondern für W olle. E rn e u t schließen sich die Peruzzi m it den B ardi zusam m en. G em ein sam h an d eln sie m it dem englischen K önig A nfang 1338 eine Verein b aru n g aus: Sie le ih en ih m in sg esam t ru n d 350 000 Lire, u n d als Rückzahlung - so legen sie es m it dem K önig fest - bekom m en sie 20 000 Säcke W olle sowie einen A nteil aus den Abgaben, die der M o n arch von Volk und Klerus bezieht. Z udem erhalten die Kaufleute ein M onopol für den W ollexport, allerdings n u r für g u t vier M o n ate (und n ich t u nbegrenzt wie in Neapel). D ennoch scheint es ein guter Abschluss - voraus gesetzt, der K önig hält sich an seine Zusagen. U m dieses für die F irm a so entscheidende G esch äft zu überw achen, zieh t B onifazio nach L o n d o n . N ie zuvor in der U n te rn e h m e n sg e schichte h at ein C h e f die Firm enzentrale für län gere Z eit verlassen.
Florenz
w eniger wertvolles G eld zu rück. 1331 stirbt nach 28 Ja h ren A m tsz e it F irm e n c h e f Tom m aso. Z u m N achfolger w ählen die T eilhaber seinen B ruder G io tto - ausgerech n e t je n e n lu x u slie b e n d e n M an n , der bei seinem eige nen U nternehm en nach wie vor h o c h v e rsc h u ld e t ist. D ringend bräuchte die Firma neue Ideen und straffe F üh rung. D och G iotto ist zu sehr m it seinen politischen Ä m tern beschäftigt, w ill zudem m it g ro ß e n S tiftu n g e n an K irchen V orkehrungen für sein Seelenheil treffen u nd vernachlässigt die Firm a. A ls d ie in z w is c h e n fünfte C om pagnia 1335 B i lanz zieht, ist das E rgebnis v e rn ic h te n d : A lle g ro ß e n Zw eigstellen - N eapel, A vi gnon, London, Brügge - m a chen Verluste. D ie Z entrale in F lorenz verzeichnet zwar Ü berschüsse, doch die sind im h o h en M a ß e fi nanziert durch Einlagen, die Teilhaber und ande re A nleger bei der F irm a deponiert haben. A uch ist das S tam m kapital gefährlich ge schrum pft: Von den 124000 Lire, die das U n ter nehm en bei seiner G ründung hatte, sind nur noch 3 8 0 0 0 übrig. M öglicherw eise aus E n ttäuschung über die schlechten Resultate verlassen vier T eil haber die Firm a. D ie F irm a ist denkbar schlecht gerüstet für weitere, große K reditgeschäfte. D och in ihrer R atlosigkeit verfallen die Pe ruzzi auf genau diese Idee. Einen neuen, verm eint lich vielversprechenden K unden haben sie rasch ausgemacht: König E duard III. von England. D ie Z eit für eine W iederannäherung an das L and scheint günstig: E duard p lant Kriegszüge gegen S chottland und Frankreich - kostspielige U nternehm ungen, für die er Finanziers braucht. E in e n ersten K redit erh ä lt der M o n a rc h noch unter F ührung von G iotto, der aber im A u gust 1336 stirbt. Z u m neuen C h e f w ird dessen Neffe Bonifazio bestim m t, der früher die L o n d o ner Zw eigstelle geleitet hat. W er, w enn n ich t er könnte das neue E ng ag em en t in E n g lan d m it U m sicht und W agem ut zum E rfolg bringen? S chon bald w eitet Bonifazio das G eschäft aus. Im H erbst 1337 ist der König bei den Peruzzi bereits m it um gerechnet 260 000 Lire verschuldet.
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Schon bald verlangt Eduard von den F loren tiner K aufleuten neue Kredite; seine Invasion in Frankreich steht kurz bevor. Bonifazio weiß, dass er einen Teil der W ünsche des M onarchen erfül len muss, um dessen G u n st n ic h t zu verlieren. G leichzeitig w ill er aber in diese D arleh en nur wenig neues G eld stecken (das er sich ja selbst erst leihen m üsste), sondern sie zum indest teilweise durch Rückzahlung der alten K redite finanzieren. U m gekehrt ist dem K önig klar, dass er den Italienern entgegenkom m en muss, w enn sie ihn w eiterhin m it G eld versorgen sollen. E r kündigt im m er w ieder R ückzahlungen an, die aber oft verspätet eintreffen. D ie Peruzzi und ihre Partner h alten sich m it neu en K rediten etwas zurück, E d u ard m ach t neue V ersprechungen, v erlangt g leichzeitig w eitere D arlehen, die die Italiener ihm zunehm end zögernd überw eisen. Es ist ein g ut zwei Jahre andauerndes Gezerre. D ennoch gelingt es Bonifazio, die Balance zw ischen T ilg u n g u nd neuen K rediten einiger m aßen zu halten. Im M ä rz 1340 betrag en die A u ß en stän d e der K rone bei den P eruzzi etw a 150000 bis 200 000 Lire. Eine große Summe, aber für die G eschäftsleute noch beherrschbar. D och dann stirbt B onifazio am 3. O ktober 1340 in London. E rneut verliert das U nternehm en seinen Chef.
Als die T odesnachricht in Florenz eintrifft, w ählen die T eilhaber Bonifazios B ruder Pacino zum neuen F irm enoberhaupt, einen konservati ven, zu rü ck h alten d en , vielleicht auch entschei dungsschw achen M an n . E r beschäftigt sich vor allem m it der Lokalpolitik, lässt das schlingernde E n g land-G eschäft offenbar einfach weiterlaufen.
Venedig ist ein hartnäckiger Konkur rent von Florenz. D ie G aleerenkonvois der S tadt durchkreuzen das östliche M itte l meer, im Westen fü h rt eine Route bis nach London
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D ie Räum e in der Firm enzentrale sind durch die Krise inzwischen leerer geworden: Ausscheidende M itarb eiter haben die Peruzzi w ohl schon lange n ic h t m eh r ersetzt, ein gutes D ritte l w eniger A n g e ste llte als frü h e r b eu g en sich ü b er die G eschäftsbücher, die nur noch schlam pig geführt w erden. A uch das F irm enverm ögen schrum pft. Seit der desaströsen B ilanz von 1335 haben fast alle fam ilienfrem den Teilhaber ihre Kapitaleinla gen, die sie über ih r Stam m kapital hinaus bei der F irm a deponiert haben, deutlich verringert. Pacino, der m it der Führung seines taum eln den B etriebs o h n eh in g enug zu tu n h at, muss nun aber auch noch Krieg führen: Florenz streitet mit P isa um den B esitz der S ta d t L ucca. W ie einige andere Kaufleute gehört er einem 20 M a n n starken B ürgerkom itee an, das die Verhandlungen führen und die Streitkräfte aus Florenz organisieren soll. Im O k to ber 1341 ziehen die Söldner der S tad t in die Schlacht gegen Lucca - und verlie ren, offenbar durch die U n erfahrenheit und Inkom pe te n z des K om itees. Sogar des B e tru g s w erd en die zw anzig bezichtigt. K urz nach der N ie derlage kom m t eine N ach r ic h t aus A v ig n o n , die einem B annfluch gleicht: D e r P ap st, sehr b eso rg t w egen des E n g la n d -G e schäfts, h at jedes Z utrauen in die Florentiner verloren. E r e n tz ie h t den P eruzzi u n d and eren F irm en das
GEO E P O C H E Kapitalism us
Recht, für ihn A bgaben in O steuropa und Italien einzusam m eln und zu seinem A m tssitz zu trans portieren. E in Jahr später kündigt sein Nachfolger ihnen diese Aufgabe auch für E ngland. E s ist eine M is stra u e n s b e k u n d u n g von höchster Stelle. D ie Peruzzi und ihre F lorentiner Kollegen sind aus Sicht des Papstes keine seriösen H andelspartner mehr. In solch einem M o m e n t w ürden norm aler weise die vielen stillen Teilhaber der F irm a ihre E inlagen zurückfordern. D o ch die Peruzzi sind geschützt: W ie schon früher in N otzeiten hat die S tad t seit K urzem einen A deligen als signore der S tadt eingesetzt, als A lleinherrscher m it fast diktatorischen Vollm achten. U m ein finanzielles Chaos zu verm eiden, erlässt er ein M oratorium : D rei Jah re lang d a rf niem an d von den g roßen H andelshäusern sein K apital zurückfordern. D as allerdings gilt nur für F lorenz. In der Z w eigstelle in N eapel holen sich w ohl bereits K unden ihr G eld zurück, vor allem nachdem im Januar 1343 König R obert gestorben ist, der lang jährige Freund und Förderer der Peruzzi. Im Som m er d ann to b t das Volk voll U n zu friedenheit über die H errschenden auf den Straßen von F lorenz, stü rzt erst den Signore u n d keine zwei M o n ate später auch die N achfolge-R egie rung, zu der ein P eruzzi u n d m ehrere andere Kaufleute gehörten. D ie n un eingesetzte S ta d t führung h ebt im H erb st das M oratorium auf. D ie Peruzzi wissen, was jetzt geschehen wird. Sie w arten den A nsturm ihre G läubiger erst gar nicht m ehr ab, sondern erklären E n d e O k to b er ih ren B a n k ro tt u n d übergeben die G esc h äfts bücher der Stadt. In den M on aten darauf fliehen m ehrere T eilhaber, d a ru n te r auch F irm e n c h e f Pacino, vorübergehend aus der S tadt, w ohl um Teile ihres Vermögens vor den F orderungen der K unden in S icherheit zu bringen - G eschäfts inhaber haften im Fall eines B ankrotts m it ihrem gesam ten persönlichen Besitz. W arum die Stadt diese F lucht n icht verhin dert, ist unklar. So jedenfalls sind es die Anleger, die einen großen Teil der F irm enverluste tragen müssen: N ach zwei V ereinbarungen, die 1345 und 1347 geschlossen w erden, erh a lten sie zum eist w ohl w eniger als die H älfte des Kapitals zurück, das sie den Peruzzi anvertraut haben. N ach 43 Jahren ist die G eschichte ihrer F irm a zu E nde. A m Schluss w ar es sicher n icht der Verlust an Kapital, der das U nternehm en kollabieren ließ, sondern der Verlust an V ertrauen bei ihren K un den. A uch die beiden anderen großen H an d els häuser der Stadt brechen zusam m en: die Acciaiuoli im O k to b er 1343, die B ardi im A pril 1346. W as die drei F irm en erleben, ist eines der ty p i
G E O E P O C H E K a p ita lis m u s
Bald sind Ant werpen, Amster dam, London die neuen Zentren
schen D ra m e n , die sich in der G eschichte des Kapitalismus oft w iederholen werden: Eine Firm a kann noch so etabliert u n d w eit verzweigt sein, k ann hohe S um m en bew egen u n d K unden aus d en angesehensten K reisen haben - das Risiko von A bsturz und B ankrott ist im m er gegenwärtig. A u f die K risen in P olitik u n d H andel folgt 1348 eine weitere, noch weitaus größere K atastro phe: D ie Pest w ütet in Florenz, tötet binnen M o naten jed en zw eiten Einw ohner. In ganz Europa b rich t die Seuche aus, rafft M illionen dahin. D o ch tro tz all dieser E rschütterungen lebt die neue A rt des W irtsch aften s fort, floriert der K apitalism us der K aufleute. Sogar die A kteure bleiben zum T eil die gleichen: D ie B ardi etwa g rü n d en - n achdem sie ih ren G läubigern eine A bfindung gezahlt haben - bald eine neue Firm a u n d m achen sogar w ieder G eschäfte in L ondon. (D ie P eruzzi dagegen arb eiten kaum noch im H andel, sondern konzentrieren sich auf K auf und V erw altung von Ländereien). W as auch ü berlebt, sind die In stru m en te, die sich die H än d le r geschaffen haben. Kredite, W echsel, doppelte B uchführung, H andelsgesell schaften: A ll das n u tz en u n d v erfein ern G e schäftsleute in den folgenden Jahrhunderten. U n d so strahlt der Kapitalismus bald im m er w eiter aus - und verschiebt dabei seinen geogra phischen Schw erpunkt. Europäer entdecken 1492 a u f der Suche nach einer neuen H an d elsro u te R ichtung In d ien den K ontinent A m erika, rüsten zudem weitere Schiffsexpeditionen gen Asien aus. Allmählich verlagert sich der Fernhandel weg vom M ittelm eer, h in zu A tlan tik , P azifik u n d In d i schem O zean. F lo ren z, V enedig u n d andere italienische O rte verlieren im 16. Ja h rh u n d e rt an G ew icht. A ndere Städte im N orden Europas, die in güns tiger N äh e zu den neuen Schiffswegen gelegen sind, steigen a u f u n d w erden zu neuen Z en tren des H andelskapitalism us: A n tw erp en , L o ndon, A m sterdam . D ie Revolution g eh t weiter. £ O liv er Fischer, Jg. 1970, A utor in Hamburg, hatte den Kapitalismus bislang f ü r eine E rfin d u n g der N eu zeit gehalten.
L IT E R A T U R E M P F E H L U N G E N : „Handel.
Peter
M acht und Reichtum “, Theiss:
Spufford, berichtet
anschaulich von der großen Z e it der europäischen Kaufleute im M ittelalter. Edwin S. Hunt, „The Medieval Super-Com panies“, C am bridge U niversity Press: um fassende Studie zur G eschichte des Handelshauses der Peruzzi.
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Gegen den Widerstand der Einheimischen und der Konkurrenten aus Portugal und England errichtet ab 1603 die »Vereenigde Oostindische Compagnie«, kurz VOC, in Asien zahlreiche Stützpunkte, wie hier am indischen Fluss Hugli, in denen bald Tausende Männer arbeiten
Mit Gewehr und 40
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Z u B e g in n des 17. J a h r h u n d e r ts tra g e n
n ie d e rlä n d is c h e K a u f le u te den K a p ita lis m u s in die W e lt. U m in das p r o f it a b le G e w ü rz g e s c h ä ft m it A s ie n e in z u s te ig e n , s c h ließ en sie sich zu eine r F irm a zusam m en, der V e re in ig te n O s t in d ie n K o m p a n ie , und e rric h te n ein W ir ts c h a ft s im p e r iu m . D u rc h den H a n d e l m it A n te ile n an dem U n t e r nehm e n e n ts te h t das m o d e rn e A k tie n w e s e n V o n M A R T IN P A E T S C H
Goldwaage GEO EPO C HE K a pita lism u s
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A b 1619 vertritt Jan Pieterszoon Coen die Interessen der V O C in Asien. Unter anderem erobert er die Banda-Inseln im
heutigen Indonesien und versklavt viele ihrer Bewohner. Noch im Jahr seiner Ernennung lässt der 32-Jährige von seinen Truppen die Stadt Jayakatra zerstören und auf ihren Trümmern Batavia erbauen, die zu kü n ftig e Hauptniederlassung der G esellschaft
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ten. Bald schon bauen die niederländi schen Pflanzer das kostbare Gewürz in Plantagen an. Die VOC versorgt sie mit Sklaven, nimmt ihnen das M uskat zu festen Tarifen ab und bringt es in Europa auf den Markt: mit einer Handelsspanne von bis zu 1220 Prozent. So sind die Niederländer, die sich im Jahr 1621 Banda einverleiben und auf dem Archipel eine Plantagenwirtschaft errichten, vor allem Boten des Kapitalis mus, jener ökonomischen Ordnung, die in dieser Zeit erstmals größere Teile der Erde zu erfassen beginnt. Zwar sind Geschäftsleute schon früher aufgebrochen, um in anderen Län dern Waren zu beschaffen. Doch was im 17. Jahrhundert geschieht, geht über die Erschließung neuer Handelsrouten hin aus. Rund um den Globus setzt eine oft gewaltsame Neugestaltung nach kapita listischen Prinzipien ein. Sie verwandelt viele Regionen, hat tief greifende Folgen für das Leben von Menschen. Es ist die Ära der europäischen Ex pansion. Staaten wie Spanien, Portugal, England und die Niederlande streiten um Besitztümer in Übersee, entsenden Flotten in entlegene Erdteile, um immer neue Gebiete für sich zu beanspruchen. Neben Machthunger und Geltungsdrang treibt die Eroberer auch Profitgier: Viele Entdeckungsfahrten sind Raubzüge nach Rohstoffen oder Luxuswaren. D er K o nku rren z kampf der Kolonialmächte ist so zugleich ein W ett streit der Kaufleute. Oft sind sie es, die als erste Eu ropäer den Fuß an zuvor unbekannte Gestade set zen und dort Stützpunkte errichten. Von ihren Re gierungen mit umfassen den Vollmachten ausge stattet, erlangen sie mehr Einfluss als Privatleute jemals zuvor. Und sie leiten neue Institutionen: Zu Beginn des 17. Jahrhunderts entste hen in England und den Niederlanden mächtige, international aktive Monopol gesellschaften wie die VOC. Sie verän dern die politische Landschaft in vielen Gebieten Asiens und Amerikas, aber auch die A rt zu wirtschaften: Unter den Anforderungen des Fernhandels, der sich
Welthandel
Der A ngriff beginnt am M orgen des 11. M ärz 1621. Vor Lonthor, der Haupt insel des Banda-Archipels in Südostasien, hat sich eine Flotte von 13 Dreimastern sowie fast 40 kleineren Gefährten ver sammelt. Die Armada hat eine Streit macht von 1900 Europäern herbeige schafft, die nun an Bord auf ihren Ein satz warten. Neben den m it Musketen bewaffneten Soldaten stehen mehrere Dutzend japanische Söldner bereit. Als der Tag anbricht, zeichnet sich die Insel allmählich vor dem Himmel ab. Hinter der Küste, die an vielen Stellen steil ins Meer abfällt, erhe ben sich grüne Hügel und von tropischen Pflanzen überwucherte Berge. In Booten setzen die Truppen nach Lonthor über, erklimmen mit L ei tern die steilen Klippen, strömen an den flacheren Uferabschnitten an Land. Die Bewohner der Insel sind auf die Attacke vorbereitet: A uf Klippen und Bergkup pen haben sie Posten eingerichtet, von denen aus sie nun mit Gewehren auf die Angreifer feuern. Doch die Fremden sind militärisch überlegen, überrennen die Stellungen. Manche Verteidiger springen in Schluchten oder stürzen sich ins Meer, um sich nicht gefangen zu geben. Bis zum Abend haben die Europäer, angeführt von dem 34-jährigen Nieder
länder Jan Pieterszoon Coen, einen Großteil der Insel unter ihre Kontrolle gebracht. Die meisten Einheimischen sind ins Innere des Eilands geflüchtet. Vergebens. In den folgenden W o chen brennen die Angreifer auf Lonthor und den umliegenden Inseln Siedlungen nieder, nehmen M änner, Frauen und Kinder gefangen und pferchen viele von ihnen auf Schiffen zusammen, um sie als Sklaven zu verkaufen. Gut 40 Dorfvorsteher legen sie in Ketten: Unter Folter müssen die Gepei nigten erklären, sich gegen die neuen Herren von Banda verschworen zu ha ben. Dann werden sie von den japani schen Schwertkämpfern geköpft und gevierteilt. A ll jene Inselbewohner, die noch immer in den Bergen ausharren, werden von lebenswichtigem Nachschub abge schnitten, fast alle verhungern: Von den einst 15 000 M enschen überleben auf dem Archipel wohl nur einige Hundert. Die Soldaten, die diese Bluttaten verüben, kämpfen nicht für einen macht hungrigen Potentaten oder einen rück sichtslos expansiven Staat - sondern sind die Abgesandten einer Firma. Und ihr Anführer Jan Pieterszoon Coen ist der ranghöchste Kaufmann der „Vereenigden Oostindischen Compagnie“ in Asien, der größten niederländischen Handelsgesellschaft.
Kühl rechnen die Händler Gewinn gegen Leben
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Coen und seine Gefolgsleute töten aus wirtschaftlichem Kalkül. Sie haben es auf eine seltene Gewürzpflanze abge sehen, die auf Banda gedeiht: den M us katnussbaum. Nach der Eroberung beschlagnahmt Coen die fruchtbaren Vulkaninseln im Namen der Handelsgesellschaft und teilt das Land in Parzellen auf, um sie an ehe malige Bedienstete der VOC zu verpach
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nunmehr über weite Teile der Erde er streckt, entwickeln sie sich zu erstaunlich modernen Unternehmen; viele Merkmale ihrer Organisationsform kennzeichnen Firmen bis heute. Und nicht zuletzt lässt ihr Erfolg in Europa den ersten moder nen Aktienmarkt heranwachsen. Zugleich verbreiten ihre leitenden Angestellten eine Denkweise, die von kühler Berechnung geprägt ist. Denn die Expeditionen folgen den Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftens: Es gilt, möglichst viel Gewinn zu erzielen. In den Menschen, auf die sie stoßen, sehen die Kaufleute meist nur Arbeits kräfte, nicht selten sogar eine Ware - und in den fremden Tier- und Pflanzenarten vor allem mögliche Produkte. u den wichtigsten dieser Luxusgüter gehören Ge würze. Viele der Pflanzen, aus denen sie gewonnen w erden, sind äußerst schwer zu beschaffen; sie gedeihen oft nur an abgelegenen Orten. Manche sind daher so kostbar, dass die Händler vor wenig zurückschrecken, um die duftende Ware in ihren Besitz zu bringen - etwa den schwarzen Pfeffer, die Frucht einer Rankpflanze, die in Südindien sowie auf Sumatra und Bor neo wächst. Oder Zimt, die getrocknete Innenrinde eines Baums, der sich in In dien und auf Ceylon findet. Noch seltener - und entsprechend wertvoller - sind jene Gewürze, die nur auf einigen Inseln der Molukken (im heutigen Indonesien) Vorkommen. Dazu gehören Gewürznelken, die duftenden Blütenknospen eines Baumes, sowie der Muskatnussbaum, dessen Frucht sehr begehrt ist. Monarchen, A delige und reiche Bürger lassen schon seit der Antike Wein und Speisen mit den exotischen Aromen verfeinern. Doch die begehrten Zutaten erreichen Europa anfangs nur über viele Zwischenhändler. Die wichtigste Trans portroute ist lange Zeit die Seidenstraße durchs Innere Asiens, andere führen über das Rote Meer oder den Persischen Golf in den Mittelmeerraum. Im Jahr 1498 erschließt der Portu giese Vasco da Gama den Seeweg um Afrika nach Asien. Seine Landsleute
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kontrollieren danach jahrzehntelang den Handel mit der kostbaren Ware: Sie er richten ihre Stützpunkte unter anderem auf den Molukken, von wo aus die Schiffe mit Gewürzen beladen nach Lissabon zurückkehren. Ihr geografisches Wissen hüten die Portugiesen eifersüchtig. Lange Zeit haben sie in Europa keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Doch dann entwickelt sich in den Verei nigten Niederlanden - einem Zusammen schluss mehrerer ehemaliger spanischer Provinzen, die sich 1581 für unabhän gig erklärt haben - ein reger Seehandel. Niederländische Kaufleute rüsten unter anderem Fahrten in die Ostsee aus: An deren Küsten erstehen sie günstiges Ge treide, das sie in ihren Heimathäfen, aber auch in anderen Ländern auf den M arkt bringen. Im Geschäft m it den Gewürzen sind sie dagegen nur Zwischenhändler: Sie erwerben die Spezereien in Lissabon von Kaufleuten, die das exklusive Recht erhalten haben, die kostbare Ware von der portugiesischen Krone zu erstehen. Die Niederländer verkaufen sie anschlie ßend in Nordeuropa weiter. Doch 1591 drängt ein Syndikat, zu dem die deutschen Handelshäuser der Fugger und W elser gehören, auf den Markt: Es erhält das Monopol auf den Kauf der von Portugal importierten Ge würze und verteilt sie danach vor allem an seine eigenen Partner. Nun gehen jene niederländischen Kaufleute, die keine Beziehungen zu die sem Kartell unterhalten, meist leer aus. Im Jahr 1595 wagen Händler aus Amsterdam daher erstmals auf eigene Faust die gefährliche Reise nach Süd ostasien. Eine kleine Flotte erreicht die Insel Java und kehrt nach zwei Jahren mit Gewürzen zurück. Die Expedition beweist, dass sich Lissabons Monopol umgehen lässt. Die Portugiesen sind nicht stark genug, um das von ihnen bean spruchte Seegebiet lückenlos zu über wachen. Die Missionen sind jedoch äußerst riskant: In den ersten Jahren geht etwa jedes fünfte Segelschiff verloren. Zudem dauert die Reise deutlich länger als die Fahrten nach Afrika oder in die Kari bik. Die Händler müssen deshalb für die Ausrüstung sowie für Kapital und
Tauschgüter pro Gefährt etwa 100 000 Gulden aufbringen. Solche Investitionen übersteigen die Mittel einzelner Kaufleute: Sie schließen sich daher zu Verbünden zusammen, zu „Kompanien“, und entsenden gemeinsam Flotten nach Südostasien. Um an das nötige Kapital zu kommen, verkaufen sie Investoren Anteile an ihrem Unterneh men. Der Kreis der Geldgeber ist jedoch in der Regel eng begrenzt: Familienmit glieder, Freunde, enge Geschäftspartner.
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Die Fahrten der niederländischen H andelsflotte zu den Gewürzinseln Südostasiens (hier Schiffe bei der Rückkehr 1599) dauern Jahre und sind teuer. Um das nötige Kapital aufzubringen, gewinnt die V O C fast 2000 Investoren, die A n te ile zeichnen
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Oft zahlt sich das Risiko aus. So bringen 1599 vier Schiffe einen Reichtum zurück nach Amsterdam, der jede Vor stellung übersteigt: Ihre Fracht besteht aus 272 Tonnen Pfeffer sowie 113 Tonnen Gewürznelken und Muskatnüssen. „Seit es Holland gibt, sind keine so reich be ladenen Schiffe zurückgekehrt“, schreibt ein Zeitgenosse. Die Gewürze erstehen die Kaufleute auf den Märkten Südost asiens, etwa der javanischen Hafenstadt Bantam - und können daher zu Recht
behaupten, die Waren durch „fairen, frei en und ehrlichen Handel“ erworben zu haben, wie der Kommandant der Expe dition betont. Die Nachricht von der spektaku lären Ausbeute dringt bis ins Ausland: Als Reaktion darauf rufen Londoner Kaufleute im Jahr 1600 die „East India Company“ ins Leben. Und anders als die niederländischen Zusammenschlüsse erhält sie höchste Privilegien: Königin Elisabeth I. stattet die Gesellschaft offi-
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Unweit der Liegeplätze der Segler, nahe der Börse und dem Rathaus, steht in A m sterdam die ö ffentliche Waage (G ebäude in der B ildm itte). A lle G roß händler der Stadt müssen hier ihre eingeführten Waren w iegen: um die städtische Steuer festlegen zu lassen
Nach dem Vorbild der V O C gründen niederlän dische Kaufleute 1621 auch eine G esellschaft für den Atlantikhandel, die unter anderem Sklaven von Afrika nach Am erika schafft. Der Am sterdam er Kaufmann Abraham de Visscher ist einer ihrer Direktoren
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zieJJ mit einem zunächst auf 15 Jahre beschränkten Monopol aus; als einziges englisches Unternehmen darf sie in die ser Zeit Handel mit Asien treiben. Die neue Konkurrenz zwingt die Niederländer zum Umdenken. Bis dahin haben mehrere Kompanien versucht, sich gegenseitig auszustechen - nun aber drängt die Regierung die Geschäftsleute zur Einigung: Sie sollen eine gemein same Handelsgesellschaft gründen. Der Staat w ill die Firma auch als politisches Instrument nutzen, denn ein großes Unternehmen könnte in Asien die Inter essen der Niederlande ver treten und sie gegen Portu giesen, Spanier und Eng länder durchsetzen, zur Not militärisch. Daher schließen sich mehrere niederländische Kompanien 1602 zur Vereenigden Oostindischen Compagnie zusammen. Die Regierung erteilt der Gesellschaft ein zunächst 21 Jahre lang gültiges Monopol. Östlich des Kaps der Guten Hoffnung genießt die VOC fortan weitreichende Privilegien: W ie ein souveräner Staat kann sie Forts errichten, Gouverneure ernennen, eigene Flotten und Armeen unterhalten, Kriege führen sowie Verträge mit asiatischen Herrschern schließen. Die VOC besteht aus sechs Kam mern, die jeweils eine niederländische Hafenstadt repräsentieren - am meisten Einfluss hat die von Amsterdam. Je nach ihrer Bedeutung schicken diese Nieder lassungen eine bestimmte Zahl ihrer Direktoren in ein Leitungsgremium. Insgesamt gehören 17 Delegierte (die „Siebzehn Herren“) zu diesem Vorstand. Zwar entsendet jede Kammer eige ne Schiffe aus ihrem Heimathafen, küm mert sich selbst um Mannschaften und Ausrüstung. Doch die Siebzehn Herren bestimmen über die jährlichen Investi tionen und organisieren den Verkauf der importierten Gewürze. Zudem treffen sie strategische Entscheidungen - sowohl in wirtschaftlichen wie auch m ilitäri schen Fragen. Denn bereits die erste Expedition der VOC ist ein gewaltsamer Kampf um Marktanteile. Im Dezember 1603 bre
chen zwölf schwer bewaffnete Schiffe auf. Der Kommandant nimmt eine Fes tung der Portugiesen auf der Molukken insel Ambon ein, deren Verteidiger sich ohne Gegenwehr ergeben. Doch das Handelsnetz der Portu giesen ist zu ausgedehnt, um es mit ver einzelten Angriffen von Europa aus zu zerschlagen. Der VOC fehlt ein zentraler, günstig gelegener Stützpunkt für ihre Gewürzflotten. M it der Umsetzung die
Verstoßen sie gegen diese Exklusiwerträge, entsendet das Unternehmen Strafexpeditionen. So geschieht es im M ärz 1621, als Coen mit seinen Truppen über die Ban da-Inseln herfällt, fast die gesamte Be völkerung verschleppt oder ermordet und die Produktion fortan selber organisiert. Ähnlich hart geht die VOC auch anders wo vor: kämpft den W iderstand der Einheimischen nieder, lässt von ihr als illegal angesehene Pflan zungen zerstören, vertreibt europäische und asiatische Händler. 1623 beschuldigen VOC-Angestellte den Lei ter des englischen Stütz punkts auf Ambon, einen A n griff auf das nieder ländische Fort geplant zu haben. Unter Folter erpres sen sie ein Geständnis und lassen ihn m it neun weiteren seiner Landsmänner hinrichten. Die East India Company zieht sich danach von den M olukken zurück und konzentriert sich zunehmend auf den Handel mit Indien. Die VOC hat das Geschäft mit den Nüssen des Muskatnussbaums inzwi schen vollständig unter ihre Kontrolle gebracht: 1621 verkauft sie bereits etwa 207 Tonnen dieser kostbaren Gewürze in Europa, dazu 160 Tonnen Gewürznel ken und rund 1000 Tonnen Pfeffer im Wert von insgesamt mehr als drei M il lionen Gulden.
Ohne Krieg gibt es für die
ses Plans beauftragen die Siebzehn Her ren 1619 ihren Generalgouverneur für Asien: einen M ann namens Jan Pieterszoon Coen. Der 32-jährige Niederländer ist gebildet, er hat den Kaufmannsberuf in Rom erlernt und schon an mehreren Expeditionen der VOC teilgenommen. Für Coen sind Ökonomie und Gewalt - durchaus typisch für seine Zeit untrennbar miteinander verbunden: In einem B rief erklärt er, die VOC könne „keinen Handel treiben ohne Krieg, und keinen Krieg führen ohne Handel“. Und tatsächlich erschließt er der Gesellschaft rücksichtslos neues Territo rium, neue Einflussgebiete. Bereits 1619 erobert er die javanische Stadt Jayakatra, zerstört sie und errichtet in den folgen den Jahren auf ihren Ruinen eine neue Siedlung: Batavia. Anders als frühere Generalgouver neure, die am Widerstand der Einheimi schen und der englischen Konkurrenz gescheitert waren, kann Coen hier end lich den geplanten zentralen Stützpunkt errichten. Von diesem sicheren Hafen aus be ginnt die VOC, sich ein Gewürzmono pol auf den Molukken zu erkämpfen. Sie schließt Verträge mit den Einheimischen, die sich verpflichten, ihre Erzeugnisse nur noch an die Niederländer zu liefern.
Welthandel
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VOC keinen Handel
on Beginn an ist die VOC ein Unterneh men m it zwei Fas saden: In Asien rafft die Handelskompa nie Gewürze zusam men und tritt mit größter Brutalität auf— daheim dagegen verkehren ihre Reprä sentanten in feiner Gesellschaft: Ihre Direktoren sind angesehene Kaufleute, die oft beste Beziehungen zur örtlichen Stadtverwaltung und der niederländi schen Regierung haben. M ehr als 1800 Investoren, neben Kaufleuten nun auch Staatsdiener, Dok toren, Geistliche, Handwerker und sogar einige Arbeiter, haben ihnen bei der
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Gründung ihr Geld anvertraut und An teile an der VOC gezeichnet, bezahl bar in mehreren Raten. So sind rund 6,4 Millionen Gulden zusammengekom men. Die Gesellschaft verfügt damit über ein Kapital, das gut zehnmal größer ist als das Gründungsvermögen der engli schen East India Company. Trotzdem ist die VOC in der A n fangszeit ständig vom Bankrott bedroht. Grund dafür ist ihre althergebrachte Fi nanzierung, die eine langfristige Planung unmöglich macht: Sie folgt noch dem Beispiel der früheren Kompanien, aus denen die VOC hervorgegangen ist. Diese Unternehmen waren ja nie als dauerhafte Einrichtungen gedacht: Die Anleger erwarben jeweils nur Anteile an einem Projekt, einer Handelsexpedition. Nach der Rückkehr der Schiffe löste sich die Kompanie auf, die Geldgeber erhiel ten ihr Kapital zusammen mit etwaigen Profiten zurück - und konnten sich dann entscheiden, ob sie erneut in ein Unter nehmen investieren wollten. Ähnlich ist anfangs auch die VOC organisiert: Die Planung sieht vor, nach zehn Jahren ihren gesamten Besitz mit samt der Schiffe zu verkaufen, um die Anleger auszuzahlen. Anschließend wol len die Direktoren eine neue Gesellschaft ins Leben rufen. Sie vertrauen darauf, während der ersten Phase ausreichend Gewinn zu machen. Doch sie haben nicht vorhergese hen, wie viel Geld die Projekte in Asien verschlingen. Große Teile des Silbers, das ihre Handelsschiffe mit sich führen und das eigentlich für den Kauf von Gewürzen gedacht war, werden anfangs für Militärkampagnen und den Bau von Festungen ausgegeben. Als Teil der Kriegsflotte müssen die Segler zudem länger als geplant in Asien bleiben, sie kehren deshalb später als er wartet mit ihrer Fracht zurück. So macht die VOC weniger Gewinn, obwohl sie dringend weiteres Geld für die Ausrüs tung ihrer Armada braucht. Sollte sich die Gesellschaft wie vorgesehen 1612 auflösen, würden die Anleger von dieser länger andauernden schwierigen Situation erfahren - und vermutlich nicht mehr in ein Nachfolge unternehmen investieren. Als der Termin gekommen ist, weigern sich die Direk
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toren daher, den Anteilseignern wie ver sprochen ihr Geld auszuzahlen. Sie versuchen aber, die aufgebrach ten Teilhaber zu besänftigen, indem sie Dividenden zahlen: M it solchen Aus schüttungen haben schon frühere Unter nehmungen ihre Anleger am Gewinn beteiligt. Die VOC beginnt damit 1610, muss aber die Summe zunächst zum Teil in Form von Gewürzen erstatten, weil ihr die Barmittel fehlen. Dennoch ist dieses Vorgehen er folgreich, die Direktoren können die Auflösung der Kompanie abwenden. Und so verwandelt sich die VOC in ein dauerhaftes Unternehmen, das über ein festes Anlagekapital verfugt. Sie hat nun die finanzielle Sicherheit, um Projekte in
Asien langfristig zu planen und dort ein Netz von Niederlassungen zu errichten. Doch die Probleme der Gesellschaft sind damit noch nicht vollständig gelöst. Um ihren Handelskrieg in Asien fort zusetzen, muss sie sich weiteres Kapital besorgen. Sie beginnt daher, zeitlich befristete Anleihen herauszugeben. Zunächst enthalten diese Papiere noch, wie bis dahin üblich, eine Garantie der Direktoren, persönlich mit ihrem Besitz und ihrer Person für die Schulden des Unternehmens zu haften. Eine Zah lungsunfähigkeit der VOC könnte die hohen Herren daher finanziell ruinieren und sogar ins Gefängnis bringen. Doch ab 1622 fehlt diese Garantie auf einigen Schuldverschreibungen.
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Das D ock der V O C in Am sterdam : 1650 besitzt die Gesellschaft in Asien 74 Schiffe. Es ist die g röß te europäische H andelsflotte; zudem sind die nieder ländischen Segler ausgesprochen schlagkräftig bewaffnet
Im Jah r darauf schaffen die M it glieder der Amsterdamer V O C-K am m er endgültig Klarheit: In einem revolutio nären Schritt weisen sie jede persönliche V erantw ortung von sich un d m achen stattdessen das U nternehm en selbst für Schulden haftbar. D ie Kompanie verhält sich fortan, juristisch gesehen, wie eine eigenständige Person. Aus der N ot heraus entsteht so ein sehr modernes Gebilde - eine Pioniertat in der Geschichte des Kapitalismus: D ie V O C ist jetzt eine auf D auer angelegte, international tätige kommerzielle O rga nisation, die auf ein festes Kapital von nie da gewesener G röße zurückgreifen kann. Als nicht an Personen gebundene E in richtung bleibt sie selbst dann bestehen,
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w enn ihr V orstand wechselt. D am it ist eine K onstruktion entstanden, die viele Privatunternehmen in aller W elt bis heute prägt - die m oderne Aktiengesellschaft. U m dies zu erreichen, hab en die D irektoren der V O C jedoch m ehrm als die Rechte der A nleger missachtet. D ie Anteilseigner protestieren zwar im m er w ieder gegen ihre E n tm ü n d i gung, doch die m it zunehm ender Regel m äßigkeit ausgeschütteten D ividenden entschäd ig en sie zu m in d est teilw eise dafür - in den ersten 20 Jahren erhalten sie per ann u m d u rch sch n ittlich zeh n P rozent ihrer Anfangsinvestition, später zum Teil sogar noch deutlich mehr. Vor allem aber können die Anleger ihre A nteile wie m oderne A ktien jed er
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zeit W eiterverkäufen, oft m it großem Gew inn. Zw ar gibt es handelbare W ert papiere schon länger: So haben italieni sche S tadtstaaten wie Venedig, G enua u n d F lorenz bereits im M ittelalter b e gonnen, Schuldverschreibungen heraus zugeben und sich so G eld bei Investoren zu leihen. Im Prinzip ließen sich diese Papiere a u f neue B esitzer übertragen, doch w eil der Kreis der Interessenten relativ klein war, entstand kein leb h af ter M arkt. D as ändert sich nun m it den A nteilen der V O C . D ie Kompanie gibt zwar keine A k tienscheine heraus, aber die Anteile jedes Aktionärs sind in den Büchern der V O C exakt verzeichnet. U m sie zu überschrei ben, suchen die Investoren den jeweiligen Sitz der K om panie auf, etwa das 1606 eröffnete O stindische H aus in A m ster dam, und lassen dort gegen eine G ebühr die E inträge ändern. chon kurz nach der G rü n dung der V O C beginnen A nleger daher, A nteile zu kaufen u n d zu verkaufen. In n e rh a lb w eniger Jahre w ächst zudem ein H andel mit Papieren heran, die Ökonomen später „Derivate“ nennen werden (von lat. deri vare, „ableiten“): D iese Vereinbarungen erlauben es Investoren, m it den Aktien zu spekulieren, ohne sie selbst zu besitzen. D abei verpflichtet sich der Käufer beispielsweise, einen A nteil an der V O C zu einem bestim m ten Z eitp u n k t zu ei nem zuvor vereinbarten Preis zu erstehen - und profitiert, w enn der tatsächliche Firm enw ert in der Z u k u n ft höher aus fällt. Diese A rt von Geschäft, die es vor her etwa schon im H andel m it Getreide oder H eringen gab, ist im G runde eine riskante W ette au f die Entw icklung des A ktienkurses. E inen festen O rt für solche Trans aktionen gibt es anfangs noch nicht. In
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A m A m sterdam er Hafen wird die exotische Fracht aus den S chiffen der O stin die n -K o m pa n ie gelöscht: P fe ffe r und Z im t aus Indien, Nelken und Muskatnüsse von den M olukken, Sandelholz von Tim or. Die Reichen Europas zahlen hohe Summen für die Luxuswaren - und die N iederländer dom inieren ein Jahrhundert lang den M a rkt fü r die begehrten asiatischen G ü te r
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Batavia im heutigen Indonesien ist der M itte lp u n k t des Handelsreiches der V O C . G rachten durchziehen die Siedlung nach niederländischem V orbild, eine Festung m it mehreren Tausend Soldaten schützt die Bewohner - und Geschäftsinteressen
deren Blüten wegen eines Virusbefalls auffällig gemustert sind. Ihre Farbenpracht begeistert aber nicht nur Floristen und Gelehrte - die exotischen Blumen ziehen auch Kunst sammler in ihren Bann, die neben Ge mälden nun Tulpenzwiebeln horten. W eil es immer mehr Interessenten gibt, steigt der Wert mancher Sorten ste tig an: Sie gelten Anlegern deshalb bald als vielversprechende Kapitalanlage.
nach oben, bis auf dem Höhepunkt die ser Spekulationsblase manche Zwiebeln für weit über 1000 Gulden den Besitzer wechseln. Schließlich aber finden sich nicht mehr genügend Käufer, die bereit sind, Unsummen auf zukünftige Pflanzen zu wetten. So platzt 1637 die vermutlich erste Spekulationsblase der Geschichte: Die Preise stürzen rapide, der M arkt bricht zusammen. Fünf Jahre später ist der Wert mancher Sorten um mehr als 80 Prozent gefallen. Anteile an der VOC erweisen sich dagegen als verlässlichere Geldanlage. Denn die Kompanie baut in Asien nach und nach ein Handelsimperium auf, das weit über die M oluk ken hinausreicht. Über Jahrzehnte hinw eg be schert es dem Unterneh men beachtliche Profite - und den Be sitzern der Aktien hohe Dividenden. Der M ittelpunkt dieses Reiches ist Batavia: Dort hat die Handelsgesellschaft eine Siedlung nach europäischem Vor bild errichtet. Das Zentrum ist wie viele niederländische Städte von zahlreichen Grachten durchzogen. An den Ufern reihen sich Backsteinhäuser, die Fassaden weiß getüncht gegen die Sonnenhitze.
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Amsterdam treffen sich die Käufer und Verkäufer von W ertpapieren, wie auch von Waren aller Art, auf einer Brücke in der Nähe des Hafens, wo Schiffe mit den neuesten Nachrichten einlaufen. Um den Handel unter Kontrolle zu bringen, lässt die Stadtverwaltung schließlich unweit des Ostindischen Hauses ein Börsenge bäude errichten, das 1611 eröffnet wird. Es ist nicht die erste Einrichtung dieser Art: An anderen Orten gibt es solche Räumlichkeiten schon länger, in Antwerpen beispielsweise seit 1531. Doch da der Handel mit VO C-Anteilen im mer mehr Spekulanten anzieht, entwi ckelt sich der M arkt für Aktien an der Amsterdamer Börse erstaunlich schnell. In den ersten Jahren ist die Gruppe der Investoren noch übersichtlich, doch dann beteiligen sich immer mehr M en schen, die sich untereinander oft nicht kennen, an den Transaktionen. Deshalb vertrauen Anleger zunehmend auf M ak ler, die gegen Gebühr den Kontakt zwi schen Käufern und Verkäufern herstellen. Interessenten können nun jederzeit relativ einfach A nteile erwerben oder abstoßen. Der Wert der Aktie wird durch Angebot und Nachfrage bestimmt. So wächst in Amsterdam das erste moderne Aktienwesen der Geschichte heran. Zunehmend beteiligen sich auch Angehörige der M ittelschicht am Bör senhandel: Zu den Investoren zählen unter anderem Witwen, die ihre Ersparnisse anlegen. Dass eine Börseneu phorie aber auch kippen kann, erfahren die Nieder länder ebenfalls früh. Denn Anleger wetten nicht nur auf die Preisentwicklung von Aktien, sondern auch auf andere W erte - und m achen dabei aus dem Kaufmannsprinzip von In vestition und Geldanlage ein gefährliches Spiel. Etwa bei Tulpen. Die Zwiebeln dieser ursprünglich aus der heutigen Türkei stammenden Blumen, die wohl M itte des 16. Jahrhun derts erstmals von einem österreichischen Diplomaten nach Westeuropa gebracht worden sind, erzielen in den Niederlan den unter Liebhabern hohe Preise. Als besonders wertvoll gelten jene Tulpen,
Das Imperium der VOC bringt reiche Dividende
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Daher beteiligen sich ab 1634 nicht mehr nur Blumenkenner, sondern zuneh mend auch unerfahrene Investoren am Tulpenhandel. Noch während die Pflanze unter der Erde neue Zwiebeln austreibt, spekulieren sie auf den zukünftigen Wert der Ableger - eine riskante Wette, denn nicht alle befallenen Gewächse entwi ckeln sich wie erwartet. Etliche Geschäfte macher treiben die Preise immer weiter
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Reiche Kaufleute wie die V orsteher der A m ste rd a m e r W einhändlergilde (ob e n ) oder die D irektoren der O stin die n -K o m pa n ie bilden die Elite der Niederlande. Ihre Profite m achen das kleine Land zur w eltw eit führenden Handelsm acht
Innerhalb der Stadtmauern befinden sich große Warenlager sowie Kirchen, Kran kenhäuser, eine Lateinschule, ein W ai senhaus und sogar eine Druckerei. Zum Schutz des Handelszentrums hat die Kompanie eine mächtige Festung aus Stein erbaut, in der meist mehrere Tausend Soldaten stationiert sind. A uf der Werft vor der Stadt zimmern Arbei ter neue Boote und bessern die großen Ostindienfahrer aus. 1650 besitzt die VOC in Asien 74 Schiffe, deutlich mehr als E ngländer, Spanier oder Portugiesen. Zudem sind die niederländischen Gefährte besonders wen dig und gut bewaffnet. Von Batavia aus lenkt der Generalgouverneur ein w eitgespanntes Netz an Niederlassungen. Er wertet Nachrichten aus, die aus den Niederlan den und Asien eintreffen, und entsen det Schiffe m it Nachschub, M ännern, Tauschwaren und Geld an die verschie denen Stützpunkte. Im Jahr 1625 verfügt die Kompanie allein in Asien über etwa 7700 Bedienstete.
Inzwischen leitet ein Nachfolger von Jan Pieterszoon Coen die Geschäfte. Coen ist 1629 in Batavia gestorben, ver mutlich an Cholera. Das H erzstück des V O C-Im periums bilden nach wie vor die gewürz reichen Inseln der M olukken. Doch die Gesellschaft unterhält inzwischen viele weitere Handelsposten in Asien, etwa auf Ceylon (wo sie die Zimtproduktion un
die versucht hatten, die Einheimischen zu missionieren. Stattdessen residieren nun die Niederländer auf Dejima, einer streng kontrollierten künstlichen Insel im Hafen von Nagasaki. Dort dürfen sie als einzige Europäer m it den Japanern Handel treiben. Sie tauschen ihre W aren gegen Gold, Silber und Lackarbeiten ein. Auf Versuche der Niederländer, die Japaner einzuschüchtern, reagieren die dortigen Behörden mit drastischen Maßnahmen: Einen ranghohen Kaufmann der VOC, der japanische Händler in ihrer Arbeit behindert haben soll, lassen sie ins Ge fängnis werfen. Während das Personal der VOC anderswo oft herrisch auftritt, weist die Kompanie ihre Angestellten auf Dejima an, sich im Umgang mit ihren Gastgebern „mit Bescheidenheit, Demut, Höflichkeit und Freundschaftlichkeit zu wappnen und sich stets wie Untergebene zu verhalten“. Auch im M ittleren Osten ist die VOC aktiv. Da sie nicht ihre gesamten Gewürzvorräte in Europa auf den Markt bringen kann, w eil sonst die Preise zu stark fallen würden, transportiert sie ei nen Teil der duftenden Fracht zusammen mit indischen Textilien nach Persien, wo sie dafür Gold- und Silbermünzen erhält. In Batavia laufen zudem zahlreiche Dschunken aus C hina ein, die Seide, Porzellan und den in Europa beliebten Tee mit sich führen. Ein weiteres begehr tes Genussmittel, den Kaffee, importiert die Kompanie aus dem heutigen Jemen. Ab etwa 1720 wird sie die aromatischen Bohnen in P lan tagen au f Java im heutigen Indonesien selbst anbauen lassen. Ihr asiatisches Impe rium verschafft der VOC gewaltige Einnahmen. In den 1660er Jahren, auf dem Höhepunkt ihrer M acht, erwirtschaftet die Gesell schaft einen durchschnitt lichen Jahresgewinn von 1,6 M illionen Gulden. Die enormen Profite der VOC tra gen zum wirtschaftlichen Aufschwung der Niederlande bei, die im 17. Jahrhun dert ein „Goldenes Zeitalter“ erleben: Das kleine Land mit nicht einmal zwei
Bald handeln die Nieder
länder auch mit Menschen
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ter ihre Kontrolle bringt), in Indien und dem heutigen Bangladesch (von wo sie Pfeffer, Baumwolle und Seide exportiert) sowie in Japan (wohin sie unter anderem die Seide verkauft). Japans Herrscher, der Shogun, hat 1636 die Portugiesen ausgewiesen, weil
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Welthandel
Die Börse in A m sterdam , 1653. Bereits seit 1612 werden hier W ertpapiere der V O C getauscht. Zwar haben einzelne Unternehm en auch zuvor schon A ktie n ausgegeben, die O stin die n -G ese llsch a ft aber sch ü ttet ihren A nteilseignern regelm äßig G ew innbeteiligungen aus. Das m acht die Papiere ho ch be g e h rt - und lo ckt Spekulanten an, die auf diese B e liebtheit W e tte n abschließen
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M illionen Einwohnern entwickelt sich zur weltweit führenden Handelsmacht. Niederländische Kaufleute haben Liefe ranten und Kunden in aller Welt. Um den Atlantikraum zu erschlie ßen, haben niederländische Händler be reits 1621 nach dem Vorbild der VOC eine „West-Indische Com pagnie“ ge gründet. Die Regierung erteilt der Ge sellschaft ein Monopol über den Handel in ganz A m erika sowie großen Teilen Afrikas. M ithilfe der W IC wollen die Niederländer unter anderem die Portu giesen herausfordern, die sich in Brasilien angesiedelt haben, wo sie Zuckerrohr auf
Plantagen anbauen. Als Arbeitskräfte setzen die Südeuropäer Sklaven ein, die sie aus Westafrika verschleppen. Von 1624 an attackiert die W IC mehrfach Stützpunkte der Portugiesen und bringt Teile der Zuckerproduktion in Brasilien unter ihre Kontrolle. Später konzentrieren sich die Niederländer auf eine ebenso lukrative wie skrupellose Form des Atlantikhandels: Von ihren H eim athäfen aus verschiffen W IC Kaufleute zunächst Güter nach Afrika, darunter Waffen und Spirituosen sowie von der VOC aus Indien im portierte Baumwolle und Kaurischnecken von den
Malediven, die in Teilen Westafrikas als Währung genutzt werden. Dafür tauschen sie bei afrikanischen Stammesfürsten Gold und Elfenbein ein, aber auch Sklaven. Die transportieren sie über den A tlantik zu ihrem Stützpunkt auf der Karibikinsel Cura^ao. Von dort aus verkaufen sie viele der Gefangenen in die spanischen Kolonien. Ein weiterer Teil geht an Surinam und andere nieder ländische Besitzungen in Übersee. Für die menschliche Ware erhalten die Händler unter anderem Zucker, den sie auf der Rückfahrt in die Niederlande bringen und dort verkaufen. Vom Erlös
DAS REICH DER KAUFLEUTE
Die Schiffe der VOC nehmen den von den Portugiesen entdeckten Weg um die Südspitze Afrikas und laufen meist zunächst Batavia an. Von dort aus handeln die Niederländer mit Japan und Persien, mit Indien und China. Doch Ende des 17. Jahrhunderts beginnt der Niedergang: Die britische Konkurrenz wird immer stärker - und die eigenen Angestellten sind korrupt
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erw erben sie neue G üter, die sie nach A frika exportieren - so schließt sich der H andelskreis. Zw ischen 1674 u nd 1740 verschleppen Kaufleute der W IC nahezu 200 000 Sklaven nach A m erika. E tw a jeder Fünfte stirbt auf der Ü berfahrt oder in den Baracken der Kompanie. A m H andel m it der W are M ensch verdienen zahlreiche M ächte: neben N ie d erländern, S paniern un d P ortugiesen auch Franzosen, Schweizer und E nglän der. A u f diese W eise w ächst in der K ari bik und an den Küsten Amerikas eine auf Sklavenarbeit gegründete, gew innorien tierte P lantagenw irtschaft heran, die es fortan möglich macht, exotische Produkte wie Z ucker, Tabak, Kakao u n d B aum wolle billig zu produzieren - sie sind in E uropa bald ebenso beliebt wie die L u xusgüter aus Asien. as Kapital, das die Kauf leute und Investoren mit ihren über den gesam ten G lobus gespannten H andelsgeschäften er w irtschaften, treibt die ökonomische Entw icklung Europas w ei ter voran. D o ch das L and, das diesen W elthandel lange entscheidend geprägt hat, verliert zum E n d e des 17. Ja h rh u n derts an B edeutung. D e n n als 1700 der spanische König Karl II. kinderlos stirbt, beginnt ein jahrelanger Erbfolgekrieg der europäischen M ächte, in dem die N ie derlande große Verluste erleiden und sich zudem tief verschulden: Bei dem Versuch, sich m ilitä risch zu b e h a u p te n , ü b e r n im m t sich der kleine Staatenbund. In den Jahrzehnten darauf stagniert die W irtschaft des Landes, w ährend R i valen wie E ngland und Frankreich einen Aufschwung erleben. Das w irkt sich auch au f die G esch äfte der V O C aus: D ie einst so dom inante K om panie sieht sich im m er stärkerer K onkurrenz gegenüber, verliert unter anderem bedeutende indi sche Standorte an die Engländer. Zudem büßt die V O C eine wichtige G eldquelle ein: D ie japanische R egie rung, der die N iederländer zuvor große M engen an G old u nd Silber abhandeln konnten, schränkt die A usfuhr der E del m etalle deu tlich ein. D a rü b e r hinaus b rin g t das von der K om panie k o n tro l lierte G ew ürzgeschäft n ic h t m e h r so
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viel ein wie in früheren Z eiten . A ndere G ü ter wie Tee und Textilien sind inzw i schen in E uropa begehrter, u n d bei die sen W aren ist die englische E ast In d ia C om pany im V orteil, da sie in In d ien und C hina erfolgreiche N iederlassungen aufgebaut hat. U n d schließlich trag en auch K or ru p tio n u n d G eldgier zum N iedergang der V O C bei. V iele A ngestellte b erei chern sich fern der H eim at: Sie handeln a u f eigene R ech n u n g , n eh m en B este chungsgelder an. O bw ohl die G eschäfte der Gesellschaft im m er schlechter laufen, kehren sie als reiche M ä n n er zurück. B ereits ab 1690 m a ch t die V O C in A sien Verluste, die rasch zunehm en; nur kurz noch kann sie zw ischenzeitlich schwarze Z ahlen schreiben. In den N ie derlanden erzielt die K om panie m it dem Verkauf der exotischen G ü ter zwar noch G ew inne, doch muss sie nun einen grö ßeren Teil dieser E innahm en abzweigen, um dam it ih r kostspieliges H andelsnetz im Fernen O sten aufrechtzuerhalten. A b 1736 ru tsch t auch das G esam t unternehm en in die Verlustzone. In den fo lg en d e n J a h rz e h n te n m uss es sich im m er w ieder G eld borgen. V iele der Investoren bestehen dabei n ich t au f eine baldige Rückzahlung, sondern streichen nur die Z insen ein. D ie V O C verschafft sich so zusätzliches Kapital, h äuft jedoch bis E nde des 18. Jah rh u n d erts Schulden in H ö h e von 134 M illionen G ulden an. In A sien h a t die K om panie bald n ic h t m e h r g en ü g en d G eld , u m ihre F lotte zu finanzieren. Es fehlt an Schif fen u n d B esatzu n g . D ie m ilitä risch e Kraft der V O C schwindet, häufig werden ihre T ruppen nun zurückgeschlagen. D as P ersonal der V O C ist n och dazu von Seuchen geschwächt: In B ata via grassiert häufig die M alaria. „Särge stehen hier jederzeit bereit“, schreibt ein Bediensteter. Im Jahr 1778 hat die dortige B esatzung eine G esam tstärke von 1150 M a n n , d och nur noch 187 europäische Soldaten sind kam pffähig. Im folgenden Jah r schickt der G eneralgouverneur ein verzweifeltes H ilfegesuch an die R egie rung: D ie einst so m ächtige H a n d e ls gesellschaft sei „kaum noch in der Lage, sich zu verteidigen“. A ls im D ezem b er 1780 ein K rieg zw ischen den N iederlanden und G ro ß
b rita n n ie n au sb rich t, w ird die V O C , deren A k tien w ert in den Jah ren zuvor stetig gesunken ist, h a rt getroffen: D ie britische F lo tte fängt viele ihrer Schiffe ab, kostbare L adungen gehen verloren. 1795 besetzen französische Revolu tionäre die Vereinigten N iederlande, m it ihnen sym pathisierende niederländische B ürger rufen d araufhin eine R epublik aus. Sie e n tm a c h te n die h errsch en d e O berschicht, zu der auch die D irektoren der V O C gehören. D ie Siebzehn H erren w erden für einige Jahre durch ein staat liches G rem iu m ersetzt. D o ch die tie f v ersc h u ld ete H a n d e lsg e se llsc h a ft ist längst n ich t m ehr lebensfähig. A m 31. D ezem b er 1799 erlöschen die Privilegien der V O C , am Tag darauf h ö rt sie förm lich au f zu existieren. D er S taat ü b ern im m t die gesam ten B esitz tüm er der Kompanie - und ihre gewalti gen Schulden. So e n d e t die G esellschaft, die in A sien m ehr als ein Jah rh u n d ert lang m it nahezu unbeschränkter M acht den H a n del beherrschte, die m it ihrer Gewalt und kaufm ännischen L o g ik ganze A rchipele u nterw arf und ein H andelsim perium von enormen Ausm aßen erschuf. U nd die mit ihrer O rganisationsform viele M erkm ale heutiger Firm en vorwegnahm und so den m odernen K apitalism us prägte. D o ch das m ächtige U nternehm en verschw indet n ich t spurlos: Seine L ä n dereien in Südostasien werden zu nieder lä n d isc h en K o lo n ien u n d b ild e n den K ern des heutigen Indonesien. U n d Jakarta, die H au p tstad t In d o nesiens, ist hervorgegangen aus Batavia - jen em S tü tzp u n k t der V O C , den der N ied erlän d er Jan P ieterszoon C oen ab 1619 m it G ew alt errichtete. £
M a rtin P aetsch, 43, ist Autor in Hongkong.
L IT E R A T U R E M P F E H L U N G E N :
Jürgen
G. Nagel, „Abenteuer Fernhandel. Die O st indienkompanien“, W issenschaftliche Buch gesellschaft: gute Einführung in die G e schichte des O stindienhandels. Femme S. Gaastra, „The Dutch East India Company. Expansion and D ecline“, W alburg Pers: reich illustrierter Überblick zur V O C .
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In d u stria lisie ru n g 4
GEBURT ein er neuen
KLASSE
A rb e ite r in einem Eisenbahnw erk in N o rd o s te n g la n d ,
1908. Sie
J?
gehören zum neu e n tstan d e n e n In d u s trie p ro le ta ria t - und werden nach M a rx die Träger d e r fin a le n R e vo lu tio n gegen den b ü rg e r lichen K a p ita lism u s sein
GEO EPOCHE K a pita lism u s
Im Londoner Exil schreibt der gescheiterte Revolutionär Karl M arx eine vernichtende A brechnung m it dem Kapitalismus
Die Industrielle Revolution ist die größte ökonomische Umwälzung der Geschichte. M it ihr gewinnt die kapitalistische Wirtschaftsordnung eine nie da gewesene Kraft, die die Arbeits- und Lebens verhältnisse der Menschen von Grund auf verändert, zuerst in Großbritannien, wo der Umbruch um 1770 beginnt, dann auf der ganzen Welt. Der deutsche Philosoph Karl Marx, Exilant in London, veröffentlicht 1867 eine Analyse dieser Entwicklung - und wird zum schärfsten Kritiker des Systems der Profitmaximierung V o n R A L F B E R H O R S T und J E N S -R A IN E R BERG
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Im Jahr 1867 ist London die rastlose Ka pitale eines neuen Zeitalters. Die w elt weit erste Untergrundbahn durchquert das Erdreich, befördert täglich Zehntau sende Passagiere. Dampfer durchpflügen im Pendelverkehr die Themse, Eisen bahnviadukte überspannen die Straßen, Hunderte Pferdeomnibusse verbinden entfernte Quartiere. In zwei W eltausstellungen haben sich die Metropole als Zentrum des Fort schritts und Großbritannien als „Werk statt der W elt“ gefeiert. Im Hyde Park wurde dazu eigens der Kristallpalast er richtet, eine 41 M eter hohe Kathedrale aus gut 4000 Tonnen Eisen und 84000 Quadratmetern Glas. H underte G as laternen erleuchten nachts die Viertel. London ist die modernste Stadt des Planeten, ein Vorbild, dem Paris, Berlin und New York nacheifern. M ehr als 3,2 Millionen Menschen drängen sich in der C ity und den Vororten. Einer von ihnen ist ein staatenloser und oft mittelloser Emigrant aus Preu ßen: der 49-jährige Karl Marx, früherer Chefredakteur der linksliberalen „Rhei nischen Zeitung“ in Köln, politischer Aktivist und gescheiterter Revolutionär. Seit 18 Jahren lebt M arx in der britischen Hauptstadt, die liberal ist in W irtschaftsfragen, zudem tolerant ge genüber Flüchtlingen - und erdrückend teuer. Der Deutsche, einer der Führer der Revolution von 1848 in der preußischen Rheinprovinz und nach der Niederschla gung des Aufstands von der Regierung ausgewiesen, hat m it seiner Fam ilie zunächst eine Wohnung im mondänen Stadtteil Chelsea bezogen, konnte aber schon bald die M iete nicht mehr zahlen und musste in eine neue Unterkunft in
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der Dean Street in Soho wechseln, eine ärmliche Zweizimmerwohnung im bil ligen Künstler- und Emigrantenviertel. Immer wieder ist er mit der M iete im Rückstand geblieben, musste an schreiben lassen in Pubs, bei Bäckern und M etzgern, hielt sich m it Zuwen dungen von Freunden über Wasser, mit Wechseln und Schuldscheinen, die er an seine Gläubiger ausgab. Und er hat ge schrieben, Hunderte A rtikel als W irt schaftskorrespondent für die „New York D aily Tribüne“, „Die Presse“ in W ien und andere Blätter in England, Preußen, Österreich und Südafrika. Anfangs hat sein Englisch kaum ausgereicht, um Tischgespräche zu be streiten, und noch immer spricht Marx, der lispelt, die fremde Sprache mit dem starken Akzent seiner Geburtsstadt Trier. Oft ist der untersetzte M ann mit dem wallenden, bereits ergrauten Bart unterwegs in der Stadt, zu einer politi schen Demonstration im Hyde Park, einer Debatte im Unterhaus, einem Tref fen mit deutschen Handwerkern im East End oder zu einer Sitzung des von ihm mitgegründeten Flüchtlingskomitees, das Spenden für Gestrandete sammelt, von denen er selbst einer ist. Marx sieht sich in London nicht im Zentrum eines hoffnungsvollen A uf bruchs, sondern vielmehr im Mittelpunkt einer zerstörerischen Kraft, die dabei ist, den ganzen Globus zu erfassen: des mo dernen Industriekapitalismus. Eines öko nomischen Systems, das dazu geführt hat, dass die W elt zu einer Ansammlung von Waren geworden ist, in der jedes Produkt neben seinem praktischen Nutzen einen genau bezifferbaren Tauschwert hat auch die Arbeitskraft der Menschen. Die Arbeiter in den Werften an der Themse, in den Druckereien, Seifen siedereien und Streichholzfabriken von London, ebenso ihre Kollegen in den Eisenhütten und W alzwerken an der Ruhr, an den Hochöfen in den USA - sie alle macht der Industriekapitalismus zu Teilnehmern einer unendlichen Zirkula tion von Werten, deren Antrieb das rast lose Streben nach Gewinn ist, von dem die Proletarier jedoch nicht profitieren. Der Kapitalismus, so M arx, ist ein Zwangssystem, das kein Beteiligter wirk lich durchschaut, dem kein Unternehmer,
kein Fabrikarbeiter entrinnen kann, es sei denn bei Strafe des eigenen Bankrotts. Und das doch irgendwann unter seiner eigenen Last, dem Elend, der Knechtung und Ausbeutung, die es hervorbringt, einstürzen werde. Immerzu hält Marx Ausschau nach Anzeichen einer Krise, die, so glaubt er, dem großen Umsturz, einer künftigen Revolution vorangehen muss. Er studiert in den Zeitungen Zahlungsbilanzen, Ak tienkurse und die Zinsentwicklung. London ist ja auch das Finanzzen trum des Landes und Sitz der wichtigs ten Börse der Welt. Schwanken hier die Kurse oder hebt oder senkt die Bank von England ihre Zinsen, so hat dies Auswir kungen auf den gesamten Globus. Marx macht sich immer wieder von seiner neuen Wohnung in einem dreistö ckigen Reihenhaus im Norden Londons auf in die Stadtmitte, zur Bibliothek des Britischen Museums. In deren Lesesaal verbringt er viele Tage, von neun Uhr morgens bis um 19 Uhr am Abend. Dort studiert er die Schriften be rühmter Ökonomen wie Adam Smith, David Ricardo, Thomas M althus oder John Stuart M ill, er analysiert die Steuer statistik Großbritanniens (die belegt, dass die hohen Einkommen ansteigen), er geht die Protokolle von UnterhausDebatten durch - und immer wieder die Untersuchungsberichte des Parlaments über die Zustände in den Fabriken. Der Deutsche ist ein unsystemati scher, leicht abzulenkender Leser. Oft schweift er ab, verliert sich in der Lektüre von antiken Klassikern, in Naturwissen schaftlichem oder der Geologie. Er liest die „Times“, den „Econo mist“, den „Daily Telegraph“, dazu fran zösische und deutsche Zeitungen. Stößt auf Berichte wie den über eine Putz macherin, die nach fast 27 Stunden un unterbrochener Arbeit in einer Londoner Manufaktur an Erschöpfung gestorben ist. Liest von neunjährigen Knaben, die drei Zwölfstundenschichten hinterein ander in Walzwerken oder an Hochöfen arbeiten. Von überfüllten Armenhäusern. Er sammelt all diese Funde begierig und trägt sie mit seiner kaum entziffer baren Schrift in eines seiner Notizbücher ein, die er stets dabei hat. Denn er sucht M aterial für sein großes Werk: eine um-
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ist die A rb e itste ilu n g in den Handwerksstuben des 18. Jahrhunderts erheblich e ffizie n te r als die A u sfü h ru n g säm tlicher Vorgänge durch einen M enschen. D urch m ächtige wassergetriebene M aschinen wird sich die P ro d u ktivitä t ab etwa 1770 vervielfachen
Industrialisierung
Eine Frau w ickelt G arn a u f Spulen, eine andere ve rd re h t m ehrere Fäden zu einem festeren G arn: Schon vor der Industrialisierung
M it dem Einsatz von Spinnm aschinen fü r Baum wolle b e g in n t die Industrielle Revolution. Im m er schneller lassen sich nun im m er m ehr G ü te r zu im m er geringeren Kosten produzieren; g ro ß e Betriebe entstehen, in denen Männer, Frauen und K inder einer eisernen A rb e itsdiszip lin unterw orfen sind (Fabrik in Lancashire, 1834)
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Bald schuften A rb e ite r unter härtesten Bedingungen in der
L ondoner Eisengießerei, um 1850. D er rasante
H itze von H ochöfen, W alzstraßen und - wie hier um 1880 in der
Aufschw ung der Schwerindustrie ist die zweite Etappe
Werkshalle eines Lokom otivenherstellers - D am pfhäm m ern
der U m wälzung aller w irtschaftlichen Verhältnisse
Die Schwerindustrie b e n ö tig t sehr viel teurere M aschinen als die Baum wollbranche sowie gewaltige Produktionsstätten, in denen m anchm al Tausende M enschen arbeiten - bis zu 16 Stunden pro Tag, denn die A nlagen sollen maximal ausgelastet werden (Stahlwerk in Barrow-in-Furness, N orde n g la n d )
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fassende, grundsätzliche, vernichtende Kritik des Kapitalismus. Das Phänomen, das M arx zu ana lysieren versucht, gewinnt seine treibende Kraft aus einem langsam en, aber tief greifenden Wandel. Es ist ein Bruch mit der Vergangenheit - die „gründlichste Umwälzung menschlicher Existenz“, wie ein Historiker später schreiben wird.
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Schon mit der Einführung der frü hen Spinnmaschinen sind erste kleine Fabriken zur Baumwollverarbeitung ent standen - meist kaum mehr als W erk stätten, untergebracht in Dachstuben, Hütten oder gemieteten Häusern. Nun, mit der Entwicklung effekti verer und zugleich schwererer Maschinen, beginnen manche Unternehmer in grö ßeren Dimensionen zu denken. Betriebe m it H underten A rbeitern entstehen. Gegründet werden sie von Wagemutigen, die sich mit Freunden oder Bekannten
Auch Kinder arbeiten lange Schichten in den Fabriken lassen oft am M ontag die Arbeit ruhen. Beides - die expandierende, unter den gegebenen Bedingungen nicht zu bedienende Nachfrage nach Baumwollkleidung sowie der Konkurrenzdruck durch billige Produkte aus Indien - löst eine Revolution aus. Ein Prozess gewinnt an Dynamik, der zu den Grundelemen ten des industriellen Kapitalismus ge hört: die Suche nach technischen Neue rungen, um die Produktivität der Arbeit zu erhöhen und zugleich die Lohnkosten zu senken. Fachkundige H andw erker und Tüftler versuchen sich daran, neuartige Spinnmaschinen zu entwickeln. Seit 1624 gibt es ein Patentrecht im Königreich: Ist eine Erfindung erfolgreich, locken hohe Gewinne. Um 1764 baut ein Weber ein rechteckiges Gestell, an dem mehrere Rollen befestigt sind: Die „Spinning Jenny“ w ird durch eine H andkurbel angetrieben und kann gleichzeitig acht Faserstränge zu Garn verdrehen. Viele H andwerker und H eim arbeiterinnen kaufen das Gerät und stellen es in ihren Wohnungen auf. Vier Jahre später baut der Perücken macher Richard Arkwright gemeinsam m it einem Uhrmacher eine M aschine, die fast vollständig ohne menschliches Eingreifen arbeitet. Die „Water Frame“ wird mit Wasserkraft betrieben und ist so groß, dass man sie nicht mehr in einem Wohnraum unterbringen kann.
zu einer Gesellschaft zusammengeschlos sen haben, von Kaufleuten oder M anu fakturbesitzern, die zu etwas Geld ge kommen sind. Waren lassen sich in England gut transportieren: Der Staat und private In vestoren haben seit der Mitte des 17. Jahr hunderts viel in die Infrastruktur in vestiert; Kanäle sind gestochen, Straßen und Brücken gebaut worden. Anders als in den deutschen Staaten teilen keine Grenzen das Land, müssen Händler auf ihrem W eg keinen Zoll entrichten. Zwischen 1769 und 1800 entstehen in M ittelengland mehr als 100 Baum wollspinnereien. Doch wer dort anheuert, ist meist nicht mehr selbstständiger Pro duzent, sondern abhängiger Lohnarbei ter. In der Fabrik sind die Menschen einer fremden Disziplin unterworfen: Sie müssen im Takt und Tempo der rattern den Spinnmaschinen arbeiten, die oft sechs Tage pro Woche laufen. Im Som mer läutet die Fabrikglocke um sechs Uhr morgens, im W inter um sieben. In der fünfstöckigen Baumwollfabrik, die der Erfinder Richard A rk wright ab 1771 in der Grafschaft Derbyshire errichten lässt, dauert eine Schicht 13 Stunden. Die Arbeiter werden von Aufsehern überwacht, die sie antreiben, für jedes Zuspätkommen Geldstrafen verhängen oder mit Entlassung drohen. Die Unternehmer stellen besonders gern Frauen und Kinder ein, denn die
Industrialisierung
undert Jahre zuvor ist von all dem kaum etwas zu erah nen, gibt es auch in Groß britannien keine Fabrik komplexe mit rauchenden Schornsteinen. Um 1760 ist die Textilbranche das bedeu tendste Gewerbe des Landes. Eines ihrer Zentren liegt in Lancashire, einer Graf schaft im Nordwesten Englands. Dort spinnen Heimarbeiterinnen Rohbaumwolle, die in Ballen aus Bra silien, der Levante oder der Karibik kommt, zu Garn, das W eber anschlie ßend in kleinen W erkstätten zu Stoff bahnen verarbeiten. Die meisten Frauen erhalten die Rohbaumwolle von reisen den Kaufleuten, an die sie später das fer tige Garn wieder abliefern. Es ist eine aufwendige Arbeit, alles geschieht von Hand: Die Spinnerinnen führen Baumwollfasern zwischen Dau men und Zeigefinger, verzwirnen sie an einem Spinnrad zu einem festen Faden. M it Tritten auf ein Pedal halten sie den Apparat in Bewegung. Seit dem späten 17. Jahrhundert steigt in Europa die Nachfrage nach Baum wolltextilien. Besonders beliebt sind bunt bedruckte Stoffe aus Indien. Da die Löhne der britischen Baumwollweber hoch sind, können diese nicht mit den billigen und dennoch hochwertigen Produkten konkurrieren, die vom Sub kontinent eingeführt werden. Um die Konkurrenz zu verdrängen, beschränkt das britische Parlament den Import von Baumwollstoffen aus Indien. Zugleich fördert sie den Export heim i scher Textilien; der B edarf an Garn nimmt zu. Die Kaufleute aus den Städten müssen immer weitere W ege über die Dörfer Lancashires zurücklegen, um ge nügend M aterial bei den Spinnerinnen einzusammeln. Der Aufschwung des Gewerbes lockt Tausende aus umliegenden Regio-
nen, aus Irland und Schottland in die Grafschaft, wo die Heimarbeiterinnen und Handwerker Garn und Stoffe pro duzieren. Auch Kinder arbeiten mit, Bauern verdienen sich in freien Zeiten etwas Geld dazu. Aber die Möglichkeiten einer Stei gerung sind begrenzt. Die eigenständigen Handwerker und Heimarbeiterinnen be stimmen selbst über ihre Tage, und viele ziehen etwas mehr an Freizeit einem höheren Einkommen vor, die M änner verzechen am Wochenende ihren Lohn,
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arbeiten zu einem weitaus niedrigeren Lohn als Männer. Bei Arkwright lesen sechsjährige Kinder Baumwollreste vom Boden auf oder zwängen sich zwischen die Maschinen, um sie zu reinigen. Auch anderswo arbeiten Kinder in langen Schichten (später werden Frauen und Kinder in M inen tief unter der Erde schuften, Halbwüchsige müssen Kohle wagen in den Gruben ziehen). Kaum jemand stört sich daran. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder auf den Feldern, auf Höfen, in Werkstätten oder in Manufakturen Geld verdienen müssen. Und für manche Familien macht ebendas die neuen Fabriken sogar attrak tiv: Sie bieten Arbeit für alle. Noch ahnt kein Unternehmer, kein Lohnarbeiter, dass dies erst der Beginn einer Umwälzung ist, die zuerst das Königreich und dann die ganze W elt erfassen wird. Doch ein schottischer Ge lehrter beschreibt schon 1776 einige ihrer elementaren Mechanismen - fünf Jahre nachdem A rkw right die erste große Baumwollfabrik gegründet hat. In seiner „Untersuchung über W e sen und Ursachen des Reichtums der Völker“ analysiert der Philosoph Adam Smith die neue Form des Wirtschaftens. Sein Blick auf den Wandel ist von Opti mismus geprägt. In der menschlichen Neigung, „zueinander in Beziehung zu treten, miteinander zu handeln und zu tauschen“, sieht er die Triebfeder w irt schaftlicher Entwicklung - und in der Arbeitsteilung in M anufakturen und Fabriken den Schlüssel für steigende Produktivität, wachsenden Wohlstand. Smith verdeutlicht seine These an der Herstellung einer Stecknadel. In Englands Manufakturen sei der Vorgang in etwa 18 verschiedene Vorgänge zerlegt, von denen jeder oft von einem anderen Arbeiter ausgeführt werde. Während ein einzelner H andwerker nicht einmal 20 Exemplare am Tag produzieren kön ne, habe er eine Fabrik besucht, in der zehn Männer 48000 Stecknadeln her stellten - eine Erhöhung der Produkti vität um das 240-Fache. Und indem ein Fabrikant die Leis tungsfähigkeit seines Unternehmens stei gere, um seinen Gewinn zu erhöhen also allein seinen eigenen Vorteil ver folge - , diene er laut Smith sogar dem
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Allgemeinwohl, etwa durch die Anstel lung von neuen Arbeitern, die vorher erwerbslos waren. „Dabei wird er von einer unsicht baren Hand geleitet, einem Zweck zu dienen, der nicht in seiner Absicht lag“, so Smith. Verfolge jeder seine eigenen Interessen, so sei der Allgemeinheit sogar häufig mehr gedient als durch bewusst uneigennütziges Handeln. chon in dieser frühen, von Adam Sm ith beschriebenen Phase zeigt sich ein wesentlicher Zug des Industriekapitalismus: Die Entwicklung steht nicht still, es kommt unaufhörlich zu Innovationen. So inves tieren Fabrikbesitzer ihre Gewinne in immer bessere Spinnmaschinen, um die wachsende Nachfrage zu bedienen. 1779 konstruiert ein Erfinder eine fast vollautomatische Apparatur, die gleichzeitig Fasern auf mehrere Hun dert Spulen verspinnen kann. Die neue Spinnmaschine erzeugt zudem feineres, gleichmäßigeres Garn, als es sich von Hand herstellen lässt. Der Baumwollverbrauch steigt allein zwischen 1770 und 1800 auf das Zwölffache des ursprüngli chen Niveaus. Und eine neuartige Antriebsquelle beschleunigt noch die D ynam ik des W andels: die 1769 von Jam es W att patentierte Dampfmaschine. Ab 1785 motorisieren erste Fabrikbesitzer ihre Spinnereien. Bis dahin haben vor allem Wassermühlen die Maschinen angetrie ben. Doch die waren ortsgebunden - die Dampfmaschinen aber lassen sich nahe zu überall betreiben. Fabriken müssen nicht mehr auf dem Land, in der Nähe von Flüssen und Bächen errichtet wer den. Nun entwickeln sich die Städte zu industriellen Zentren. Zugleich erfasst das Fabriksystem immer mehr Menschen: W eil die Arbeit in den Fabriken besser bezahlt wird als in der Landwirtschaft, steigt die Zahl der Fabrikarbeiter auf bald mehrere Hun derttausend. Städte wachsen empor, und mit ihnen eine neue Gesellschaftsschicht: das Industrieproletariat. Die Bewohner der wuchernden Kommunen hausen unter zumeist elen den Bedingungen. Viele Familien woh nen in einer Mansarde oder einem feuch-
ten Keller. Bisweilen teilen sich fünf Personen ein Bett. Spekulanten lassen eilig Häuser hochziehen, die dicht an dicht stehen und sich gegenseitig das Licht rauben. Fließendes Wasser gibt es in den Slums nicht, ebenso wenig eine Kanalisation; als Toiletten dienen Erd löcher im Hof, die von Zeit zu Zeit mit Schubkarren entleert werden.
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Industrialisierung
Ausbeutung ist für Marx ein notwendiges Element des Kapitalismus: Im gnadenlosen Wettkampf mit anderen Unternehmern muss ein Fabrikant immer produktiver werden, um nicht unterzugehen. Daher übt er immer größeren Druck auf seine Beschäftigten aus: Arbeiter in einer Werkhalle
Epidemien verbreiten sich in den überfüllten und verschmutzten Indus triemetropolen. Im Oktober 1831 bricht im Nordosten Englands erstmals die Cholera aus. Bald darauf, in den 1840er Jahren, beginnt ein neuer Innovationszyklus diesmal in der Eisen- und Stahlproduk tion. Die Herstellung von Eisenbahn
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schienen, Lokomotiven, von Stahlplatten für den Schiffbau erfordert große Produk tionsstätten und weitaus teurere Maschi nen als die Baumwollverarbeitung. Hoch öfen, Walzwerke und Zechen wachsen zu riesigen Betrieben heran: 1849 stehen in Großbritanniens größtem Hüttenwerk bereits 7000 Menschen in der Gluthitze von Öfen und Walzstraßen.
Immer weiter fressen sich die Berg werke in die Landschaft. In Kohlerevie ren treiben Zechenbesitzer ihre Stollen tief ins Erdreich hinab. Es ist ein rasanter, atemloser W an del, schöpferisch und zerstörerisch zu gleich. So wie die Spinnmaschinen nach und nach das Heimgewerbe verdrängt haben, macht die Dampfschifffahrt nun
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Das Maschinenzeitalter verändert das Gesicht der Welt: Industrielandschaften wie hier in den Londoner Docks wuchern empor, und Kleinstädte wachsen innerhalb weniger Jahrzehnte zu Metropolen heran, in denen Zehntausende Menschen in Fabriken arbeiten (1867)
Die Konkurrenz zwingt die Unternehmen zu großer Innovationskraft. Wer nicht immer leistungsfähigere Produkte herstellt, etwa Lokomotiven, geht unter
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Die neuen Techniken ermöglichen gigantische Projekte, etwa den Bau der »Great Eastem«. Ihr 211 Meter langer Stahl rumpf macht sie 1858 zum größten Schiff der Welt
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bislang billigeren britischen Roheisens unterbieten zu können. Ab 1850 beginnt das Festland sei nen R ückstand gegenüber E ngland aufzuholen. In Frankreich, Belgien und Deutschland setzt eine nie da gewesene Dynamik ein: Das Eisenbahnnetz und der Kohleverbrauch wachsen Jahr für Jahr um fünf bis zehn Prozent. Die Schienenwege wiederum be schleunigen und verbilligen den Trans port von W aren. Und die Eisenbahn schafft einen neuen Wettbewerbsdruck:
schaftet, der Staat werde „aufgehoben“. Es gäbe in dieser W elt keinen individu ellen Tausch mehr, die Gesellschaft als Kollektiv werde über die Verteilung von Gütern an ihre M itglieder entscheiden. M arx hat wohl erstmals während eines Aufenthalts in Paris die Werke französischer Frühsozialisten wie Claude Henri de Saint-Simon und Charles Fou rier studiert, die Anfang des 19. Jahrhun derts die Abschaffung des Privatbesitzes und eine Vergesellschaftung allen Eigen tums gefordert haben. Der Deutsche
Marx bewundert die Erfin dungskraft der Unternehmer M anche Firmen, die mit ihren Produk ten bis dahin durch die großen Entfer nungen vor zu großer Konkurrenz ge schützt waren, verschwinden vom Markt. Überlebende Unternehm en sind zu Rationalisierungen gezwungen, weil das stetig wachsende Streckennetz die Expansion leistungskräftiger Firm en erleichtert, die ihnen nun das Geschäft streitig machen, ohne wie bislang hohe Frachtraten auf ihre Preise aufschlagen zu müssen - denn der Transport auf den Schienenwegen hat sich derart verbilligt, dass er als Kostenfaktor immer weniger ins Gewicht fällt. u f dem Höhepunkt dieser Phase der Industriellen Re volution, gegen Ende der 1850er Jahre, entschließt sich Karl M arx, eine Kritik der neuen Öko nomie zu verfassen. Die Fundamente seiner W eitsicht stehen seit vielen Jahren fest: In Kämp fen zwischen sozialen Klassen sieht er die treibenden Kräfte der Geschichte und in der Arbeiterklasse jene M acht, die den b ürgerlich en K apitalism us Umstürzen, das Privateigentum abschaf fen und eine kommunistische (von lat. co m m u n is, „gemeinsam“) G esellschaft erschaffen wird. Es wäre, so Marx, eine W elt jenseits von Ware, Geld, Profit und Ausbeutung. Alle Produktionsmittel wären vergesell-
bekennt sich um 1844 erstmals zu diesem Ideal, aber ihm fehlt eine wissenschaft lich begründete Theorie, wie diese Visi on sich aus den gegenwärtigen Verhält nissen herleiten könnte. Die will er nun schaffen: mit dem „Kapital“, seinem Opus magnum. Und so beginnt Marx ein umfassen des Selbststudium der Ökonomie - vor allem im Lesesaal des Britischen M use ums. Er will „die kapitalistische Produk tionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse“ erforschen, so schreibt er später im Vor wort seiner Abhandlung. Wo ginge das besser als in London? Dort lässt sich der Kapitalismus wie in einem Brennglas studieren. Denn: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.“ M arx geht es dabei nicht um eine punktuelle Kritik am Kapitalismus, an einzelnen Missständen und Mängeln in den Fabriken und Elendsvierteln, die sich etwa durch Reformen beheben ließen. Im Gegenteil: Er bewundert sogar die Leistungen der bürgerlichen („bour geoisen“) Unternehmer. „Die Bourgeoisie“, notieren er und sein Freund und Kollege Friedrich Engels 1848 in der Kampfschrift „Mani fest der Kommunistischen Partei“, „hat in ihrer kaum 100-jährigen Klassenherr schaft massenhaftere und kolossalere
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das Treideln entlang der Flüsse entbehr lich. Manche Werke wachsen zu Fabrik städten mit eigenen Wohnkolonien für die Arbeiterschaft heran. W eil die Unternehm er jetzt viel mehr in Gebäude, Maschinen und Roh stoffe investieren müssen, sind sie noch stärker an technischen Neuerungen und Verbesserungen interessiert, die die Ren tabilität des Kapitals erhöhen. Techniker und Ingenieure entwi ckeln Verfahren, um aus Eisenerz ein immer reineres, von störenden Schlacken befreites M etall zu schmelzen. W alzma schinen formen das Eisen 15-mal schnel ler zu Trägern oder Stäben als Schmiede hämmer. Zugleich verbrauchen neue und größere Hochöfen weniger Brennstoff und reduzieren die M etallverluste, sie arbeiten effizienter. Allein zwischen 1806 und 1848 verachtfacht sich in England die Produktion an Roheisen nahezu: von rund 260 000 auf gut zwei M illionen Tonnen im Jahr. Das Eisen wird für den Bau von M a schinen und Fabriken gebraucht, für Brückenträger und Schiffsrümpfe, für Wasser- und Gasrohre und vor allem: für Eisenbahnschienen, für Lokomotiven und Waggons. Der Wandel beschleunigt sich nun immer weiter. Inzwischen erfasst die Industrialisierung auch weite Teile des europäischen Kontinents und der Neuen Welt: Belgien, Frankreich und Deutsch land, die USA, und schließlich Japan. Denn die Mechanisierung in eng lischen Spinnereien und W ebereien zwingt die anderen Staaten zu einer Reaktion. Die britischen Fabriken über schwemmen die Weltmärkte mit konkur renzlos günstigen Produkten. W er beim Preis nicht mithalten kann, geht unter. Modernisierung wird zu einer Frage des Überlebens. In Kontinentaleuropa ist es vor al lem die Schwerindustrie, die den Wandel vorantreibt. Ab 1840 erzeugt der Bau von Eisenbahnstrecken eine große Nachfrage nach Schienen, Radreifen, Lokomotiven und Waggons. Und die Verspätung vieler europäischer Staaten spornt die Fabri kanten jetzt umso mehr zu Innovationen und Rationalisierungen an, sie versuchen beispielsweise, beim Schmelzprozess Brennstoff einzusparen, um den Preis des
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Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschi nerie, Anwendung der C hem ie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiff fahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegra phen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölke rungen - welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten?“ M arx klagt auch nicht die Gier einzelner Unternehmer oder Kapitalisten an. Er setzt systematischer an, will die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion ergründen. Er möchte zeigen, dass dieses W irt schaftssystem nicht zufällig, sondern unvermeidlich auf Ausbeutung beruht. Dass dieses System alle Beteiligten - Fa brikanten wie Lohnarbeiter - unter dem „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ Regeln unterwirft, denen niemand entrinnen kann. Eine Rettung wäre nur in einer Welt jenseits des Kapitalismus möglich. In einer kommunistischen Welt. ach und nach entfaltet Karl Marx sein Werk um zentrale Begriffe, die sich aufeinan der beziehen. Diese Ausdrü cke sind kompliziert und oft nur schwer verständlich. Er spricht von „Waren form“, „Mehrwert“ und „Ausbeutung“. Doch kombiniert ergeben sie eine The orie mit höchster Sprengkraft, die bald schon zu einer gefährlichen Herausfor derung des Kapitalismus wird. • Warenform. M arx beginnt sein Werk mit einer rund 100-seitigen Er örterung zum Thema „Ware und Geld“. Im Kapitalismus, so schreibt er, sind nahezu alle Dinge und auch die Arbeitskraft der Menschen zu einer Ware geworden, die mit einem jeweils bestimmten Tauschwert auf einem Markt gehandelt wird. Bereits im „Kommunistischen M a nifest“ von 1848 haben Marx und Engels das drastisch geschildert: Die Bourgeoi sie habe „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose
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,bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbür gerlichen Wehmut in dem eiskalten Was ser egoistischer Berechnung ertränkt.“ Zwar hat es Waren auch schon vor her gegeben, doch in vorkapitalistischen Gesellschaften sind sie die Ausnahme gewesen; dort verzehrten Bauern die Früchte ihrer Felder selbst oder lieferten sie an einen Feudalherren ab. Um W aren in einer kapitalisti schen W elt miteinander in Verbindung bringen zu können, ist Geld unerläss lich. Denn das Geld drückt den Tausch wert der Waren aus, ermöglicht so erst ihre Zirkulation (dam it meint M arx den Handel). So lässt sich in einem ein fachen M odell zwar beispielsweise der W ert eines Tisches in Hühnereiern dar stellen - in der realen Welt mit zahllosen Gütern aber ist das unmöglich: Dort gibt ein Tischler dem Sägewerksbesitzer Geld für Holz, produziert daraus ein M öbel stück, das er wiederum gegen Geld ver äußert, für das er sich auf dem M arkt Eier kauft. • M ehrwert. Aus der Güterzirku lation allein ergibt sich jedoch noch keine kapitalistische Wirtschaftsweise im Marxschen Sinn. Dazu kommt es erst durch die Wertsteigerung, die ein Pro dukt durch seine Bearbeitung erfährt: Abhängige Lohnarbeiter, die mit dem Beginn des Fabrikzeitalters selbst keine Produktionsmittel mehr besitzen (etwa Spinnmaschinen oder Webstühle), sind gezwungen, ihre Arbeitskraft anzubieten. Sie verkaufen sie wie eine Ware an die Eigentümer der Fabriken und M a schinen. W ie aber bildet sich der Preis für die Ware Arbeitskraft? Laut Marx be stimmt er sich durch die Kosten, die zu ihrer Aufrechterhaltung und Repro duktion aufgewendet werden müssen. Also durch die Kosten des Arbeiters für Ernährung, Kleidung, Wohnung und für Diese Vermehrung ist Sinn und die Versorgung seiner Kinder. Zweck der W arenzirkulation, sie erst Bezahlt wird dem Arbeiter dem macht aus dem investierten Geld Kapital, nach nicht der Wert der Waren, die er an das auf diese Weise vergrößert, „akku einem Tag produziert hat, sondern einzig muliert“ werden kann; Marx nennt diese der W ert seiner Arbeitskraft. Und die Vermehrung die „allgemeine Formel des Differenz zwischen diesem W ert und Kapitals“. dem der hergestellten Güter ist der Der Autor gibt im „Kapital“ ein Mehrwert. Beispiel: Arbeiter, die in einer englischen
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Industrialisierung
Takt und G eschw indigkeit der A rb e it geben nun Maschinen vor, die Beschäftigten sind nur noch deren Anhängsel. Das tägliche W erken, schreibt M arx, verkom m e zu einem geistlosen und entfrem denden Prozess. Denn der M ensch arbeite nicht m ehr für sich selbst, sondern werde zu einem bloßen G lied in der Herstellungskette (K nopffabrik, Birm ingham , um 1909)
T extilfabrik Baum w olle zu G arn ver spinnen, werken zw ölf Stunden am Tag. D och schon die M enge G arn, die sie im V erlauf von sechs Stunden produzieren, wäre ausreichend, um ihre L öhne (also den Preis für ihre Arbeitskraft) zu bezah len. D er U nternehm er verkauft jedoch auch das G arn, das seine Belegschaft in den restlichen sechs Stunden des Tages
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produziert, u n d streicht dadurch einen zahlen zu können und darüber hinaus erheblichen M ehrw ert ein. einen Profit für sich zu erw irtschaften, • A usbeutung. D ass U nternehm er muss er den M ehrw ert abschöpfen. E r g ib t dem A rbeiter weniger an sich den M ehrw ert der A rbeitskraft an eignen, n en n t M arx „A usbeutung“. Sie W ert, als der hergestellt hat: E r beutet sei eines der Naturgesetze des Kapitalis ihn aus. Z u d em zw ingt auch die K onkur mus. D enn der Fabrikant hat ja vorher in renz m it anderen Kapitalisten die P ro G ebäude, M aschinen und Rohstoffe in duzenten dazu, A usbeuter zu sein. D er vestiert. U nd um diese Investitionen be
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D ie Bewohner der wuchernden Industriestädte hausen o ft in Slums unter elenden Bedingungen. Soziale A b sicherung fü r A rbeitslose oder alte M enschen g ib t es praktisch nicht. Dieser M ann im L ondoner East End le b t davon, Schaufeln aus S ch ro tt zu basteln
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V iele Familien w ohnen in unw irtlichen Kellerräum en
M illio n e n A rm e ström en in die Industriestädte,
oder Dachgeschossen, m eist ohne jede sanitäre Anlage.
in der H o ffn u n g a u f A rb e it und ein besseres Leben -
G ew öhnlich teilen sich mehrere Personen ein B ett
o ft vergebens (Fam ilie im L ondoner East End)
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H art trifft es dabei aber vor allem den einfachen Arbeiter. Der werde „zum Anhängsel der M aschine“, so Marx, die A rbeit selbst zu einem geistlosen und entfremdenden Prozess. In einer Fabrik könne der Mensch nicht - was ihn eigentlich in seiner Gattung vom T ier unterscheide - durch A rbeit seine Fähigkeiten und Talente entwickeln. Ergebnis und Inhalt seiner T ätigkeit seien stattdessen fremdbe stimmt und für ihn zunehmend abstrakt („entfremdet“).
hohe Produktion und zu wenig Kaufkraft auf Seiten der ausgebeuteten Proletarier ausgelöst werde. M arx entwickelt sogar eine ausge feilte theoretische Begründung, wieso der Kapitalismus prinzipiell in seinen Unter gang strebe. Der Philosoph geht davon aus, dass die Profitraten der Unterneh mer langfristig fallen werden: Die Kon kurrenz treibe die Unternehmer dazu, immer mehr Kapital in zusätzliche und bessere Maschinen und Fabriken zu in vestieren, wom it deren A nteil an der
Die Ausbeutung zwingt die Arbeiter, so Marx, ins Elend Diese Entwicklung sei zutiefst in human, und sie werde zu militanten Aus einandersetzungen zwischen Unterneh mern und Arbeitern führen. ie gegensätzlichen Interessen von Bourgeoisie und Prole tariat sind im „Kommunis tischen M anifest“ noch der zentrale Bestandteil der Argumentation; dort heißt es: „Die Geschichte aller bis herigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Aber das war ein Pamphlet, geschrieben im Vorfeld der Revolution von 1848. Im „Kapital“ spielt der Klassenkampf dagegen kaum noch eine Rolle. Denn das Buch ist vor allem ein analytisches Werk, das die innere Funk tionsweise des Kapitalismus aufzeigen soll; es ist eine wissenschaftliche, keine politische Schrift. M arx ist daher hier auch zurückhaltender mit Vorhersagen über einen gesetzm äßigen, gleichsam vorherbestimmten L auf der Geschichte. Trotzdem ist er davon überzeugt, dass es einen Kapitalismus ohne Krise nicht geben kann - und dass Adam Smith, der angenommen hatte, die kapi talistische W irtschaft tendiere stets zu einem harmonischen G leichgew icht, falsch liegt. Stattdessen komme es immer wieder zu einer mitunter dramatischen ökonomischen „Stagnation“, so der Deut sche, die unter anderem durch eine zu
Produktion im Vergleich zur menschli chen Arbeitskraft zunehme. Da für Marx im Sinne seiner Theorie Gewinn aber nur aus der Ausbeutung der Arbeitskraft entstehen kann, fällt - bei relativ weniger eingesetzten Arbeitern - im Verhältnis der Profit aus der Produktion. Daraus leitet er ein großes Krisen szenario ab: Die fallende Profitrate führe zu einem immer gnadenloseren Konkur renzkampf, zu Insolvenzen von Betrie ben, einer zunehmenden Konzentration des Kapitals in den Händen weniger Unternehmer. Doch m it der Bildung von Monopolen wachse „die Masse des Elends, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden Arbeiterklasse“. Am Schluss werde die „kapitalistische H ülle“ in einer proleta rischen Revolution gesprengt. So werde der Kapitalismus enden, jenes System einer arbeitsteiligen Markt wirtschaft, in der so gut wie alles zur Ware geworden ist und in der nach dem Prinzip des Mehrwerts die menschliche Arbeitskraft ausgebeutet wird. Jenes System, in dem diese Aus beutung auf der einen Seite Profit und akkumuliertes Kapital erzeugt - und auf der anderen Seite Elend. Zwei gesellschaftliche Gruppen hat diese W irtschaftsordnung nach M arx hervorgebracht, zwei „Klassen“: die Ka pitaleigner und diejenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen und sie als
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Wettbewerb ist nämlich für M arx vor allem ein Preiskam pf - ein ständiges gegenseitiges Unterbieten der Unterneh mer, um die Waren der anderen aus dem M arkt zu drängen. Der Fabrikant muss daher, bei Stra fe des Bankrotts, ständig danach trach ten, die Produktivität zu erhöhen, etwa durch den Einsatz besserer Maschinen, vor allem aber durch die immer stärkere Ausbeutung der Arbeiter. Die drei hier beschriebenen Phäno mene zählen für M arx zu den typischen W esensm erkm alen des Kapitalismus. Zwar habe es auch vorher schon Formen von Ausbeutung gegeben - in der anti ken Sklavenwirtschaft, später im Feuda lismus, als Fürsten und Gutsherren von ihren U ntertanen gew ohnheitsm äßig Abgaben verlangten. Doch erst jetzt, im industriellen Kapitalismus, habe die Ausbeutung ihre dynamischste Ausprägung erreicht. Die nun über den M ehrwert hervorgebrach ten Gewinne würden nicht wie in frühe ren Epochen, etwa bei den feudalisti schen Abgaben, lediglich konsumiert, sondern zu großen Teilen als Kapital erneut investiert: Der M arkt und sein Wettbewerb, nach M arx erst im Kapita lismus die bestimmenden Prinzipien, erzeugten jenen permanenten Druck, der das ausbeuterische System im Sinne der Profitmaximierung antreibe. Den Drang nach Gewinn veran schaulicht der Theoretiker in seinem Buch durch ein drastisches Z itat des englischen Arbeiterführers Thomas Jo seph Dunning: „Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit. M it entsprechendem Profit w ird Kapital kühn. Für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Ver brechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“ Aus der gnadenlosen Konkurrenz, die alle Beteiligten unterjoche - auch die Unternehmer ergibt sich für M arx der despotische Charakter des modernen Industriekapitalismus, dessen zerstöre rische W irkung. Die Ausbeutung beruhe nicht auf der Bösartigkeit der Kapitalisten, so ana lysiert er nüchtern, sondern allein auf der kalten Logik des Systems.
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Lohnarbeiter auf dem M arkt anbieten müssen. Beide Klassen sind der gleichen kapitalistischen Dynamik unterworfen, und ihre Gegensätze, ihre Kämpfe ge geneinander, sind es, die laut M arx das System schließlich zerstören werden. Was danach kommen wird, das ist nicht mehr Teil seiner wissenschaftlichen Bestandsaufnahme im „Kapital“. Doch bereits im „Kommunistischen Manifest“ haben Marx und Engels eine Vision skizziert. Nachdem man die Ka pitalisten enteignet habe, werde es keine Knechtung mehr geben: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Ohne Ausbeutung, ohne Entfrem dung und ohne übermäßige Arbeitstei lung, ohne Privateigentum und Profit streben könne der Kommunismus das allgemeine Wohl mehren und genügend Produktivkräfte wecken, um die für jeden notwendige Arbeitszeit auf ein M in i mum zu reduzieren. Jedem bleibe dann, so sinnt M arx rund zehn Jahre später, sogar noch freie Zeit für künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit. Es ist die Utopie einer durch und durch selbstbestimmten Gesellschaft. m Jahr 1867 erscheint der erste Band des „Kapitals“ in einem Hamburger Verlag (zwei weitere Bände wird Engels nach dem Tod des Freundes aus dessen Manuskripten zusammenstellen und veröffentlichen). Das nahezu 800 Seiten starke, schwierige und anspruchsvolle Werk wird zunächst wenig gelesen, dann aber in der deutschen Arbeiterbewegung mit wach sendem Interesse aufgenommen. Bereits im frühen 19. Jahrhundert haben Beschäftigte in England zum Teil heftig gegen Missstände protestiert. Erste Gesetze verbesserten daraufhin die Lage leicht. In Deutschland schlossen sich Arbeiter zu Selbsthilfeorganisatio nen zusammen, um einander etwa im Krankheitsfall zu unterstützen. Seit Mitte des Jahrhunderts haben deutsche A kti visten erste landesweite Gewerkschaften gegründet, so bei Zigarrenmachern und Druckern.
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Immer wieder bricht in den engen Slums Londons die Cholera aus. 1854 sterben bei einer Epidemie mehr als 10 000 Menschen - darunter viele Kinder
Zahlreiche sozialistische Ideen sind in dieser Zeit im Umlauf. Deren Anhän ger fordern eine gerechtere, gem ein schaftlich organisierte Gesellschaft, pro pagieren Produktionsgenossenschaften und kollektiv verwaltete Siedlungen. M anche fordern die Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse, viele nur deren Zähmung durch die Regierung.
Doch kein Denker hat den Kapita lismus bislang so grundlegend und um fangreich seziert wie Karl Marx, keiner hat dessen inneren Gesetze so systema tisch beschrieben und dessen revolutio näre Überwindung so nachdrücklich in Aussicht gestellt. Verbreitung finden die neuen Ideen nach der Veröffentlichung des „Kapitals“
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innerhalb der einzelnen L änder A rbei terparteien unter der Führung der Asso ziation zu bilden, scheitert jedoch - auch an Marx, der fürchtet, Anarchisten könn ten zu viel Einfluss gewinnen. E r hält die Anarchisten für politisch nicht berechen bar, weil sie Parteien und jedes politische Vorgehen gegen die Bourgeoisie grund sätzlich ablehnen.
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jedoch vor allem in populären Z usam menfassungen des dicken Buches, die die G edanken des A utors teils verzerren. M arx selbst ist kein reiner T heore tiker der Revolution, sondern will als Aktivist durchaus etwas bewirken: So ist er beispielsweise 1864 an der G ründung der „Internationalen A rbeiter-A ssozia tion“ in L ondon beteiligt. D er Versuch,
M arx korrespondiert m it den Füh rern verschiedener revolutionärer Bewe gungen und sich bildender sozialistischer Parteien in Europa, die nun aus den alten Vereinigungen hervorgehen. Aus der Ferne verfolgt er, wie sich 1875 im Deutschen Reich der Allgemeine D eutsche Arbeiterverein und die Sozial demokratische A rbeiterpartei zur Sozia listischen A rbeiterpartei D eutschlands zusam m enschließen, der ersten In te r essenvertretung dieser A rt auf dem Kon tinent. D am it h at sich eine politische Ver tretung der Proletarierklasse gebildet - so wie es die Internationale A rbeiter-A sso ziation und ih r M itg rü n d er Karl M arx im m er gefordert haben. D och der A utor des „Kapitals“ hält die deutschen A rbeiterführer nicht für radikal genug: E r glaubt, dass sie sich der preußischen Obrigkeit anbiedern und auf eine Befreiung der Arbeiterklasse inner halb jener engen G renzen hoffen, die der deutsche Kaiser und sein Kanzler O tto von Bismarck ziehen werden. Tatsächlich fußt das Programm der neu gegründeten S A P D anfangs nicht a u f der M a rx sc h en F o rd eru n g nach einem revolutionären, kommunistischen U m sturz. Es ist eher aus Versatzstücken in Frankreich und D eutschland kursie render sozialistischer Ideen zusam m en gesetzt. E rst als die deutsche Regierung u nter Bismarck 1878 beginnt, die Sozia listen zu verfolgen und ihre Vereinigungen zu verbieten, bekennen sie sich zu einem orthodoxeren M arxism us. 1891 prägen die T heorien des Londoner Em igranten das Erfurter Programm der A rbeiterpar tei - die sich nun Sozialdem okratische Partei D eutschlands nennt. D ie S P D fo rd ert darin „die Ver w andlung des kapitalistischen P rivat eigentum s an P ro d u k tio n sm itteln in gesellschaftliches E ig e n tu m und die U m w andlung der W arenproduktion in sozialistische, für und durch die G esell schaft betriebene Produktion“. A llerdings fehlt auch im E rfurter Programm die Marxsche Forderung nach einer Revolution und einer „Diktatur des Proletariats“ als Übergangsphase vor dem E ndziel des Kommunismus. D enn erst im Jahr zuvor ist das von B ism arck forcierte „G esetz gegen die
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Karl M arx ist einer der einflussreichsten Denker der M oderne; überall in Europa entstehen ab etwa 1880 sozialistische Parteien und G ew erkschaften, von denen sich viele a u f seine T he o rie n berufen. So wie diese streikenden Londoner T ransportarbeiter käm pfen sie fü r die Rechte der P roletarier und ein Ende der kapitalistischen A usbeutung
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Protestmarsch in London. Ü ber 4 0 M illio n e n A rb e its
1922 kandidieren M itg lie d e r der Kom m unistischen Partei
tage gehen 1912 durch Streiks verloren - G roß britanniens
erstmals fü r das britische Parlament. In Büros wie diesem orga
G ewerkschaften sind zu einer M a ch t geworden
nisieren sie den W a h lka m p f gegen die »Klassenfeinde«
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g em eingefährlichen B estrebungen der Sozialdem okratie“ aufgehoben w orden, das zur V erhaftung u n d V erurteilung H u n d e rte r Sozialisten g efü h rt h atte u n d n un fü rc h ten die A rb e ite rfü h re r wohl, ein offener A u fru f zur Revolution k ö nnte zu einem erneu ten V erbot der Partei führen. D e n n o c h so rg t der stete D ru c k der proletarischen Bew egung dafür, dass Bism arck in den 1880er Jahren beginnt, die m odernsten Sozialgesetze w eltw eit zu erlassen: N eu eingeführte staatliche K ranken-, U nfall- u nd Rentenversiche rungen m ildern das proletarische Elend. In den Jah ren nach 1880 gründen sich 19 sozialistische u nd A rb e ite rp a r teien in E uropa, en tstehen in fast allen L ändern rasch wachsende G ew erkschaf ten. In G roßbritannien, dem industriell am w eitesten fo rtg e sc h ritten e n L an d , zählen die V ertretungen zu dieser Z eit bereits H underttausende M itglieder. M arx ste h t in engem K o n tak t zu d en b ritisc h en G ew erkschaftsführern, hält sie aber für korrum piert, weil sie po litisch der L iberalen Partei nahe stehen. So ist es im m er wieder: E in Sozialist, der nicht h undertprozentig das vertritt, was K arl M arx im „K apital“ dargelegt hat, zieht sich dessen polternden Z o rn zu. A uch in F rankreich organisieren sich sozialistische G ruppen, einige n en nen sich sogar „M arxisten“. In Russland vertiefen sich revolutionär gesinnte S tu denten in die Schriften des D eutschen. D er Philosoph, inzwischen eine A rt V eteran d er R evolution, verfolgt von L o n d o n aus aufm erksam all diese E n t w icklungen, b eto n t aber im m er w ieder die N otw en d ig k eit einer gew altsam en Umwälzung. D ass er die große kom m u nistische Revolution selbst noch erleben wird, bezweifelt er allerdings inzwischen. 1881 erk ran k t er im E xil, w a h r scheinlich an Tuberkulose. Z w ei Ja h re später, am 14. M ä rz 1883, stirb t er in L o n d o n u n d w ird im N orden der Stadt beigesetzt. u diesem Z eitp u n k t ist der I n dustriekapitalism us bereits in seinen nächsten In n o v atio n s zyklus eingetreten, nun zündet die dritte B rennstufe der In d ustriellen Revolution: Chem iker gewinnen synthe-
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tische Farben aus Kohlenteer und stellen k ü nstlich es A m m o n ia k her, E rfin d e r entwickeln den V iertaktm otor, den elek trischen A ntrieb und die Glühlampe. Die chem ische u n d die E le k tro -In d u strie entstehen, bald d arau f fahren die ersten A utom obile. D ie große Krise des K api talism us, sein Z usam m enbruch, ist w ie der einm al verschoben. D aran w ird deutlich, was sich auch im w eiteren L a u f der G eschichte zeigen wird: Z ahlreiche Voraussagen von M arx bew ahrheiten sich nicht. W eder kollabiert das System, noch nim m t das Elend des Proletariats im m er w eiter zu. Z u b eo b ach ten ist lediglich, dass der K apitalism us über w eite P h a sen die Schere zwischen A rm und Reich aufgehen lässt, n ich t jed o ch die A rm u t absolut verschlim m ert. A uch die T hese von der „langfristig fallenden Profitrate“, au f die M arx einen G ro ß te il seines U n terg a n g ssze n ario s gründet, bew ahrheitet sich nicht. D ah e r attestieren spätere Ö k o n o m en M a rx m assive th e o re tisc h e V er säum nisse. In m eh reren P u n k te n w ird das M arxsche W erk, obw ohl durchaus anspruchsvoll konstruiert, in den folgen den Jahrzehnten wissenschaftlich w ider legt. So w ird seine E in sch ätzu n g , dass sich der W e rt u n d Preis einer W are vor allem nach dem M a ß der darin en th al tenen m enschlichen A rbeit bem isst, ver w orfen zu gunsten der E rk en n tn is, dass sich ein M arktpreis vor allem durch die N achfrage bildet. A uch die für M arx zentrale M e h r w erttheo rie stellen Ö k o n o m en infrage. Sie g ehö rt d aher auch n ich t zum w irt schaftswissenschaftlichen K anon (wenn gleich sie für viele K apitalism uskritiker ein brauchbares Analysewerkzeug bleibt). N ac h fo lg en d e K ollegen w ie d er Ö sterreicher Joseph S chum peter sehen in M arx d en n o ch einen Ö k o n o m von Spitzenrang. H ellsichtig etw a darin, zu erkennen , dass der K apitalism us dazu tendiert, alles zur W are zu m achen - ein P rozess, d er sich im 20. J a h rh u n d e rt noch intensiviert. M it seiner Vorhersage von K onzentrationsprozessen u n d M o nopolbildung liegt M arx ebenfalls richtig (siehe Seite 74). Zahlreiche Ö konom en des 20. Jahr h u n d erts entw ickeln zudem a u f M arx
aufbauend wichtige M odelle zum W irt schaftskreislauf, zum K onjunkturverlauf und zum W achstum . U n d doch: Seine größte W irk u n g entfaltet M arx im Politischen. Vermittelt durch seinen F reu n d F riedrich Engels sow ie andere T h e o re tik e r des Sozia lism us, verfestigen sich die M arxschen Ideen - seine Analysen, Prophezeiungen, A ufrufe - bald zu einem festen D e n k gebäude, zu einer W eltanschauung. Dieser „Marxismus“, wenngleich oft nicht sauber im Sinne des Namensgebers form uliert, w ird zu einer der w irkungs mächtigsten - und fatalsten - Ideologien des 20. Jahrhunderts. U n d zur g rö ß ten H erausforderung des Kapitalism us überhaupt: D ie Revo lu tio n äre in R usslan d u n d C h in a, in V ietnam u n d A ngola, in A lbanien und au f Kuba berufen sich au f M arx, und die kom m unistischen Regime, die bald einen beträchtlichen Teil des Globus überspan nen, sind den k apitalistischen G esell schaften lange Z eit A lternative und Be drohung zugleich. In n e rh a lb d er w e stlic h e n W e lt haben Sozialdem okratie und A rb eiter b ew egung - beide zum Teil ebenfalls marxistisch inspiriert - seit der M itte des 19. J a h rh u n d e rts fundam entale gesell schaftliche Veränderungen herbeigeführt. U n d es ist a u f eine gewisse W eise ver m utlich sogar M arx selbst zuzuschreiben, dass sich seine P rognosen vom U n te r gang des Kapitalismus nicht bew ahrhei tet haben. D e n n eine E rk e n n tn is ist w ohl unw iderlegbar: Seine L eh ren stärkten g erade je n e in n eren G eg en k räfte, die dafür sorgten, dass das System für viele ü b erhaupt erträglich wurde. 9 D r. R a lf B e rh o rst,/g . 1967, A utor in Berlin, w ar beeindruckt von der Wucht der Marxschen Kapitalismuskritik.
L IT E R A T U R E M P F E H L U N G E N : Jonathan Sperber, „K a rl M arx. Sein Leben und sein Jahrhundert“, C. H. Beck: souveränes ideengeschichtliches Panorama. David S. Landes, „D e r entfesselte Prom etheus“, dtv: auch ein halbes Jahrhundert nach Erstveröffentlichung noch immer ein Standardwerk zur Geschichte der Industriellen Revolution.
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Räuberbarone - um 1880
Um 1900 le ite t 74
R o cke fe lle r den g rö ß te n E rd ö lko nze rn der W e lt, k o n tro llie rt
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Er trifft geh eime Absprachen, ruiniert gnadenlos Mitbewerber und versucht, mit seiner Firma ein Monopol zu errichten. Der amerikanische Olm agnat John D. Rocke feller ist ein Raubtier unter den Unternehmern - und wird auf Ja hrzehnte zum Symbol für einen rücksichtslosen Kapitalismus. Dabei ist Geldverdienen für ihn mehr als das Streben nach Reichtum. Es ist religiöse Pflicht
Raffinerien, aber auch Eisenbahnen, wie diese Karikatur von 1901 zeigt (links). Begonnen hat sein Aufstieg mit dem Erdöl aus Pennsylvania (Mitte) GEO EPOCHE K a pita lism u s
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E in G eschäft? M e h r als das: ein H eils plan. E in Feldzug zur W eltverbesserung. Sein B efehlshaber preist ih n als „gott gleich“, als „M issionsdienst“. D as Z iel des Feldherrn ist „Erlösung“, seine Rolle die eines „G nadenengels, der die H a n d vom H im m el hinabstreckt“. Eines „M o ses“, der die M enschen „befreit“ - nicht aus ägyptischer Fron, sondern von der „Torheit“ des freien M arkts. „S tandard O il“ h e iß t das m essianische W erk, u nd Jo h n D avison Rocke feller ist sein Prophet. Ausgerechnet Rockefeller, Inbegriff des geldgierigen Kapitalisten, Hassobjekt ohnm ächtiger D em onstrationen, P ro ta gonist zahlloser K arikaturen gegen die H errschaft des M am m ons. Ausgerechnet Rockefeller, dessen G eschäftspraktiken so gefürchtet sind, dass deren O pfer ihn als „M onster“ und „Schlange“ verfluchen, dass M ü tter ihre K inder m it seinem N a m en erschrecken. A usgerechnet Rocke feller, der im L a u f seines L ebens m ehr G eld zu sam m en rafft als je d e r andere M ensch seiner Zeit. D o ch Rockefeller ste h t n ic h t nur für maßlosen Reichtum. E r steht für eine U mwälzung, die zum E nde des 19. Jah r h u n d erts die W irtsc h a fts o rd n u n g der USA, damals bereits ökonomische W elt m acht N u m m er eins, g rundlegend er schüttert. E r ist der P ionier einer E n tw ic k lung, die die B iodiversität der kleinen, spezialisierten Familienbetriebe, die noch um 1850 A m erikas W o h lstan d erw irt schaftet haben, durch eine M onokultur aus w enigen m ächtigen, b ü ro k ratisch organisierten, anonym en G roßunterneh men ersetzt - und so die Konkurrenz, das entscheidende M erkm al der freien kapi talistischen M arktw irtschaft, auf ein M i nim um reduziert.
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E r ist M o to r eines T rends, den die W irtschaftsw issenschaft als big business bezeichnen w ird - u n d dem Rockefeiler schließlich die passgenaue R echtsform verpasst: den trust. U n d so steh t dieser M a n n für eine H an d v o ll paradoxer W a h rh eite n : dass niem and in A m erik a so m achtvoll den K apitalism us in die S ch ran k en w eisen kan n w ie ein K apitalist. D ass, um den W ettbew erb auszuhebeln, nichts so w irk sam ist wie schrankenloser W ettbew erb. U n d dass in der zw e ite n H ä lfte des 19. Jahrhu n d erts, w ährend der K om m u nism us noch reine Idee ist, in den U SA bereits ein ungleich m ächtigerer G leich m acher die B ühne betritt: Big Business. Big Business - das ist der S onder fall einer verw irklichten U topie. Sie ist so fo lg e n re ic h , dass d e r P h ilo s o p h B ertrand Russell sie m it dem politischen V erm ächtnis des deutschen Reichsgrün
ER ORDNET DEN M A R K T - D O C H NUR,
UM IHN ZU KONTROLLIEREN ders O tto von Bismarck vergleichen wird. So bahnbrechend, dass m anche H isto ri ker sie als A m erikas zw eite Industrielle Revolution bezeichnen. B ig B usiness - das ist die G ro ß e O rdnung, die das anarchische Gewimmel der M ärkte und M acher überw inden soll: eine „zentralisierte, m an k ö n n te sagen fast kollektivistische“ B etriebsform , wie der Publizist M atth ew Josephson 1934 in seiner Studie über A m erikas In d u strie kapitäne der Jah rh u n d ertw en d e schrei ben wird. Es ist eine A rt P lan w irtsch aft des Privateigentum s. W ie so n st w ill m an es n en n e n , w en n R o ck efeiler - allein d u rch die M acht des Geldes - die vielköpfige E rd-
ölbranche zu einem m onolithischen A p parat verschweißt? W en n er seine K on kurrenz per H an d streich enteignet, um sie d em g ro ß en G an z en d ien stb ar zu machen? W enn die Preise seiner Produkte n ich t m ehr A ngebot u n d N achfrage ge horchen, sondern den Beschlüssen eines von ihm gelenkten Kollektivs aus „Treu h ä n d e rn “, das die einsam e M a c h t der P atria rc h en alter Schule ersetzt? U n d w enn dieser Erzkapitalist seine Gewinne sogar w eitgehend sozialisiert - indem er den G ro ß teil seines Vermögens an eine w ohltätige Stiftung überträgt? Es ist nur eines der vielen Paradoxe der R ockefellerschen R evolution, dass g erade die radikalste F orm ö k o n o m i scher Freiheit eine solche Planw irtschaft ü berhaupt erst möglich macht: die Ideo logie des laissez-faire, des „Gewährenlassens“; des W irtschaftens ohne staatliche oder m oralische Schranken. M it dieser P h ilo so p h ie, die alle Tricks erlaubt, sind nach dem A m erikanischen B ürger krieg M änner wie Andrew Car negie groß geworden, der T itan der am erikanischen S tah lp ro duktion; M änner wie Cornelius V anderbilt, der K önig der E i senbahnen; wie Jo h n P ierp o n t M o rg a n , d er zu se in er Z e it m ächtigste Bankier der W elt. U n d wie Jo h n D . R ocke feller, dessen Standard O il 1877 fast 90 P rozent des am erikani schen Ö lm arkts kontrolliert. Es gibt altmodische G eis ter, die diese M ä n n e r als robber barons schm ähen, als „R äuberbarone“. D ie aufschreien, w enn C arnegie m it H ilfe b e w affneter S treikbrecher L ö h n e drückt u n d A rbeitszeiten verlängert, um K on kurrenten zu unterbieten; w enn Vander bilt m it falschen A ktien u n d K ursm ani pulationen sein Schienenreich zim m ert; w enn M o rg an über 746 D irektorenpos ten in 134 F irm en gebietet u n d K apital im W e rt von 24 M illiarden D ollar kon trolliert, 25-m al m eh r als die jährlichen Staatseinnahmen der USA. W enn Rocke feller mittels Geheim absprachen Rivalen vom M a rk t d rän g t u n d deren F irm en dann seinem Im perium einverleibt. D och im Gegensatz zu den anderen R obber Barons bew egt sich Rockefeller
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Räuberbarone
New Yorker halten Tücher vor ihre Nasen, um sich vor den beißenden Abgasen einer Raffinerie zu schützen. Aus den Armen der Krake Standard O il, so die Karikatur von 1880 über Rockefellers Firma, gibt es für sie kein Entrinnen
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meist im Rahmen der Gesetze - die für einen Sturmangriff wie den seinen aller dings noch längst nicht gerüstet sind. Und obwohl er in Sachen Geldgier sicherlich keine Ausnahme darstellt, kann man doch wohl seinen Rechtferti gungen trauen, dass es ihm nicht zuletzt um die O rdnung geht: um „rationale, ge sunde, moderne, fortschrittliche Verwal tung“, wie er sagt. Darum, das „Durch einander“ der vielen Kleinbetriebe zu beenden, und um jene ökonomische Hygiene, die in seinen Augen nur ein straff organisiertes Großunternehmen bietet: Big Business!
In Rockefeller hat die Ordnung einen unerbittlichen Freund. Pünktlich und mit penibel geputzten Schuhen erscheint der große, blasse M ann jeden Morgen um präzise V iertel nach neun im vierge schossigen Firmensitz der Standard Oil in Cleveland, Ohio. Schaut seinen Buch haltern über die Schulter, entdeckt im Nu den winzigsten Fehler. Auch das Leben seiner Angestellten soll makellos sein: Gewerkschafter entlässt er, Ehebre cher bestraft er. Wer aber seine Regeln befolgt, erntet immer ein gutes Wort. Vielleicht hat er den Ordnungssinn von der Mutter gelernt, die, fromm und sparsam, dem Sohn die Disziplin mit der Birkenrute einbläute. Vielleicht hat er ihn auch dem Vater abgetrotzt, einem Tunichtgut, der sich als Taubstummer ausgab, um überteuerten Tand zu verkaufen; einem Scharlatan, der als „Naturheilkundler“ oder „Kräuterarzt“ über die Dörfer tingelte. Und vielleicht hat er dafür dessen glühende Liebe zum Geld geerbt - und die Chuzpe, Konkur renten notfalls mit unfairen M itteln aus dem Feld zu schlagen. Jedenfalls träumt auch der 1839 ge borene John mit den kleinen Vogelaugen im greisenhaften, leeren Gesicht vom Reichtum. Den amerikanischen Traum, den jedes Kind beizeiten zu träumen lernt. „Wenn ich groß bin“, vertraut John einem Freund an, „will ich 100 000 Dol lar haben. Und ich werde sie haben.“ Fieberhaft hascht der Junge nach Geschäftsideen. Er verkauft Süßigkeiten mit Aufpreis an seine Geschwister. Er handelt mit Truthähnen, aufgezogen aus
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Eiern, die er im Wald gefunden hat. Und lernt in der baptistischen Sonntags schule, dass nicht nur M ildtätigkeit, sondern auch Geldverdienen „religiöse Pflicht“ sei. Am W ertekanon der Baptisten schaut er sich die Tugenden ab, die er für sein revolutionäres W erk braucht. Hier lernt er, dass jede Ablenkung von einem Ziel Sünde ist. Alkohol: ein Gräuel. Tanz: von Übel. Das Theater: „ein Quell der Ver derbtheit“. Derart gierig meidet er die Vergnügungen, dass ihn sogar sein Spott name stolz macht: der „Diakon“. So ist seine Jagd nach dem Geld auch kein Streben nach Genuss, sondern nach Gottgefälligkeit. Später wird er sich rühmen, nie ein Verlangen „nach Tabak, Tee oder Kaffee“ gehabt zu haben. M ehr noch: „Ich hatte überhaupt nie Verlangen nach irgendetwas.“
Im A u g u st 1859 bo h rt ein Pionier an dieser Stelle bei Titusville, Pennsylvania,
zum ersten M al in den USA eine Ö lquelle an: der Beginn des Ö lfiebers
Bald wird auch an
Schon als junger Mann wird er so zum Glanzbeispiel jener „innerweltlichen Askese“, die der deutsche Soziologe Max Weber 1920 in seiner Schrift „Die pro testantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ den Anhängern vor allem calvinistisch geprägter Reformations-
anderen O rte n in den Vereinigten Staaten Ö l gefunden, hier in Texas. Rasch verdrängt das daraus gewonnene Petro leum andere Leucht m ittel vom M arkt
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kirchen zuschreibt und die er für den Aufstieg dieses Wirtschaftssystems mit verantwortlich macht. Wenn auch einige Aspekte von We bers Analyse den Gang der Forschung später nicht ganz schadlos überstehen werden - John D. Rockefeller bleibt ein Kronzeuge seiner Theorie. Und vielleicht ist es diese religiös geprägte Kombination aus Selbstbe schränkung und Selbstbehauptung, die auch Rockefellers Erfolg ausmacht: auf der einen Seite Disziplin, Fleiß, an Geiz grenzende Sparsamkeit und Aufmerk samkeit für das geringste Detail. Auf der anderen ein nahezu prophetischer Hang zur Vision, zur Gesamtschau, zum Über blick über die gesamte Industrie - und der W ille, diese Industrie nach seinen Maßgaben zu formen. M it 15 verlässt Rockefeller vorzeitig die High School, absolviert eine Buch halterschule und findet einen Job bei einem Handels- und Speditionsbüro in
ausbricht, ist für seinen Aufstieg eine glückliche Fügung. Die Nachfrage nach seinen Lebensmitteln und Landmaschi nen steigt mit der Knappheit, die das Gemetzel erzeugt: Ein Jahr nach Kriegs beginn fahren Rockefeller und seine Partner 17 000 Dollar Gewinn ein, das Vierfache des Vorkriegsjahrs. it noch nicht einmal 25 Jahren ist John Davison Rockefeller b ereits ein w ohlhabender Mann. Ein markanter Anblick mit seiner schlaffen, doch beherrschten Haltung, den trägen, doch hellwachen Augen, dem kalkulierenden, entschlos senen W illen. So gut wie nie sieht man ihn lachen, selten lächeln - außer nach einem guten Geschäft. Er meidet das Vergnügen, liest nachts einsam die Bibel. Sein spezieller Freund ist das Kopfkissen, dem er seine Geschäftsgeheimnisse anvertraut: „Diese intimen Gespräche mit mir selbst“, wird
das Wasser der Flüsse Pennsylvanias verschmutzte; ein lästiger Schleim, der bei der Salzförderung aus der Sole ent fernt werden musste. Nur Quacksalber wussten Verwendung dafür: Dreimal täglich drei Teelöffel davon sollen Cho lera, Leberbeschwerden, Bronchitis und Schwindsucht kurieren. Erst 1855, als ein Chemiker der Universität Yale dem Petroleum, einem D estillat des Rohöls, Tauglichkeit als Leuchtmittel attestiert, wird daraus das schwarze Gold. Denn es stillt einen Durst, der un erträglich geworden ist. Die wachsende Bevölkerung und die atemlose Industria lisierung des Landes haben den Bedarf an künstlicher Beleuchtung drastisch erhöht - und an Schmierölen für die neuen Eisenbahnen, mechanischen Web stühle und Dampfdruckmaschinen. Noch immer wohnen die meisten Amerikaner im Funzellicht von in Tier fett oder Pflanzenöl getränkten Dochten.
Raffinerien wird aus Rohöl das begehrte
Räuberbarone
In im m er größeren
Petroleum gewonnen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs beginnt der entscheidende Aufschwung
Cleveland. Die Arbeit mit Zahlen er scheint ihm „entzückend“, ein Sieg von „Methode und System“. Von seinem Lohn, anfangs 15 Dol lar im M onat, später 50, legt er den Großteil auf die Seite, in drei Jahren 800 Dollar: genug, um sich selbstständig zu machen, als sein Arbeitgeber in w irt schaftliche Schwierigkeiten gerät. 1000 Dollar schießt sein Vater zum Gründungskapital dazu, zum W ucher zins von zehn Prozent. M it einem frühe ren Schulkameraden gründet John 1858, 18-jährig, in Cleveland das Handelshaus Clark & Rockefeller. Dass drei Jahre später der Bürger krieg zwischen Süd- und Nordstaaten
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er später bemerken, „hatten großen Ein fluss auf mein Leben.“ Sein Standort, die Boomtown Cleveland am Ufer des lang gestreckten Eriesees, erweist sich als Trumpf: Da der Krieg die Handelswege über den Missis sippi blockiert, läuft der Warenverkehr auf den Ost-West-Wasserstraßen beson ders lebhaft. Clevelands Hafen schlägt Kohle aus Pennsylvania um, Eisenerz aus der Gegend des Lake Superior und Salz aus M ichigan. Und bald auch einen ganz neuen Schatz: Erdöl. Lange Zeit ist die schwarze, kleb rige Substanz wenig mehr als ein Rück stand gewesen, der Quellen verdarb und
Heller und sauberer, freilich auch teurer, brennt der Tran aus den Leibern der Pottwale (die jedoch im Atlantik bereits so rar geworden sind, dass die Walfänger bis hinter Kap Hoorn in den Pazifik ausschwärmen müssen, um noch Beute zu machen). Nach dem Gutachten aus Yale setzt sich ein New Yorker Anwalt namens George Bissell in den Kopf, die neue Energiequelle Erdöl auszubeuten. Doch gibt es mehr davon als die kargen M en gen, die Pennsylvanias Erde ausschwitzt und die man mühsam durch Abschöpfen oder Aufnehmen mit Lappen gewinnt? Bissell hat den Einfall, mithilfe von Bohrtürmen, wie sie zur Salzgewinnung
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verwendet werden, auch in tieferen Erd schichten nach dem Rohstoff zu for schen. Einer seiner Kompagnons rekru tiert einen Abenteurer namens Edwin L. Drake, einen früheren Zugschaffner, der in den Gegenden mit Sickeröl-Vorkom men sein Glück versuchen soll. nd nach anderthalb Jahren ver geblicher Suche bohrt Drake am 28. August 1859 tatsächlich an einem Bach nahe T itusville, Pennsylvania, zum ersten M al in Amerika gezielt eine Ölquelle an. (Schon Jahre zuvor hatte ein russischer Ingenieur am Kaspischen M eer auf ähnliche W eise eine Ölquelle angezapft, aber im behäbi gen Zarenreich kam die Förderung zu nächst nicht voran.) Die N achricht verbreitet sich in Rekordtempo. Uber Nacht nimmt die Bevölkerungszahl von Titusville um ein Vielfaches zu. „Der ganze Westen strömt herbei“, schreibt Bissell an seine Frau, „und es werden märchenhafte Preise ge boten für Grundstücke, auf denen es Aussicht auf Öl gibt.“ Spekulanten machen sich über die Ufer des Bachs her. Sie jagen verdutzten Farmern alles Land ab, das sie kriegen können. Heillos überfüllte Züge ergießen W ellen von Gierigen über das Land. Bald sprießt ein Wald von Bohrtür men aus dem hastig gerodeten Boden, überragt Maschinenhäuser, Tanks und roh gezimmerte Hütten. 15 Monate nach Drakes Pioniertat sind rund 75 Bohr löcher in Betrieb. G eschichten von sagenhaftem Reichtum machen die Runde. Denn schon für 1200 bis 1500 Dollar lässt sich eine Bohrung starten, und wer fün dig wird, kann leicht Öl im W ert von 450 Dollar am Tag fördern (mehr als vie le Amerikaner im Jahr verdienen) und mit Glück in zwei Jahren einen Profit von 15 000 Dollar für jeden investierten Dollar einstreichen. Das Öl schreibt Heldensagas voller märchenhafter Höhenflüge - und steiler Abstürze. Es baut Städte wie Pithole Creek, das nach einem Fund im Jahr 1865 innerhalb weniger M onate von einem Pionier-Vorposten mit vier Blockhäusern zu einer M iniaturm etropole wird, mit 12 000 Einwohnern, 50 H otels und
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einem Theater m it Kristalllüstern und 100 Plätzen. Doch schon wenige Jahre später, als die umliegenden Quellen ver siegen, wird Pithole Creek zu einer Geis terstadt. 1862 erscheint ein M ann namens Samuel Andrews im Büro von Rockefellers Firma, mit dem Plan für eine Erd ölraffinerie. Denn um das Rohöl als Brennstoff nutzbar zu machen, muss man es in seine Bestandteile aufteilen („des tillieren“) und von etlichen Substanzen reinigen („raffinieren“): ein Prozess, den bislang meist Kleinunternehmen in den Ölgebieten selbst oder im nahe gelege nen Pittsburgh abwickeln. Andrews hat als Erster in Cleveland Petroleum auf Erdölbasis destilliert. Jetzt möchte er seine Expertise zur Geldquelle machen.
EIN KARTELL SOLL IHN SCHÜTZEN VOR
DEN UNBILDEN
dortigen Ölgründen nicht vor. Rohe Ge sellen, betrunken von Schnaps und jähem Reichtum , stapfen m it hohen öligen Stiefeln, Seidenhüten, Diamantennadeln und goldenen Uhrketten umher, hinter lassen schwarze Spuren in Bordellen, Kneipen und Spielhöllen. Und aus den Spelunken dröhnt ohne Unterlass das Klatschen der Karten auf den Tischen. Fuhrleute mit Bärten, Schlapphüten und rauen Sitten hieven die Ölfässer durch 20 M eilen W ildnis bis zur Bahn station. Immer wieder bleiben sie im Schlamm stecken, der nach dem Regen die zerschundenen Straßen bedeckt. Zerbrochene Ölfässer säumen die Route, dazwischen zu Tode gepeitschte Pferdeleiber, H aut und Fell von Erdöl zerfressen. Hunderte von Prahmen und D am p fern sch lep p en die schwarze Fracht über den Allegheny River nach Pittsburgh. Dazu Flotten von Leichtern, die oft kentern und ihre Last dem W asser opfern - sodass 1863 plötzlich der verseuchte Fluss in Flammen steht und eine B rücke bei F ranklin abbrennt.
DES MARKTS Rockefellers Partner Maurice Clark, Investitionen mit ungewissem Ausgang eher abgeneigt, versucht ihn abzuwim meln. John D. aber w ittert sofort ein enormes Geschäft. Er überredet den Kompagnon, 4000 Dollar in ein gemein sames Unternehm en zu stecken: A n drews, Clark & Co. Zunächst soll das Ölbusiness nur ein Seitenzweig ihres Handelsgeschäfts sein. Als aber Ende 1863 eine festlich ge schmückte Lokomotive von der Ostküste in den Bahnhof von Cleveland einfährt, erweist sich der Standort als ideal für Herstellung und Verkauf von Petroleum: Die Schienen verbinden die Stadt nun m it der Metropole New York, wie m it den Ölfeldern von Pennsylvania - dem vorerst einzigen Fördergebiet der Welt. Die Ordnung jedoch, die der from me Rockefeller so liebt, findet er in den
M ehr als die Unmoral jedoch schmerzt Rockefeller die Un berechenbarkeit des M arkts. Pausenlos sprudeln neue Ö l quellen aus dem Boden; zwischen 1860 und 1862 ist die Produktion von 450 000 auf drei M illionen Barrel gestiegen (ein Barrel sind rund 160 Liter). A llein im L auf des Jahres 1861 sind deshalb die Preise von zehn Dollar pro Barrel auf zehn Cent gefallen, haben zahllose Pro duzenten in den Ruin getrieben. Doch das billige Erdöl erobert nun auch leichter den M arkt, verdrängt kon kurrierende Leuchtstoffe, kostet dank der zusätzlichen Nachfrage bereits 1863 wieder 7,25 Dollar pro Barrel. Und erneut wird gegründet und spekuliert, wachsen an der Ostküste Hun derte von Erdölfirmen aus dem Boden (deren Aktien so gefragt sind, dass eine Gesellschaft binnen vier Stunden die gesamte Emission verkaufen kann). So wird das Geschäft mit dem Öl zur Achterbahnfahrt. 1866 stürzen die
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Räuberbarone
K ö n ig R o c k e fe lle r s itz t a u f einem Fass O l, seine R egalien sind E rd b a ll und P e tro le u m la m p e . N ach und nach g e lin g t es dem U n te rn e h m e r, m it se in e r F irm a d ie K o n tro lle ü b e r alle Teile des O lg e s c h ä fts zu e rla n g e n - vo n d e r F ö rd e ru n g bis zum V e rk a u f
Preise von N euem ab. D och die PetrolJunkies erschließen, in der H offnung auf ein neues H o c h , nach w ie vor im m er w eitere Ö lfelder: „D er Ö lpreis fiel w ei te r“, w u n d e rt sich R ockefeller später, „doch sie h örten nicht au f zu bohren.“ A uch die Raffineriebranche ist bald derart aufgebläht, dass ihre G esam tkapa zität zeitweise das D reifache der geför derten Rohölmenge ausmacht. Einkäufer reiten von B ohrloch zu B ohrloch, um K onkurrenten zuvorzukom m en, balgen sich a u f inoffiziellen B örsen in einem H o tel in Titusville oder a u f einem B ür gersteig in O il C ity um den R ohstoff, spekulieren bald auch m it T e rm in g e schäften in festen H äusern um die kost bare W are, m it der C hance au f stattliche G ew inne oder verheerende Verluste. D ie In v estitio n sk o sten sind v er gleichsweise gering: E ine kleine Raffine rie kostet kaum 1000 Dollar, w eniger als ein halbw egs so rtie rte r K räm erladen. M a n b raucht n ich t viel m eh r als einen schm iedeeisernen Kessel, um das R ohöl über offenem Feuer zu kochen, eine kup ferne Kühlschlange, um die entstehenden D äm pfe zu kondensieren, einen T ank, um das K o n d en sat au fzufangen, un d einen S tößel, um es m it den n ö tig en C hem ikalien zu verrühren u nd schließ lich das begehrte Petroleum zu gewinnen. U n d so ström en sie herbei, all die „Kesselflicker und S chneider u nd Jungs hinter den Pflügen“, wie Rockefeller klagt, „gierig nach diesem großen P rofit“. Schon M itte 1863 gibt es in der G e gend von C leveland 20 B etriebe. 1866 schicken 50 Ö lfabriken ihre beißenden A usdünstungen in die L uft, die das Bier der Brauereien verderben un d die M ilch sauer w erden lassen. G nadenlos rivalisieren deren Besit zer um M arktanteile u n d um günstige Frachttarife bei den E isenbahnen, deren Chefs sich ihrerseits unerbittliche Preis kriege liefern und Rockefeller allmählich an der selbstregulierenden V ernunft des M arktes zweifeln lassen, die T heoretiker des K apitalism us w ie der scho ttisch e Ö konom A dam S m ith postuliert haben. In diesen Ja h re n des „ru in ö sen W ettb ew erb s“, der ja schließlich auch seine Profite gefährdet, h at Rockefeller, wie er später behaupten w ird, seine en t scheidende Idee: E r w ill die Ü b erp ro
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d uktion eindäm m en, die Preise stabili sieren u nd die Industrie nach rationalen P rinzipien ordnen. as n o ttu t, ist ein K artell, ein Plan, erkennt Rockefeller. D er soll ih n u n ab h än g ig m achen vom Z ufall, dem Risiko und den U m ständen. Kurz: von den U nw äg barkeiten des freien M arkts. D e r erste S ch ritt h e iß t „vertikale Integration“ - die Vereinigung möglichst vieler P ro d u k tio n sp h asen u n te r einem
Gemeinsam eröffnen sie eine zweite Raf finerie, produzieren rasch insgesamt 3000 Barrel am Tag. Bald ist ih r B etrieb die g rö ß te Raffinerie der W elt, beschäftigt m eh r als 1000 A rbeiter und beherrscht ein Z eh n tel der Ö lverarbeitungs-K apaz ität in den U SA . Ü ber die G ründe für diesen rasanten A ufstieg w erden die Ö k o n o m en lange spekulieren. E in ig k e it b e ste h t jed o ch d arin , so resü m iert die am erikanische W irtsch aftsh isto rik erin A nne Mayhew, dass w eder sein E in g riff in die Ö lp ro -
Pferdegespann m it S ta n d a rd -O ilTankwagen. Etliche Konkurrenten zw ingt Rockefeller zur A u fg a b e , indem er ihre Transporte erschwert
D ach . U m sich gegen unzuverlässige Z ulieferer abzusichern, k au ft er ganze E ichenw älder u n d lässt aus dem H o lz eigene Ölfässer herstellen, schafft eigene Tankw agen an, erw irbt eigene D epots in N ew York u n d eigene Schiffe a u f dem H u d so n River. S tellt ein en S tab von C hem ikern ein, die unerm üdlich an der V erfeinerung des P rodukts arbeiten. D e r zw eite S ch ritt ist: E xpansion. Rockefeller g ew innt einen K om pagnon nam ens H e n ry M . Flagler, der 100 000 D o llar in das U n tern e h m en einbringt.
1907 e rö ffn e t Standard O il in Seattle eine der ersten Tankstellen der USA. D er Erfolg der im m er populärer wer denden A u to m o b ile b rin g t Rockefeller noch m ehr Gewinn
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duktion noch die E inführung neuer Raf fin e rie te c h n o lo g ie n fü r R o ckefellers B litz-E rfolg verantw ortlich sind - w ohl aber seine E roberung der Kontrolle über den Ö ltransport. Seine W irtsch aftsk raft ist m ittler weile so groß, dass n ich t nur sein K re-
Selbst m ächtige Eisenbahngesellschaf ten spielt der O lm a g n a t gegeneinander aus, verschafft sich m it Transportzusagen o ft m ehr als 30 Prozent Rabatt
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D e r d ritte S c h ritt in Rockefellers Plan, sich von den U nw ägbarkeiten des freien M arkts freizum achen, heißt: E inverlei bung der Konkurrenz. U m für seine Ü bernahm en gerüstet zu sein, b eginnt er, seine G eldm ittel auf zustocken. A m 10. Jan u ar 1870 g rü n d et er m it H en ry F lagler u n d anderen eine A ktien g esellsch aft u n te r dem N am en „The Standard O il C om pany“, für die er eine M illio n D ollar zu sam m en k ratzt etw a 18 M illio n e n D o llar in h eu tig er K aufkraft und das üppigste G rü n d u n g skapital, das bis dahin ein U S -U n tern eh m en jem als vorweisen konnte. B ald d a ra u f b e g in n t R ockefeller je n e n F eldzug, der als „M assaker von Cleveland“ in die W irtschaftsgeschichte eingehen wird. A m 30. N ovem ber 1871 schm ieden Rockefeller, Flagler und ein Vertreter der
E isenbahnen in N ew York eine Allianz, die ih re M a c h t ze m e n tie re n soll: ein B ü ndnis zw ischen drei g ro ß en B a h n gesellschaften u n d ausgew ählten Raffi n erie n u n te r dem D ac h ein er eigens gegründeten „South Im provem ent C om pany“. Ü ber ein Viertel der Aktien sichern sich die S tandard-O il-C hefs. D ie E isenbahnen verpflichten sich, die Transporttarife für alle Konkurrenten stark zu erhöhen, den S IC -M itg lied ern aber Rabatte bis zu 50 Prozent einzuräu m en. Sie versprechen Rockefeller & Co auch zusätzliche V ergütungen für jedes Fass Ö l, das ein K o n k u rren t a u f dem S chienennetz befördern lässt. D as ist ein C oup, der nicht nur die Ö lbranche bereinigen, sondern auch den Preiskrieg der Eisenbahnen beenden soll: Sie können ihre Frachtanteile je tzt nach einem festen Schlüssel aufteilen. Z udem profitieren sie nicht nur von den logistischen Vorteilen, die ein G ro ß kunde bietet, sondern auch von den m eh reren H u n d ert Tankwaggons, die Rocke feller rec h tze itig ang esch afft h a t und je tz t großzügig in die neue V erbindung einbringt. E in u n erh ö rter Schlag gegen den W ettbew erb, bei dem sich alle Ver tragsparteien zu strengstem Stillschwei gen verpflichten. Als Rockefellers Konkurrenten kurz d a ra u f erfahren, dass die B ahnen ihre Frachttarife verdoppelt haben, erbebt die Branche in W u t und Verzweiflung. Auch in den Fördergebieten wächst die Furcht, es dem nächst nur noch m it einem einzi gen Ö lkäufer zu tu n zu haben, der dann die Preise diktieren kann. D em onstranten ziehen m it Fackeln u n d S p ru ch b än d ern d urch die Städte: „N ieder m it den V erschw örern!“ 3000 M en sch en stürm en das O pernhaus von T itusville, u n d in O il C ity ro tte n sich 1000 D em o n stran ten zum M arsch au f ein Kongressgebäude zusam m en. D ie L ok alzeitu n g „O il C ity D e r rick“ veröffentlicht die N am en der Ver schwörer: „Sehet die große Schlange in all ihrer hässlichen U nförm igkeit!“ Ö lm ä n n er belagern daraufhin die S tandard-O il-B üros, bem alen die blauen Fässer der F irm a m it T otenköpfen und gekreuzten K nochen. U n d Rockefeller legt sich vorsichtshalber einen Revolver in die N achttischschublade.
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d it bei den B anken steigt: E r kann auch den Eisenbahnen ein Frachtvolumen von 60 W aggons am Tag garantieren u nd im G egenzug R abatte verlangen. E in entscheidender Vorteil. D en n T ransport u nd U m schlag m achen m ehr als zwei D rittel der Raffineriekosten aus. U n d hier liegt das Schlachtfeld, au f dem Rockefeller n icht nur seine K onkurren ten ausschalten w ird - sondern das P rin zip K onkurrenz an sich. D rei große Eisenbahnstrecken, b e trieben von der N ew York C entral, der E rie u n d der P ennsylvania R ailroad, verbinden Cleveland m it den H äfen der O stküste. Rockefeller zögert nicht, die T ra n sp o rtu n te rn e h m en gegeneinander auszuspielen. Als Erstes verschafft er sich enorm e R ab atte a u f Ö ltra n sp o rte m it der Erie sowie günstige Tarife bei deren T ochter A tlantic and G reat W estern. M it diesen G arantien in der H an d g elingt es ihm , auch vom N ew -Y ork-
C en tral-A b leg e r L ake Shore R ailroad Preisnachlässe zu erzwingen. A m E n d e k an n er zum Preis von 1,65 D ollar statt der offiziellen 2,40 D o l lar R ohöl aus Pennsylvania nach C leve lan d sowie das daraus raffin ierte Fass P etroleum nach N ew York verfrachten u n d zu un sch lag b ar gü n stig en Preisen verkaufen. S päter w ird sich Rockefeller rü h m en, diese F o rm von P reisnachlässen zu g u n sten der S tärk sten erfu n d en zu haben (die freilich auch in anderen Bran chen wie der Stahlindustrie bald gängige Praxis w erden). U m g ek eh rt profitieren die E isen b ah n g e sellsch a ften von den regelm äßigen A ufträgen, die der G ro ß kunde ihnen verschafft - fördern m it den R abatten allerdings auch die überall im L and zu beobachtende w achsende T en denz zu M onopolen. Bei K onkurrenten und Verteidigern des W ettbew erbs stoßen solche P rak ti ken a u f grim m ige K ritik, w eil sich ein w irklich freier M a rk t nur durch gleiche T ra n sp o rtk o n d itio n en fü r alle K unden entw ickeln kann. D och Rockefeller und seine Partner verletzen nicht einm al geltendes Gesetz: E rst 1887 wird der „Interstate Com merce A ct“ Preisnachlässe der T ran sp o rtu n ter n ehm en für illegal erklären - o hne sie jedoch w irksam abschaffen zu können.
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U nter dem öffentlichen D ru c k löst sich die South Im provem ent C om pany nach einigen W o ch en auf. D o ch ihre M a c h td e m o n stra tio n h a t an d eren o rts W irk u n g gezeigt: W ährend in der O lregion von Pennsylvania noch der Volks zo rn to b t, k an n S tan d a rd O il in der Raffinerie-M etropole Cleveland in O hio 22 ihrer 26 K onkurrenten schlucken. M it scheinbar ausgesuchter H ö f lich k eit g ehen R ockefeller u n d seine M ä n n e r a u f E inkaufstour. „Sie sehen, dass unsere M ethode funktioniert“, drän gen sie die Unternehmer. „Außerhalb von ih r w ird niem and eine C hance haben. A ber w ir w erden jedem die M öglichkeit bieten, m it hereinzukom m en.“ Es g ib t U n tern e h m er, die schon nach einem Blick in Rockefellers Bilan zen resignieren und ihre Raffinerie gegen A ktien des unbezw ingbaren Riesen eintauschen. A nderen müssen die StandardO il-M än n e r erst erklären, dass die Z eit der bezahlbaren F rachttarife für sie von nun an vorbei sei. „W enn w ir nicht ver kauften, w ürden w ir vernichtet w erden“, fasst einer von ihnen die A rgum ente der U nterhändler zusam m en. D abei z a h lt S tan d ard O il in der Regel nur selten m ehr als den S chrott w ert der A nlagen eines B etriebs. E in v eru n sich erter U n te rn e h m e r verkauft seine h ö ch st p rofitable R affinerie für gerade einm al 45 000 D ollar, obw ohl er ih ren W e rt d o p p elt so h o ch schätzt. Für die M arke, den guten R u f oder die K undenkartei eines U n tern e h m en s ist Rockefeller jeder C e n t zu viel. D as ist n ich t m ehr A dam S m iths selbstregulierender M arkt, die klassische M arktbereinigung durch A n g eb o t un d Nachfrage. Es ist ein „Plan“, wie Rocke feller es nennt; eine kühle K om bination aus Ü berred u n g , sanftem Z w ang un d offener E rp re ssu n g - die sich zudem au f dem B oden der geltenden G esetze vollzieht. S tandard O il, noch 1871 m it zehn Prozent an der landesw eiten R affinerie produktion beteiligt, erreicht im Jahr nach dem „Massaker von Cleveland“ zwischen 30 und 40 Prozent. D ie Villen an Cleve lands E u clid A venue, erb a u t von den neuen Ö lprinzen in den Tagen der E u p h o rie, steh en je tz t reihenw eise zum Verkauf. B innen drei M o n aten h at R o
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Wer dem Standard-O il-Chef in die Quere kommt, der wird zerstört oder geschluckt. 1877 berherrscht Rockefeller fast 90 Prozent des Ölgeschäfts in den U S A (Karikatur, um 1880)
ckefeller das zerklüftete Feld der Raffi neriebranche Clevelands planiert. U n d schickt sich je tz t an, die g e sam te Industrie seiner E in h eits-Id ee zu unterw erfen. ie T en d e n z zu m Big Business, zur M a rk t-D ik ta tu r der großen U n tern e h m en , b leib t in diesen Jahren keineswegs auf die E rdöl branche besch rän k t. E s ist eine allge m eine H ypertrophie, ein H an g zur G rö ße, der a u f dem W ach stu m der ganzen W irtsch a ft fußt. D enn allein in den vier Jahrzehnten nach dem B ürgerkrieg b läh t sich A m e rikas Industrieproduktion au f das F ünf fache, ü b erh o lt den k u m u lierten A u s stoß der K onkurrenten G roßbritannien, Frankreich und D eutschland.
A uch die Bevölkerung nim m t stark zu u n d b efeu ert den Boom : Zw ischen 1865 u n d 1900 verdoppelt sich - auch durch den stetigen Strom der E in w an derer - die Einw ohnerzahl der USA. Ein riesiger B innenm arkt entsteht, der durch Eisenbahnen und Telegraphen stetig zu sam m enw ächst u n d für reibungslosen A bsatz sorgt. D as W achstum der U S -W irtschaft n äh rt sich auch aus den reichen Vorräten an R ohstoffen w ie E isenerz, Kohle, Ö l und Gold, die das Riesenland birgt, sowie von dem zunehm enden E rtrag, den eine im m er effizienter arbeitende L an d w irt schaft auf den endlosen N utzflächen der U SA erbringt. U nd vom Innovationsgeist der A m erikaner, wie ihn eine halbe M il lio n neu er In d u strie p a te n te zw ischen 1860 und 1890 dokumentieren: von N eu
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Und er ergreift nicht nur die USA, sondern bald auch andere Länder ja p a n etwa und Deutschland mit Unternehmen wie Siemens und BASF.
So ist es nicht etwa der M achthunger einzelner Kapitalisten, sondern die innere Logik des Kapitalismus, die im 19. Jahr hundert den W eg ins B ig Business erzwingt. Vor allem in Branchen wie Schwerindustrie, Transport und Tele kommunikation, die meist enorme In vestitionen verlangen, ist der W ille zur Größe oft nicht Aggression, sondern reine Selbstverteidigung. W er nicht wächst, riskiert den Tod - oder muss sich eine Nische suchen, in der er überleben kann. Es ist ein Entwicklungsgesetz, das der linke Theoretiker Karl M arx einige Jahre zuvor formuliert hat: Im Zeitalter des Monopolkapitalismus werden Unter nehmen immer größer, weil die Unter nehmer immer mehr Kapital in M aschi nen und Produktionsprozesse stecken (siehe Seite 56). Zugleich streben sie aber auch nach Größe, um den M arkt zu ih rem Vorteil zu beherrschen, als Monopol.
LANGE GIBT ES KAUM WIDERSTAND
GEGEN DEN MONOPOLISTEN Spätere Ökonomen bestätigen die kapitalistische Tendenz zur Größe: Denn mit steigender Produktionsmenge sinken für Unternehmer fast immer die Kosten pro hergestelltem Gut. Keiner orchestriert diesen Konzen trationsprozess so methodisch wie John D. Rockefeller. Es ist ja die Zeit der „Sozialdarwinisten“, die die zuvor ent deckten evolutionären Gesetze auf die Gesellschaft anwenden und das su rv iv a l o f th e fitte s t zum politischen Leitbild er
klären. So werden nicht nur Anpassung, Vererbung und Auslese in ihren Augen zu M otoren des Fortschritts, sondern wird auch die Verdrängung der Schwä cheren zum Naturrecht - und jede staat liche Regulierung des Geschäftslebens zur Sünde wider die Biologie. Als nach einem Banken-Crash am 18. September 1873, dem „Schwarzen Donnerstag“, auch der Ölpreis sinkt und das schwarze Gold mancherorts billiger ist als Wasser, schreitet die Selektion gar noch gnadenloser voran. Rockefeller, mit einem wehrhaften Kapitalpanzer gegen die Depression gerüstet, kann jetzt Kon kurrenten zu Schleuderpreisen einsacken und seiner eigenen Größe einverleiben. Fortwährend beugt er sich nun über die Landkarte, um neue Opfer auszu kundschaften. Er fährt von Geheimver handlung zu Geheimverhandlung, lädt eines Tages Raffinerie-Unternehmer aus Pittsburgh und Philadelphia nach Saratoga Springs ein, um sie unter das Dach von Standard Oil zu nötigen. W er beitritt, lässt er in gewohnter Manier durchblicken, profitiert von der Marktmacht des Ölriesen; wer sich aber weigert, der wird zerschmettert. In kurzer Zeit schluckt Standard Oil auf diese Weise 15 Größen der Branche. Und von den 22 Raffinerien Pitts burghs hält sich nur noch eine einzige in unabhängiger Hand. Die M anager von Stan dard Oil sind, wie Rockefeller predigt, „Missionare des Lichts“, doch ihr revolutionäres W erk vollziehen sie im Dämm er der H eim lichkeit. Denn mit Rücksicht auf die öffentliche M einung, die noch immer der Illusion eines freien M arkts nachhängt, sucht der Ölmogul die Här te seiner Aktionen zu kaschieren - so gründlich, dass er sogar ein paar Dutzend unabhängige Raffinerien als Alibi-Kon kurrenten duldet. Seine Ankaufsverhandlungen lässt er zum eist über Strohmänner laufen. Neue Vasallenfirmen sind gehalten, ihre Abhängigkeit zu verbergen, ihren alten Briefkopf zu nutzen, Geheimkonten zu führen, ihre interne Korrespondenz mit Standard Oil zu verschlüsseln und Deck-
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erern wie dem Elektrizitäts-Pionier Tho mas Alva Edison oder dem TelefonErfinder Alexander Bell. Doch nur große Gesellschaften, die corporations, sind in der Lage, die neuen Maschinen anzuschaffen und auszulasten und zugleich günstige Preise für Roh stoffe und Transporte auszuhandeln. Und nur durch Zusammenschlüsse können die Unternehmen die Preise sta bilisieren, die aufgrund der rasenden Entwicklung heftig schwanken. In vielen Branchen, von W hiskey über Viehfutter bis hin zu Fahrrädern, organisieren sich in den 1880er Jahren ehemalige Wettbewerber in informellen Kartellen, Aen pools. Sie einigen sich über Ausstoßquoten und Preise. A uf diese W eise übernimm t all mählich Big Business das Kommando. Der Stahlbaron Andrew Carnegie etwa bringt bis zur Jahrhundertwende 40 Pro zent seiner Branche unter seine Kon trolle - und verkauft dann die Firma für geschätzte 492 M illionen Dollar an den Großbankier J. P. Morgan. Der beherrscht nach dem Ankauf weiterer Gesellschaften schließlich drei Fünftel der amerikanischen Stahlindus trie. Und seine 168 000 Mitarbeiter starke „United States Steel Corporation“ wird der erste Konzern der W elt mit einem W ert von einer M illiarde Dollar. Bald gesellt sich zum Big Business auch noch das b ig m a n a gem en t hinzu. Vorreiter sind die Eisenbahnen mit ihren dezentralen und hierarchisch abgestuften Firmenstrukturen, mit moderner Buch führung und leitenden A ngestellten, mit Spezialisten für Technik, M aterial beschaffung und die Optimierung von Lohnskalen und Produktionsabläufen. Und auch sie folgen dem Trend zur Größe: Bis zur Jahrhundertwende schluckt ein Drittel der Eisenbahngesell schaften die gesamte restliche Konkur renz. 115 railroad Companies verschwinden allein im Jahr 1880. An Stelle der alten Patriarchen füh ren nun im m er häufiger angestellte Unternehmer, m anager, das Kommando - auch wenn der Einfluss der Eigner familien nie ganz verschwindet. Denn der W andel zur Größe vollzieht sich nicht auf einen Schlag, sondern in einem Nebeneinander von Altem und Neuem.
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nam en zu verwenden. U nd wer sich Rockefellers bew ährter M ischung aus W er ben und Erpressen widersetzt, muss eines M orgens feststellen, dass in der gesamten Region keine Ölfässer oder Tankwaggons m ehr verfügbar sind, weil Standard O il alles aufgekauft hat. A uch E inzelhändler, die sich w ei gern, sein Ö l zu verkaufen, zw ingt er zur Räson. W eist Eisenbahnchefs an, W id er spenstigen die Frachttarife zu erhöhen, d ro h t diesen m it der E rö ffn u n g eines Billigladens gleich nebenan. M it S on derangeboten überschw em m t er lokale M ärkte, bis die le tzten W e ttb ew erb er aufgeben müssen - höhere Preise nim m t er dort, wo er schon M onopolist ist. U m seine Feldzüge n a c h ric h te n d ie n stlich zu u n te rfü tte rn , u n te rh ä lt Rockefeiler ein N e tz von S pionen, die K räm er u nd E isenbahnm itarbeiter aus h o rchen u n d jedes Fass Ö l verfolgen, das die verbliebenen „U n abhängigen“ verkaufen. D eren A ngestellte besticht er m it 25 D ollar im M o n at, dam it sie sein Postfach N um m er 164 in Cleveland m it vertraulichen D aten füttern. In fo rm an ten in N ew York, P h ila delphia u nd A ntw erpen verfolgen d er w eil d en P e tro le u m -W e ltm a rk t u n d geben Rockefeller die M öglichkeit, m it den Preisspannen zu spekulieren. Im J a h r 1877 ist J o h n D ., noch keine 40 Jahre alt, der H err über nahezu 90 P rozent des in A m erika raffinierten Öls, 1879 über fast das gesamte Pipeline system. Seine F lo tte von Tankw aggons, die die Eisenbahngesellschaften von ihm m ieten müssen, verschafft ihm Kontrolle über das T ransportnetz. A uch der W eltm arkt g ehört S tan dard O il, denn 70 P rozent des am erika nischen Ö ls w erden M itte der 1880er Jahre exportiert. Standard O il beleuchtet nicht nur die Stuben in Europa, sondern sch afft sich auch neue M ä rk te : v e r schenkt beispielsweise M illionen P etro leum lam pen in C h in a oder verram scht sie für wenige C ent und w eckt dam it erst den B edarf nach Lam penöl. U n d d a n k g ro ß e r In v e stitio n e n kontrolliert die F irm a n icht nur die Ö l industrie, sondern auch Banken und Ver sicherungen, Eisenerz- und Kohleminen. N ich t einm al die elektrische G lü h birne, die zum E n d e des Jah rh u n d e rts
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beginnt, die Petroleum lam pe zu verdrän gen, kann die P ro fite schm älern: Fast zeitgleich tr itt das A u to m o b il seinen Siegeszug an u n d lässt die N achfrage nach E rd ö l (als T reib sto ff in Form von B enzin) in nie geahnte H ö h en steigen. U n te r A m erikas In d u striellen ist Rockefellers A nti-W ettbew erbs-D oktrin m ittlerw eile K onsens: E in e r vereinten In d u strie k an n der M a rk t kaum noch etwas anhaben. Sie muss nur darauf ach ten, die Preise n ich t zu hoch zu schrau ben - um n ic h t neue K onk u rren z m it günstigeren A ngeboten heranzuzüchten. Z u d em erzw ingt der Z u sam m en schluss auch den B etriebsfrieden: jen e H a rm o n ie von „gehorsam en D ie n e rn u n d guten H erre n “, wie Rockefeller sie schätzt. W ird ein S ta n d o rt b estreik t,
ERST PRÄSIDENT ROOSEVELT GREIFT
DIE MACHT DER BOSSE AN verlegt m an einfach die P ro d u k tio n an einen anderen. D arü b er hinaus hilft die K onzentration des Kapitals bei der A uto m atisierun g der B etriebe u n d senkt so die A b h ä n g ig k e it des U n te rn e h m e n s vom unordentlichen F aktor M ensch. D ie m a ß g e b e n d e ö k o n o m isc h e L ehrm ein u n g passt sich den neuen T a t sachen an. F ü h re n d e T h e o re tik e r w ie der W irtsch a ftsw issen sch aftler E lish a B enjam in A ndrew s loben den Sieg der C orp o ratio n s. „K onkurrenz ist keines wegs im m er etwas G utes“, betont er 1889 in einem G u tac h te n für das R epräsen tantenhaus: E rst durch den „riesenhaf ten Stil eines U n tern e h m en s“ k ö n n ten in einer In d u strie w irklich „sorgfältige Schätzungen der wahrscheinlichen N ach frage angestellt u n d die P roduktion ö rt lich wie zeitlich daran angepasst werden,
und zwar m it einer G ründlichkeit, die zu Z eiten des zügellosen W ettbew erbs u n m öglich w ar“. So h a t die N ic h te in m isc h u n g sIdeologie des Laissez-faire, der Verzicht der Politik auf Eingriffe ins W irtschafts leben, n ich t n u r die w ilde K onkurrenz der frühen Jah re erzeugt - sondern er m öglicht je tz t auch deren A bschaffung im Sinn des Big Business. ange Z eit w agen die G esetzgeber kaum , in das T reiben der C o rp o ratio n s einzugreifen: Im m e rh in ist das E ig en tu m neben Freiheit u n d L eben der höchste W ert der am eri kanischen D em o k ratie - und so heilig, dass gleich zwei V erfassungszusätze es schützen. A u ch lässt die Ideologie des Laissez-faire die Regierung vor In terv en tio n en in die Ö k o n o m ie zurückschrecken. Z u d em ist m it der W ir t sc h a ftsm a c h t d e r K o n zern e deren politischer Einfluss g e w achsen: E isen b ah n p räsid en ten, K upferbarone u n d S tah l titanen greifen als Gouverneure, als M itglieder des Senats oder als T eil der R egierung in die Staatsgeschäfte ein. A uch Standard O il schickt eigene M an ag er in die L egis lative und führt darüber hinaus zahlreiche „unabhängige“ Abge ordnete u n d Senatoren a u f der G ehaltsliste. A g en ten der F irm a infil trieren Schlüsselgremien wie W irtschafts ausschüsse u n d erw irken Beschlüsse im Sinne der U nternehm en. In der Ö ffen tlich k eit jed o ch regt sich n u n allm ählich K ritik an der kaum noch durchschaubaren M ach t der Bosse. Journalisten prangern die M ogule in E n t hüllungsberichten an, Z eichner karikie ren sie als S pinnen, gefräßige M o n ster und Strippenzieher. Vor allem das „Progressive M ove m en t“, eine einflussreiche Reform bew e g u n g v o rn eh m lich städ tisch er M itte l ständler, die für K o n su m en ten sch u tz, hum anere A rbeitsbedingungen u n d so ziale G erechtigkeit eintritt, w endet sich gegen die unbegrenzte M achtkonzentra tio n der Indu striem ag n aten u n d drängt allm ählich die P olitik in die Offensive.
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Vom New Yorker Firmensitz aus führt Rockefeller seit 1885 sein Unternehmen. Nur wenige Ein geweihte wissen, wie viele Firmen zu dem Konzern gehören
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Rockefeiler, hier mit seinem Sohn, lebt eher bescheiden - und spendet 530 Millionen Dollar für die Wohl fahrt (nach heutiger Kaufkraft etwa 13 Mil liarden Dollar)
90 P rozent der U S-R affm erien, ohne sie offiziell zu besitzen. O hne zu lügen, kann ein Geschäftsführer des Verbunds öffent lich erklären, die angeschlossenen Betrie be u n te rh ielte n lediglich „angenehm e“ B ezieh u n g en u n d arb e iteten „h arm o nisch“ zusam m en. N ich t die F irm a Standard O il ist es ja, die A n teile an den E in z elu n te rn eh m en hält, sondern es sind ihre Aktionäre. E in System von A usschüssen des T ru sts k o o rd in ie rt die A u fg ab en u n d P ro d u k tio n sz w e ig e , d e n n die G ü te r
In d er o b ersten E tag e der neuen S tandard-O il-Z entrale am Broadway in New York, d eren Fassade in revolutionärer G eheim haltung den F irm ennam en ver schweigt, trifft sich, in einem Raum m it Blick über den H afen, der L eitungsaus schuss jeden M ittag zum L unch. D er sparsame Rockefeller reist, oft im abgetragenen A nzug, für fü n f C en t von seinem N ew Yorker H au s m it der H o ch b ah n an. L iegt nach dem M itta g essen n och gern a u f der C haiselongue, wo er m it geschlossenen A ugen zu h ö rt u n d plötzlich A nw eisungen ausspricht. E rm ahnt die Kollegen manchmal gar mit einem G edicht: „N icht alt sind w ir und n ich t verschlafen, / W ir m üssen wach, aktiv u n d unerschrocken sein!“ Rockefellers M odell m acht Schule - und löst weitere Ä ngste aus. 1888 stellt ein A usschuss des N ew Yorker Senats m it großer Besorgnis fest, Rockerfellers U r-T ru s t h ab e eine neue W elle von U nternehm enszusam m enschlüssen aus gelöst: „W ir haben es m it einem System zu tu n , das sich w ie eine ansteckende K rankheit im W irtschaftssystem dieses L andes verbreitet h at.“ 1890 se tzt ein S en ato r aus O h io einen „A ntitrust A ct“ durch, der „Verbin d u n g en in Form eines T rusts oder zur anderw eitigen B eschränkung des H a n dels“ m it Strafen bis zu 5000 Dollar und/ oder einem Jah r H a ft belegt. D o ch das G esetz ist schw am m ig form uliert und lässt reichlich Schlupflö cher. A ußerdem zeigen die Richter wenig N eig u n g , es gegen die G ro ß in d u strie an zu w en d en . L ie b er b e n u tz e n sie es, u m A rbeitskäm pfe niederzuschlagen sch ließ lich ist ja auch ein S treik eine „B eschränkung des H andels“. In dem M o n o p o l der „A m erican Sugar Refm ing Com pany“ hingegen, das
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D o c h deren M ö g lic h k e ite n sind b e grenzt. Z w ar erlassen m anche U S -B undesstaaten G esetze, die große Z u sam m en b allu n g en von W irtsc h a fts m a c h t verhindern sollen - etw a ein V erbot für U n ternehm en, E igentum außerhalb des Bundesstaats zu besitzen. F ür die Juristen des Big Business sind solche Initiativen jedoch kein ernst haftes H indernis. D enn im Jahr 1882 fin d et Rockefellers R echtsberater Sam uel D o d d einen W eg, das V erbot zu um ge hen: den T rust. In jedem B undesstaat, in dem die F irm a aktiv ist, soll sich ein eigenes S ta n d a rd - O il- U n te r n e h m e n gründen, dessen A ktionäre ihre S tim m rechte an eine informelle Kontrollgruppe von neun trustees, „T reuhändern“, über tragen: Rockefeller un d seine Partner. D ie T reuhänder verw alten das zu sam m engelegte A k tien k ap ital aller 40 Einzelfirm en und nehm en die Rolle ein, die einst den D irektoren der F irm a zu kam. D er Trust ist ein G eheim bund, eine virtuelle Gesellschaft, die keine Verträge schließt und keine B ücher fü h rt - aber dennoch das Tun und Lassen von 40 U n ternehm en bestim m t. Es ist ein M eisterstück klandestiner M achterhaltung. D en n au f diese W eise k o n tro llie rt d er S ta n d a rd O il T ru s t
um fassen neben Petroleum und H eizöl bereits rund 300 N ebenprodukte. Es gibt einen Innenhandels- u n d einen A u ß en handelsausschuss, einen V erarbeitungs-, einen Pipeline- und einen Schmierölaus schuss. U n d über allem th ro n t ein „Lei tungsausschuss“, der de jure nur „W ün sche“ und „Em pfehlungen“ äußern kann - d och de facto die M a c h t in seinen H än d en versammelt.
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über Jahre G ew innm arge u nd D ividen den der angeschlossenen Z uckerherstel ler gegen den M ark t absichert, kann der Suprem e C o u rt in seinem G ru n d sa tz u rteil vom Ja n u ar 1895 keine A b sic h t erkennen, „den H andel und die G eschäf te zu behindern“. D as ist ein Freibrief, der um gehend w eitere T rusts u n d K artelle erm untert. B in nen w eniger Jah re en tste h en ru n d 300 neue G ig an ten . Ju riste n zim m ern über N acht aus verstreuten U nternehm en m assive B löcke u n d p räse n tie re n am M o rgen den A ktionären beispielsweise einen B aum w ollöl-T rust, einen D ra h tnagel-Trust oder G ebäck-Trust. A u f diese W eise en tste h e n viele R iesenkonzerne w ie G en e ra l E lectric oder American Telephone and Telegraph. Bis 1904 w ächst das durchschnittliche V olum en der 100 g rö ß ten F irm en der U SA auf das Vierfache. U nd vier Prozent aller am erikanischen F irm en produzie ren inzw ischen m ehr als die H älfte der Industriegüter des Landes. Je mächtiger die Trusts werden, des to eher finden sich B undesstaaten, die um deren G u n st w etteifern u n d um de ren G eld. So kom m t es, dass N ew Jersey 1889 ein G esetz erlässt, das a u f seinem G ebiet staatenübergreifende Dachgesell schaften erlaubt: in der Hoffnung, für die Z ulassung derartiger F irm en H u n d e rt tausende D ollar G ebühren zu kassieren. S tandard O il ergreift die C hance und gründet eine solche holding Company namens „Standard O il Com pany o f N ew Jersey“, die fortan die A ktien der E inzel u n ternehm en ganz legal bündeln kann. nterdessen erhalten Rockefellers Züge etwas Reptilienhaftes. Eine m ysteriöse K ra n k h e it h a t ih n n ic h t n u r aller K opfhaare b e raubt, sondern auch B rauen, W im p e rn u n d B art ausfallen lassen. K uren m it P h o sp h o r u n d Schw efel schlagen fehl. Seine H a u t scheint fahler den n je, die A ugen no ch kleiner, der M u n d noch schärfer u nd schmaler. 1897 h at er sich, k reislaufgeschw ächt, aus dem aktiven G eschäft zurückgezogen, m it D iv id en den von zehn M illionen D ollar im Jahr. D afür arbeitet er je tz t m it anderen M itteln an seiner U nsterblichkeit. Schon von seinen ersten E in k ü n fte n h a t er
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V ie le A m e rik a n e r sind s c h o c k ie rt, als sie vo n den b ru ta le n G e s c h ä fts p ra k tik e n R o cke fe lle rs e rfa h re n . 1905 ist er d e r m eistg ehasste M a n n d e r U S A (K a rik a tu r aus dem g le ich e n J a h r)
regelm äßig A lm osen für die B ap tisten kirche abgezweigt, h at die G em einschaft im m er großzügiger beschenkt. G ier u n d Freigebigkeit w aren ihm im m er gleich b erech tig te S eiten seiner „religiösen P flich t“; stets sei er bestrebt gewesen, sagt er, „auf ehrenhafte W eise zu kriegen, was ich k o n n te“, aber auch „zu geben, was ich k o n n te“. D ah er beschließt er, sich m it spek takulären S tiftungen im G edächtnis der W e lt zu verew igen - so w ie M o rg an , V anderbilt u n d C arn eg ie. F ü r eigene Zwecke kann er sein G eld ohnehin kaum noch sinnvoll ausgeben. U n d so spendet er 61 M illio n en D ollar für ein „Rockefeller In stitu te for M edical Research“ in N ew York, steckt bis 1910 etwa 35 M illio nen in die von Baptisten gegründete U niversity o f Chicago. E rrich tet m it A ktien
im W e rt von 50 M illio n en eine eigene Stiftung, die „Rockefeiler F oundation“. 530 M illio n e n D o llar w ird er im L a u f seines Lebens für w ohltätige Z w e cke spenden, 450 M illionen davon allein für die M edizin. So w ird der Staatsver ächter selbst zum Staat: W ie ein Fiskus streu t er sein G eld über das L and. M it dem U nterschied, dass kein P arlam ent über dessen V erw endung w acht. D och all die Caritas kann das wach sende M isstrauen gegen die Trusts nicht bezähm en. 1901 zieht ein erst 42-jähriger, energiestrotzender Republikaner namens T heodore Roosevelt als Präsident in das W eiße H aus ein - und m it ihm erwächst dem 20 Jah re älteren Rockefeller erst m als ein ern sth after G egner. Z w ar h at sich Roosevelt den A usgleich zw ischen B ig B usiness u n d dessen G eg n ern au f
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die F ahnen geschrieben. D o ch zugleich fordert er höhere Strafen für P reisnach lässe bei E isenbahntransporten. E r lässt m indestens 45 A nti-T rust-P rozesse au f den W eg bringen. U n d en tw irft P läne für eine B ehörde, die sich eigens m it den M achenschaften der G roßindustrie befassen soll. D ie Bosse nehm en den K am pf auf: m it ihrer bew ährtesten Waffe, dem Geld. Sie investieren enorme Summen, um den Feind in G ru n d u nd B oden zu spenden, vergebens. U n d als R ockefellers S ohn Jo hn jr. im A uftrag des Vorstands D ro h T elegram m e an sechs tru stfe in d lic h e Senatoren schickt („Unser A nw alt w ird sich m it Ih n e n in V erbindung setzen“), zögert der P räsident nicht, Journalisten davon zu inform ieren. D ie Presse ist ein neuer, w enn auch beargwöhnter Verbündeter in Roosevelts Kampf. E ine neue G eneratio n von R e po rtern, die der P räsident leicht in d ig niert muckrakers nennt, „Schmutzwühler“, w idm et sich dem A ufdecken von Skan dalen u nd verbreitet ihre R echerchen in einem D u tze n d Z eitschriften m it einer G esam tauflage von rund drei M illionen Exem plaren. D ie Jou rn alisten n ehm en sich auch die A llm ach t d er T rusts vor. U n d es ist n ic h t ohne Ironie, dass das Big Business m it seinen überregionalen A nzeigen die schw ellenden H e fte un d w achsenden A uflagen der neuen M aga zinkultur erst m öglich gem acht hat. D as w ichtigste B latt jen er Tage ist „M cC lure’s M a g az in e“. D essen C h e f redakteurin Id a M inerva T arbell ist ein K ind genau der Industrie, die Rockefei ler groß gem acht hat; sie ist die T ochter eines je n e r Ö lförderer, die 1872 u n te r Rockefellers E isenbahnkrieg gegen die K leinproduzenten zu leiden hatten. Im N ovem ber 1902 veröffentlicht sie die erste Folge einer A rtikelserie über die M ach en sch aften der S tan d ard O il Company. Diese Serie m acht Rockefeiler im H andum drehen zum m eistgehassten M a n n der V ereinigten Staaten. D er kann die Anwürfe nicht verste hen. H a t sein W erk n icht m ehr N utzen als Schaden gebracht? Ist er nicht, anders als andere Robber Barons, ohne Gew alt, B etrug u n d A k tie n m an ip u latio n reich gew orden? E r v ertrau t in die m ensch heitsbeglückende K raft seiner M ission.
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E r w ird auch n ich t unruhig, als am 18. N ovem ber 1906 die R egierung der V ereinigten S taaten Klage gegen S tan dard O il o f N ew Jersey u n d 65 von ihr kontrollierte U n tern eh m en w egen A u f baus eines Ö lm onopols einreicht - nicht zuletzt a u f der G ru n d lag e der R ech er chen von Journalisten wie Id a Tarbell.
Es ist der gew altigste K am pf zw ischen R egierung u n d Industrie, den das L an d bis dahin gesehen hat. 21 B undesstaaten von Texas bis C onnecticut beteiligen sich m it Einzelklagen an dem Feldzug gegen S tandard O il. 444 Z eugenaussagen er strecken sich ü ber 21 B ände A k ten m it 21000 Seiten. A ls Rockefeiler m it S tro h h u t u n d Spazierstock zu einer A n h ö ru n g in C h i cago erscheint, m üssen ihn 20 Polizisten m it Schlagstöcken vor der M enge schüt zen. Eiferer greifen nach seinem M antel, reiß en K nöpfe ab. D e r M o g u l sch ein t u n b ee in d ru ck t, v erz ieh t keine M ien e. D ie Fragen des Richters b ean tw o rtet er vage, m it abw esendem Blick, als gingen sie ihn nichts an. A m 15. M ai 1911 um vier U h r nach mittags, nach viereinhalb Jahren Gezerre, verkündet der O b erste G eric h tsh o f die E n tscheid u n g : S tan d ard O il h a t sechs M o n a te Z eit, sich von seinen T o ch ter firm en zu trennen. D ie M an ag er haben keine W ahl: Sie m üssen den K onzern in 34 unabhängige U nternehm en zerteilen. D o ch der Schlag gegen den T ru st erw eist sich als Segen für Big Business u n d fü r Rockefeller. D e n n das U rteil verbietet keineswegs alle C orporations. U nd die Börse, erleichtert über das Ende des K onflikts u n d froher H o ffn u n g au f k ü n ftig e P ro fite d u rc h w a c h se n d e n Autoverkehr, belohnt die einzelnen Stan dard-Oil-Teile m it gewaltigen Kursschü ben. B in n en z e h n Ja h re n v erfünffacht sich der A k tie n w e rt der v ersp ren g ten Firm en. E inige dieser U n tern eh m en gehen selbst aus der Zerschlagung noch als Rie sen hervor. S tandard O il o f N ew Jersey bleibt die g rößte Ö lfirm a der W e lt u n d w ird später zum E xxo n -K o n zern . A us S tandard O il o f N ew York w ird M obil, aus S tandard O il o f In d ian a w ird A m oco u n d aus S tan d ard O il o f C alifornia
Chevron. W ährend des gesamten 20. Jahr h u n d e rts w erd en die N ach fo lg er des Trusts die U S -Ö lin d u strie beherrschen. D eren Z u sam m en h alt bleibt auch nach der T rennung gewahrt: N och lange tre ffe n sich die F ü h ru n g sk rä fte der N ach fo lg eu n tern eh m en je d en M orgen um halb elf zur Koordination in der Z en trale am Broadway. R ockefeiler selbst, dem ein V ierte l der A k tie n des alten T rusts gehörten, b ehält seinen A nteil. U nd sein Vermögen nim m t von 300 M illio n en im Ja h r 1911 a u f 900 M illio nen im Jahr 1913 zu, nach heutiger Kauf kraft etwa 22 M illiarden Dollar. Jetzt ist er m eh r als doppelt so w ohlhabend wie der Stahlkönig A ndrew Carnegie - und der reichste M a n n der W elt. A m 23. M ai 1937, sechs W ochen vor seinem 98. G eburtstag, stirbt Rockefeller an einem H erzinfarkt. Seine Revolution aber, der Sieg des B ig B usiness, w ird den R aum für die big player des 20. und 21. Jahrhunderts schaffen, für m ultinatio nale K onzerne wie Unilever, Nestlé oder V odafone, für Q uasi-M onopolisten wie G oogle u n d A m azon. D er H andstreich eines Genies? Für R ockefeller vielm ehr historische N o t w endigkeit: „D ie Z e it der K onzerne ist an g eb ro ch en “, form ulierte er um 1917. „Der Individualismus ist vorbei und wird nie w iederkehren.“ q Jörg-Uw e A lb ig ,^ . 1960, ist Autor im Team von G E O EPOCHE.
L IT E R A T U R E M P F E H L U N G E N : Ron C hernow, „Titan. The Life o f John D. Rockefeller, Sr.“, Vintage: C hernow bem üht sich in seiner Biografie um ein freundlicheres Porträt des amerikanischen Konzerngründers - ohne je doch die Rücksichtslosigkeit der StandardO il-M achenschaften
auszuklammern.
Die
englische Originalausgabe ist dabei der stark gekürzten deutschen Fassung vorzuziehen. M atthew Josephson, „The Robber Barons: The G reat Am erican Capitalists, 1861-1901“, Transaction: noch im m er lesenswertes Stan dardwerk von 1934, das bei den Räuberbaro nen wie Rockefeller, Carnegie oder Vanderb ilt erstaunliche G em einsam keiten aufzeigt — etwa die H e rkun ft der meisten W irtschafts titanen aus kleinen Verhältnissen und ihren lebenslangen Hang zur Fröm migkeit.
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W eltw irtschaftskrise - 1929-1941
Ein Börsencrash wird zum Auslöser der bis dahin schwersten Krise des Kapi talismus: Im Oktober 1929 brechen die Kurse an der Wall Street ein, taumeln die USA in eine tiefe, schier endlose ökonomische Rezes sion, die fast die gesamte restliche Welt erfasst. Erst eine weitere globale Kata strophe beendet die Große Depression: der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs V on R E Y M E R K L Ü V E R
Die GroJ&i Depression 3 -
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Hunderttausende flüchten aus ländlichen G egenden der USA wie hier aus O klahom a: vor der W irtschafts krise, einer Dürre und vor verheerenden Stürmen, die unzählige Farmen im Staub versinken lassen (1938)
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A
A llzu viel ist von Charles Waynes Leben nicht überliefert. Außer, dass er 57 Jahre alt wurde, Vater von zehn Kindern war und am Ende ein verzweifelter Mann. Es ist ein Frühlingsm orgen im April 1932, als W ayne die Spring Com mon Bridge in Youngstown, Ohio, be tritt. Die Brücke spannt sich m itten in der Stadt über den M ahoning River. Gurgelnd schießt das dunkle Wasser un ter der Stahlkonstruktion hindurch. Youngstown ist eine Industriestadt, wie es sie zwischen den Großen Seen und den Metropolen an der Ostküste der USA zu Dutzenden gibt. Hier schlägt das Herz der Schwerindustrie Amerikas. Überall ragen Schornsteine von Hochöfen und Walzwerken in den Himmel, allerdings quillt nur aus wenigen noch wie früher der Rauch in dicken Schwaden. Hunderte Menschen hasten an die sem Morgen an der gebeugten Gestalt auf der Brücke vorüber. Unbeachtet von ihnen legt Wayne seinen M antel ab und faltet ihn sorgfältig. Er könnte ja noch benutzt werden, von einem seiner Söhne. Vielleicht. Dann springt er. „Wir sollten unser Haus verlieren“, sagt die W itw e später dem Reporter einer Lokalzeitung. Unter Schluchzen erzählt sie, dass die Familie finanziell am Ende war. Sie sollten ihr Häuschen verlassen, wie so viele, die schon seit M onaten die R atenzahlungen nicht mehr hatten leisten können, Gas und Strom sollten ihnen abgedreht werden. 27 Jahre lang hatte ihr M ann, Stahlkocher, ohne Fehl und Tadel am Hochofen der Republic Iron and Steel Company geschuftet, einem der großen Arbeitgeber in der Stadt. Dann hatten sie ihn entlassen, 1930, als die Aufträge
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wegbrachen. Zwei Jahre hatte W ayne nun schon keinen Job mehr. Arbeit war nirgendwo zu finden. Charles W ayne wusste nicht mehr weiter. Am Ende ist er noch ein paar Züge geschwommen, dann hat ihn der M aho ning River verschluckt. Oder, richtiger: Dann hat ihn die Große Depression ver schlungen, die tiefste und die am längs ten anhaltende W irtschaftskrise, die Amerika und die W elt je erfasst hat. Ihn verschlungen, wie so viele andere auch. Youngstown, zwischen Pittsburgh und Cleveland gelegen, war lange Zeit eine Boomtown. Die Stadt produzierte den Stoff, der in den Jahrzehnten zuvor den Aufstieg der U SA zur größten In dustrienation der W elt möglich gemacht hatte: Stahl. Was man dazu brauchte, lagerte nicht weit entfernt, Kohle, Eisen erz, Kalkstein. Geld war da, und Arbeit. Die Stadt wuchs rasant. 1927 über traf die Produktion in Youngstown sogar die der alten Stahlmetropole Pittsburgh. Um 1900 hatten 45 000 Menschen in der Stadt gelebt - bis Ende der 1920er Jahre stieg die Einwohnerzahl auf 170 000. Die Schornsteine rauchten. Youngstown war wie die USA, aufstrebend, prosperierend, kraftstrotzend. Doch dann kam es zum Börsen crash von 1929 und der anschließenden Wirtschaftskrise. Und jetzt: blanke Not. Die Stahlfabriken haben große Teile ihrer Belegschaften entlassen, gut 10 000 M ann; Kündigungsschutz oder ein Arbeitslosenversicherung kennt das Land nicht. Der A llied Council, ein Zusam menschluss örtlicher Wohlfahrtsorgani sationen, versorgt inzwischen etwa ein Drittel der Bevölkerung der Stadt. Viele Familien leben nur von M ehl, mit W as
ser angerührt und in einer Bratpfanne angedickt. In langen Schlangen stehen die Leute vor der Lebensmittel-Ausgabe stelle des Council in der Innenstadt. Auch vor der Suppenküche der St. Columba Cathedral, einer von mehreren in der Stadt, warten jeden Tag 500 M en schen, stundenlang. Helfer löffeln Suppe in mitgebrachte Kannen, pro Familie gibt es einen Laib trockenes Brot. Vor dem Rathaus stehen jeden Morgen 500, manchmal 1000 Arbeitslose, stille, aus gemergelte Gestalten, die Schiebermütze ins Gesicht gezogen, auf der Suche nach einem Gelegenheitsjob. Frauen, die Kinder am Rockschoß, betteln um Essensreste. Stillende Mütter suchen m it ihren Babys auf dem Arm Zuflucht auf Polizeiwachen und bitten um Unterkunft, weil sie sich nicht mehr zu helfen wissen. Raubüberfälle und Morde nehmen zu. Abends ist es gefähr lich, sich auf die Straße zu wagen. M än ner von einer städtischen Obdachlosen unterkunft, die Lebensmittelspenden für ihre Gemeinschaftsküche abholen, brau chen Polizeischutz. Im W inter öffnet der Bürgermeister von Youngstown sogar die Hallen der örtlichen Müllverbrennungsanlage für die Massen der Obdachlosen. Zu Hun derten schlafen sie dort auf Müllbergen, aber warm ist es jedenfalls. Und es sind keineswegs nur die heimatlosen Tramps, die sich immer schon in Städten wie Youngstown herumtrieben. Vielmehr verbringen hier Männer die Nacht, die nach Jahrzehnten harter körperlicher Arbeit Job und Wohnung verloren haben. Oder Angestellte, die vor nicht einmal Jahresfrist noch in Anzug, mit Hut, Hemd und Krawatte ins Büro
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zeugen fortgeschafft werden. D er W ach dienst trägt W affen. R echtsanw alt R o th n o tiert in sein Tagebuch, dass er nun kein K onto m ehr besitzt. Seine E in n ah m en sind o h nehin fast versiegt. K aum je m an d k ann sich noch juristischen B eistand leisten. E in mal nim m t er ganze 18 D ollar im M o n at ein; selbst m it einem solchen Verdienst geht es ihm noch besser als den m eisten seiner Kollegen in der Stadt. Vor dem A bsturz hatte das D u rc h sc h n ittse in k o m m e n in O h io fast das
Auf dem Land ist die Not meist noch größer als in den Städten
V ierfache im M o n a t betragen - R echts anwälte haben verm utlich noch deutlich m ehr verdient. „D er Pessim ism us g eh t im m e r tie fe r“, k o n s ta tie rt R o th im H erbst 1931, und ein paar M onate später, noch ehe Charles W ayne von der Brücke in d en T o d sp rin g t: „Es w ird lange dauern, diese D inge zu vergessen.“ E r soll rech t behalten. D e n n alles w ird nur noch schlim m er kom m en. oungstowns Geschichte ist die G eschichte der U SA . So wie die einstige B oom tow n ver sinkt das ganze L an d in der D epression, der schw eren W irtsc h a fts krise. W o m an auch hin sch au t, überall h errsch t N o t. In den g ro ß en Städten:
N ew York m eldet Tausende unterernähr ter S ch ulkinder, in D e tro it entlassen die A utofabriken A rbeiter zu Z eh n tau senden, fast jeder Zw eite dort h at keinen Jo b m ehr. In C h icag o sieh t es n ich t anders aus. D er B ürgerm eister w arnt im U S-K ongress vor H ungerrevolten. U n d a u f dem L a n d ist es m eist n och schrecklicher. In den bitterarm en Siedlungen der Kohlereviere von W estV irginia brechen T yphus- und D ip h te rie -E p id e m ie n aus, zah lreich e Babys sterben an D u rch fall. V iele F arm er in den W eiten des M ittleren W estens und der G re a t P lains, in O k lah o m a, Iowa, N ebraska, den D akotas, sind pleite, ru i niert durch einen jahrelangen Preisverfall - und schließlich durch die W idrigkeiten der N atur: E in e hartnäckige D ü rre hat das agrarische H erzland der U SA erfasst und beschert den Farm ern eine M issern te nach der anderen. R u n d um den W esten des Staates O klahom a k o m m t zur T rockenheit eine weitere zerstörerische N aturkraft hinzu: Gewaltige Stürm e jagen über den ausge trockneten Boden, fegen die fruchtbare Ackerkrum e fort. So mächtig werden die schmutzigen W inde, dass der Staub selbst noch in N ew York den H im m el verdun kelt u n d den Schnee in N euengland rot färbt. D ie F arm häuser verkom m en, im W in te r fegt der eisige Präriew ind durch R itzen in den W änden. D ie K inder sind in L u m p e n g eh ü llt, v erd reck t, o hne Schuhe, weil ihre E ltern dafür seit Jahren n ich t einen D ollar übrig haben. W eiter im W esten, in Kaliforniens fruchtbaren Farmtälern, kampieren H u n d erttau sen d e W an d erarb eiter, m anche schlafen unter freiem H im m el. Viele sind aus den au sgetrockneten G re at Plains h ie rh e rg e zo g e n in d er H o ffn u n g au f ein en T agelöhnerjob a u f den Feldern. D ie Southern Pacific Railroad berichtet, in einem einzigen M o n a t 80 000 blinde P assagiere von ih ren G ü terz ü g en g e scheucht zu haben. Von den etw a 120 M illionen U SA m erikanern haben zwei M illionen kein D ach m eh r ü ber dem Kopf. U n d jeder V ierte im erw erbsfähigen A lter ist ohne ein geregeltes E inkom m en, angewiesen au f S uppenküchen und A rm enspeisun gen u n d die spärliche öffentliche Hilfe. W eil die m eisten dieser A rb eitslo sen
W eltw irtschaftskrise
gingen. Schw arze, die au f ein besseres Los jenseits der Baumwollfelder des Sü dens gehofft hatten. Einwanderer, die ihr G lück in der N euen W elt suchten. „Jeder E in zeln e eine persönliche Tragödie“, notiert Joseph H effernan, der B ü rgerm eister von Y oungstow n, „und alles zusam m en ist es eine K atastrophe.“ N eu ist, dass auch die M ittelschicht leidet. Fam ilienväter, die in der H o c h konjunktur der 1920er Jahre so viel ver dient hatten, dass sie sich ein A uto und eigene vier W ände leisten konnten. „Viele L eu te in g u te n H ä u se rn “, schreibt der Youngstowner Rechtsanwalt Benjamin Roth in sein Tagebuch, „haben nichts m ehr zu essen un d keine K ohle m ehr zum H eizen. A ber sie sind zu stolz, sich etwas anmerken zu lassen.“ Ih r Haus verlieren sie w om öglich dennoch - weil sie die Raten nicht m ehr zahlen können. D e r S h eriff lässt G ru n d stü ck e zu D u tz e n d e n versteigern, u m zum in d est ein en T eil der aufgelaufenen S te u e r schuld der E igner einzutreiben. M anche H ausbesitzer reiß en ihre G ebäude ab, weil ihre M ieter schon lange nicht m ehr zahlen un d sie selbst die Steuer für die Im m obilien nicht aufbringen können. A n d ere n eh m en ih r letztes G eld und brechen nach K alifornien auf. „Sie m achen einen Fehler“, m erkt B enjam in R oth an, „sie w erden überall die gleiche Situation vorfinden.“ P anik m acht sich breit. D ie F irm a Truscon Steel, eines der w ichtigsten U n ternehm en der Stadt, zahlt ihre verblie benen B eschäftigten m it Schecks einer großen N ew Yorker B ank aus, aber die ö rtlichen G eldhäuser w eigern sich, sie einzulösen - aus Furcht, die fremde Bank k ö nnte in d er Z w isch e n ze it b a n k ro tt gehen, so w ie H u n d e rte andere in den letzten W ochen. Bald stehen auch die lokalen B anken vor der Pleite. Schon um vier U h r morgens laufen Z eitungsjungen T ag für T ag durch die S traß en m it den neu esten H io b sb o t schaften. N ervöse S parer belagern im H erb st 1931 die F ilialen, um ih r G eld abzuheben. T atsächlich h alten drei der fü n f B anken von Y oungstown dem A n sturm nicht stand und müssen schließen. 2000 M enschen ström en zusam m en, als die letzten D ollarbestände der abgew i ckelten C ity B ank in gepanzerten F ahr
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Fam ilienväter sind, ist verm utlich ein Viertel der U S-B evölkerung betroffen: 30 M illionen M enschen brauchen Hilfe, nur um zu überleben. „Eine Tragödie für ganz A m erika“, schreibt Youngstowns B ürgerm eister H effernan in der Z e it schrift „Atlantic M onthly“, „das Spekta kel eines nationalen Zerfalls.“ T atsächlich b rin g t die K rise die U SA an den Rand des A bgrunds - und zugleich das System, das diesem L and in dem halben Jahrhundert zuvor einen nie gekannten W ohlstand beschert u nd es zur größten W irtschaftsm acht der W elt gem acht hat: den Kapitalismus. D ie W arteschlangen vor den Sup penküchen und die schweigenden M as sen der Arbeitslosen in den Straßen der Städte, die Heerscharen der H ungernden und H eim atlosen auf dem L and stellen n ic h t einfach nu r den E rfo lg dieser W irtschaftsordnung infrage: D er N ie dergang in großen Teilen der W elt treibt das System , g u t 600 Ja h re nachdem Kaufleute in Italien das Prinzip von In vestition und Profit erkannt haben, an die G renzen seiner Existenz. Die G roße Depression in den USA, die sich bald zu einer W eltw irtschafts krise ausw ächst, ist die bis d a h in schwerste Krise des Kapitalismus. ir ts c h a f ts k r is e n sin d nichts Neues. Sie beglei ten den Ind u striek ap i talismus seit jeher. M an ch en K ritik e rn w ie dem d e u tsch e n Philosophen Karl M arx erscheinen sie gar als unvermeidbarer Teil des Systems. A nders sehen dies die Ö konom en der „Neoklassischen Schule“, wie etwa der E n g län d er A lfred M arsh a ll oder der A m erikaner Irving Fisher, die seit den 1880er Jahren den T on angeben. Sie sind davon überzeugt, dass sich im Kapitalismus stets ein Gleichgewicht einstellt, solange die Kräfte von A ngebot und Nachfrage frei wirken. Krisen kann es dem nach nur geben, w enn von außen in dieses perfekte System eingegriffen wird, wenn etwa Gesetze die freie Preisbildung behindern oder N otenbanken den Z ins satz für Kredite zu niedrig ansetzen. T atsächlich h at die R ealität diese Überlegungen bislang nicht grundlegend widerlegt. Als etwa im Jahr 1857 der Z u-
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Zwei Koffer und eine Zeltplane, aufgespannt in einem kalifornischen Camp arbeitsloser Landarbeiter: Viel mehr ist der jungen Mutter und ihren vier Töch tern nicht geblieben auf der Flucht vor dem Elend der Krise
sam m enbruch der O hio Life Insurance and T rust Company, einer großen Bank in C incinn ati, in einem D om inoeffekt allein in den U SA 5000 F irm enpleiten auslöste und eine w eltweite D epression nach sich zog, war der N iedergang nach zwei Jahren wieder überw unden. 1873 folgte ein w eiterer w eltu m spannender E inbruch (erneut ausgelöst durch die P leite eines am erikanischen G eldinstituts). Es dauerte diesmal etwas länger, aber 1879 war auch diese Krise de facto vorüber, u n d bald d arau f begann w ieder eine zunächst m oderate, später kräftige globale W achstumsphase. W eitere Rezessionen, Abschwünge, folgten, vor allem im Ja h r 1920, aber schon bald d arau f ging es ern eu t steil nach oben. Es waren die „Roaring Twenties“, die die gesam ten U S A m it sich rissen u nd in einen nie da gew esenen W ohlstandstaum el versetzten. Im D u rc h sc h n itt w uchs die U SW irtschaft in dieser Z eit jährlich um 4,2 Prozent. Es war, wie es Benjam in R oth, der Rechtsanw alt in Youngstown, rück blickend in seinem Tagebuch festhielt, „unwirklich und fast nicht zu glauben eine hektische Spirale nach oben“. D e n n o c h gab es, in m itte n von Wachstum, Glanz, Euphorie, schon H in weise auf drohendes U ngem ach: Für die U S -F arm er zum Beispiel w aren bereits die 1920er Jahre eine schwierige Dekade. Im Ersten W eltkrieg h atten A m e rikas Bauern nicht nur den heim ischen M ark t beliefert, sondern auch die A lli ierten in Europa versorgt - und ihre Pro du k tio n gew altig erh ö h t. Schon bald nach dem Krieg aber drängten die euro päischen Landwirte m it ihren Produkten wieder au f den W eltm arkt. Es herrschte Überangebot, das die Preise für Getreide und Fleisch einbrechen ließ. D as E in
kommen vieler Farmer ging zurück. U nd selbst in einigen B ranchen der U S -In dustrie gingen, trotz der H ochphase der nordamerikanischen W irtschaft, zahlrei che Jobs verloren. Seit M itte der 1920er Jahre verzeichneten die A utobauer, Schlüsselin dustrie des Aufschwungs, zudem im m er geringere Zuw achsraten. D ie Z ahl der neu gebauten H äuser war sogar rückläu fig. In Florida platzte 1926 nach einem H u rrik a n eine Im m obilienblase - die Stadt M iam i war fast ganz zerstört wor-
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den, bis dahin ohnehin zu hoch gehan delte Grundstücke verloren von einem Tag auf den anderen ihren Wert. Nun brach das regionale Bankgeschäft ein. Dort war der wilde Tanz der Roaring Twenties eigentlich schon vorbei. Aber solche Warnzeichen wurden übersehen. Das Leben beschleunigte sich immer noch rasend, überall, in der Tech nik, in der Musik, in der W irtschaft, an den Börsen. In den Köpfen setzte sich die Ge wissheit fest, in einer „neuen Ära“ zu
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leben, wie der 1928 gewählte U S-Präsident Herbert Hoover sagte: „W ir in Amerika sind dem endgültigen Triumph über die Armut näher als jedes Land jemals zuvor in der Geschichte.“ Tatsächlich war es eine Zeit gewal tiger Umbrüche und Fortschritte, viel fach vorangetrieben durch die Dynamik des Kapitalismus: Die Entdeckung des elektrischen Stroms für den Alltag lag noch kein halbes Jahrhundert zurück, die Erfindung des Automobils noch weniger. Der Film war erfunden worden,
und erst in den Jahren zuvor war das Radio aufgekommen. Frauen hatten das Wahlrecht erhal ten, und ihre Kleider wurden immer kür zer, je selbstbewusster sie wurden. JazzRhythmen revolutionierten die M usik und Konsumentenkredite das Verbrau cherverhalten: Auf einmal waren einstige Luxusgüter wie Autos oder Kühlschrän ke oder neue Produkte wie Radios er schwinglich. Und an der New Yorker Leitbörse an der Wall Street schossen die Kurse seit 1927 in nie gesehene Höhen.
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Es schien, so schrieb B enjam in Roth, als hätten sich „alle entschlossen, ein Vermögen zu m achen, indem sie an der Börse spekulierten, u nd zw ar au f P u m p “. Z w ar hielten 1929 nur knapp zwei M illionen A m erikaner A ktien allerdings w aren dies bedeutend m ehr als noch im Jahr zuvor.
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D och es w urde im m er deutlicher, dass die Spekulationswelle m it den w irt schaftlichen Realitäten Amerikas nichts mehr zu tun hatte. Eine Blase überbewer teter A ktien hatte sich gebildet, und die musste platzen, wie die meisten Blasen. Eine Krise würde irgendwann kom men, das war vielen Ö konom en klar.
er große C rash kündigt sich wie ein U n w etter an - m it einem leichten G rollen: A n der N ew Yorker Börse bre chen im September 1929 die Kurse über raschend ein. Sie erholen sich schnell, bleiben aber in den folgenden W ochen ungew öhnlich schwankend.
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Für den höchsten Lebens standard der Welt rühmt dieses Plakat die USA 1937 - eine ungeheure Frivolität im achten Jahr der Wirtschaftskrise. Denn auch hier in Louisville, Kentucky, herrscht noch immer die Depression; der Staat ist einer der ärmsten in den USA
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W eltw irtschaftskrise
D ann folgt Donnerschlag auf D on nerschlag: A m 23. O ktober sacken die Kurse erneut massiv ab. A m nächsten Tag, einem Donnerstag, müssen die Bör senmakler an der W all Street bereits am M orgen eine Flut von Verkaufsaufträgen ängstlicher A nleger bearbeiten. P anik m acht sich breit. Zw ar steigen die Kurse
am E nde des Börsentages wieder, doch der „Black T hursday“ h at das Vertrauen der Anleger in den Aktienm arkt zerstört. N ach einer kurzen A tem pause in den nächsten Tagen geht der Kursverfall weiter. Volle zwei W ochen lang. D an n sind 26 M illiarden D ollar verloren - ein D ritte l der B örsenw erte, die noch im Septem ber in den Büchern standen. W as die Panik genau ausgelöst hat, ist bis h eu te n ich t klar. E in d e u tig ist jedoch, dass die in den M o n aten zuvor aufgeheizte S tim m u n g von G ier u n d fiebriger Gew innsucht auf einmal um ge schlagen ist in A ngst und Ungewissheit. V iele A nleger h atten A k tien auf K redit g ek au ft, m it d en erw o rb en en W ertp ap ieren als einziger S icherheit. Sobald die Kurse eine bestim m te M arke unterschritten und die Aktien nicht mehr zur Kreditabsicherung ausreichten, muss ten sie die D arlehen zurückzahlen und dafür ihre Papiere wieder abstoßen - was den A bw ärtstrend noch verstärkte. N och nie, m erkt der Youngstowner B enjam in R o th in seinen N o tizen an, habe er „so viele schw itzende und lei chenblasse M enschen“ gesehen wie nach dem Crash. „Selbstmorde und Bankrotte waren an der Tagesordnung.“ Gewiss, der A bsturz ist heftig. Aber es g ib t eig en tlich k ein en A nlass zu glauben, dass nun etwas anderes als die übliche T alfahrt nach einer geplatzten Börsenblase beginnen w ird. N ach dem Boom folgt eben der Abschwung. U S-Präsident H oover stellt am Tag nach dem g roßen C rash fest, dass die nordam erikanische W irtsch aft au f soli dem F undam ent ruhe. N iem and w ider spricht. U n d h at n ich t die G eschichte bislang auch gezeigt, dass eine B örsen krise nicht notwendigerweise voll auf die übrige W irtsch aft durchschlagen muss?
D ie „New York Tim es“ sieht in dem E inbruch eine gesunde K orrektur nach einer „O rgie der Spekulation“. Für die Z eitu n g ist die T o p -S to ry des Jahres nicht der Crash, sondern die A ntarktisExpedition des amerikanischen Polarfor schers Richard Byrd. Tatsächlich aber wird die U S-W irtschaft in den folgenden Jahren von einer nie da gewesenen wirtschaftlichen Kata strophe erfasst: einem N iedergang, bei dem sich m ehrere K risenphänom ene gegenseitig verstärken und sich unglück liche U m stände, ökonom ische G esetz m äßigkeiten sowie wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen tragisch verketten. Im m er w eiter sinken die A k tien kurse, bis sie erst im Som m er 1932 zum Stillstand kommen. Zugleich schrumpft die W irtschaft der U SA massiv: Bis zum T iefpunkt der Krise im Jahr 1933 nim m t das Bruttoinlandsprodukt, also der W ert aller hergestellten W aren und Dienstleis tungen, um ein D rittel ab, die Industrie produktion gar um 47 Prozent. D ie L öhne sinken, der S tahlkon zern US Steel etwa k ü rzt die Bezüge seiner M itarbeiter au f einen Schlag um zeh n P rozent, der A utobauer G eneral M otors zieht nach. Unzählige U nterneh m en gehen bankrott. D ie A rbeitslosigkeit erreicht nie gekannte H öhen: Anfang 1932 sind zehn M illio n e n M e n sch e n o hne Job, fast 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Viele sind nur noch in Teilzeit beschäf tigt. Ö konom en w erden später ausrech nen, dass zeitweilig bloß gut die H älfte aller Erwerbstätigen eine volle Stelle hat. Schon bald w ird aus einer Rezes sion, einem A bsch w u n g im R ahm en des norm alen K onjunkturverlaufs, eine Depression: ein lang andauernder N ie dergang m it gewaltigen Ausmaßen. A uch die U S -B anken stürzen in einen Krisenstrudel, der sich angekündigt h at durch die Z ahlungsunfähigkeit von im m er m ehr ihrer Kunden. Ab N ovem ber 1930 breiten sich mehrere Panikwel len unter den Kontoinhabern der unzäh ligen m eist kleinen G eldhäuser aus wie eine ansteckende Epidemie. Z u Tausenden stürmen verängstigte M enschen die Schalterhallen, um ihre E rsparnisse zu retten. D o ch m ehr als 20 P ro zen t aller B anken haben nicht
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genügend Reserven und müssen am Ende den B ankrott erklären un d schließen. Schnell w ird aus der W irtsc h a fts katastrophe der U SA eine globale Krise. W eil am erikanische In v esto ren kaum noch G eld im A usland anlegen, w erden auch die dortigen V olksw irtschaften ge troffen. A m stärksten leidet Deutschland, das von den K rediten aus Ü bersee in besonders h ohem M a ß e abhängig ist. D ie Arbeitslosigkeit liegt dort schon bald h öher als in jedem anderen Land: 1932 haben 43,7 P rozent aller arbeitsfähigen D eutschen keinen Job. A uch G ro ß b rita n n ie n erlebt eine D epression, ebenso Japan. Fast alle I n dustrienationen w erden heftig getroffen. D er Rückgang in der Produktion in den Jahren der Krise ist erschreckend. B el gien: m inus 30,6 P rozent. F rankreich: m inus 31,3 P ro zen t. Italien: m inus 33 P rozent. N iederlande: m inus 37,4 P ro zent. Kanada: minus 42,4 Prozent. Polen: m inus 46,6 Prozent. In zunehm ender Verzweiflung kün digt nun G ro ß b rita n n ie n , bald gefolgt von w eiteren L ändern, eine bislang gel tende internationale Ü bereinkunft über die w eltw eiten W echselkurse auf, den „Goldstandard“. In diesem System haben die W ä h ru n g e n aller te iln e h m e n d e n Staaten einen festen Kurs zum G old und dam it auch zueinander. D as verein fach t den W e lth a n d el u n d internationale K apitalbew egungen, denn G eld kann je d erzeit ohne großes Schwankungsrisiko transferiert werden. Z u den wichtigsten Regeln des Sys tem s gehört, dass die Z entralbank eines Landes die Z insen erhöhen muss, w enn K apital u nd dam it auch G o ld ins A u s land abfließt - um auf diese W eise neues G eld anzulocken. N u r so kann sie für ausreichende G oldreserven sorgen. A ufgrund dieser starren Regeln ste hen der Regierung eines G oldstandardLandes einige In stru m en te der K risen bekämpfung nicht zur Verfügung: W eder kann sie in einer solchen S ituation die W ährung ihres L andes kurzerhand ab werten, um Ausfuhren zu verbilligen und so die E x p o rtin d u strie zu stim ulieren, noch kann sie die Zinsen für die Vergabe von K rediten senken u nd durch die in der Folge vergrößerte G eldm enge der B innenw irtschaft Im pulse geben.
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Als G roßbritannien vom G oldstan d a rd a b g e h t u n d d a m it das P fu n d abw ertet, h ilft das der V olksw irtschaft im Inselreich tatsächlich. D ie Regierung in W ashington kann sich allerdings nicht dazu d u rch rin g en , d en G o ld sta n d a rd aufzugeben u n d so die S ta b ilitä t der eigenen W äh ru n g zu gefährden. A uch sonst u n tern im m t U S -P räsid e n t H e rb e rt H o o v er lange Z e it n u r w enig. In der B o o m -P h ase der 1920er Jahre hat er sich als H andelsm inister den R u f eines M achers erw orben, dem alles
Millionen verlieren ihren Job. Und das Land den Optimismus
gelingt. N ich t zuletzt deshalb haben ihn die A m erikaner 1928 als G aran ten ihres W o h lstan d s zu m S taa tso b e rh a u p t g e wählt. D och in der Krise ruft er zunächst nu r die A rbeitgeber unverbindlich auf, von L ohn k ü rzu n g en abzusehen; zudem appelliert er an lokale Politiker, ö ffen t liche A ufträge beschleunigt zu erteilen. D ie Z u rü ck h altu n g h a t M eth o d e. D e n n die M e in u n g in W a sh in g to n b estim m en n o ch im m er M ä n n e r w ie F inanzm in ister A n d rew M ellon, die in Z e ite n der Krise n u r eine h arte w irt schaftspolitische Form el kennen: „Lasst alles zugrunde g eh en “, so M ello n , „die A rbeitsplätze, die A k tien , die Farm en, d en Im m o b ilien b e sitz . D as w ird die Fäulnis aus dem System treiben.“
Als sich die Lage w eiter verschärft, reagiert H oover 1931 doch noch. A ller dings o rdnet er nur das an, was die tra ditionelle ökonom ische Lehre jener Z eit in einer K risensituation em pfiehlt: E r lässt die S teuern erhöhen. So will er ein drohendes H aushaltsdefizit ausgleichen und das Vertrauen ausländischer Anleger w iederherstellen. D e n n dam als gilt ein ausgeglichener H aushalt als sichtbarstes Z eichen ökonom ischer Verlässlichkeit. D ie K o n ju n k tu r indes b elebt die M aß n ah m e nicht im G eringsten. eute“, notiert Benjamin Roth am 31. D ezem b er 1932 in seinem Tagebuch, „geht das schw ierigste u n d düsterste Jah r m einer Karriere zu E nde. D ie A us sichten für 1933 sind nicht viel besser.“ In Y oungstow n ist n u n jede vierte Fam ilie von der Versorgung durch Sup p en k ü ch en u n d L eb en sm ittelsp en d en abhängig. D ie Preise in den G eschäften der Stadt, die noch nicht ban k ro tt sind, fallen im m er w eiter: „H eu te bek o m m t m an für einen D ollar so viel wie für drei vor nur zwei Jah ren .“ D o ch was n ü tzt es, w enn m an kein G eld hat? R oth verdient kaum noch e t was. A m T ag vor Silvester h atte er fü n f K lienten, aber keiner kon n te auch nur einen C e n t zahlen. „Alles stagniert, es g ib t kein Z eichen der Verbesserung.“ D ie einst so optim istischen A m e rik an e r h ab en jed es V ertrauen in die Z u k u n ft verloren. D as ist die vielleicht sch lim m ste psychologische Folge von C rash u n d Krise für die M enschen: D ie U SA w irken wie gelähm t. N ic h t einm al die am erikanischen K om m unisten, die die D epression je tzt als Z erfallsze ich e n des K apitalism us zelebrieren, haben großen Zulauf. In der A rbeiterstadt Youngstown versuchen sie vergebens, die A rbeiter und Arbeitslosen zu mobilisieren. E ine groß angekündig te K undgebung verläuft sich. Im M ä rz 1933 erreich t der w irt sch aftlich e A b stu rz A m erik as seinen tiefsten P unkt. Es ist aber zugleich auch der B eginn einer politischen W ende. D ie Veränderung kom m t m it einem neuen P räsidenten. F ranklin D . Roosevelt zieh t am 4. M ä rz 1933 ins W eiße H au s ein - ein zupackender, tro tz einer
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Hunderttausende Familien leben von der Wohlfahrt,
L ähm ung in den B einen stets O p tim is m us v ersp rü h en d er M a n n , der seinen L and sleu ten n un vor allem eines ver spricht, was sie bei seinem V orgänger vermisst haben: action. U n d er hält W o rt. In n erh alb von 100 Tagen ringt Roosevelt dem Kongress eine R eihe von N o tm a ß n a h m e n zur Ü berw indung der Krise ab, die ihm seine Berater vorgeschlagen haben - ein Kreis von W irtschaftsprofessoren und anderen Fachleuten. E in G esetz stabilisiert die Banken: Alle Geldhäuser, die von einer A ufsichts behörde als solide eingeschätzt w urden, werden von der Z entralbank m it zusätz lichem G eld versorgt u n d dürfen nach einer von Roosevelt verordneten Schlie ßung aller Institu te w ieder öffnen. Eine weitere Verordnung w eicht die P ro h ib itio n auf, indem sie zu m in d est Bier m it 3,2 Prozent A lkoholgehalt w ie der zulässt u nd dem Staat neue Steuer einnahm en verschafft (ohne die W ir t schaft w eiter abzuwürgen).
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E in d rittes G esetz b ew ah rt H u n derttausende von H auseigentüm ern, die m it ihren R atenzahlungen in R ückstand waren, vor der Zwangsversteigerung ihres Eigenheim s (nach 250 000 Versteigerun gen im Jah r zuvor). A m w ich tig ste n ab er d ü rfte der psychologische E ffek t dieser 100 Tage sein. Sie stellen wieder her, was A m erika seit dem Börsencrash so gründlich ver loren hatte: das V ertrauen in das eigene W irtschaftssystem . Es ist, wie Roosevelt es selbst nennt, ein „New D eal“, eine „Neuverteilung der K arten“ für die A m erik an er - u n d zu gleich eine A rt R ettungsprojekt für den K apitalism us in den U SA . T atsächlich beginnt die W irtsch a ft schon im zw eiten Q u artal 1933, erstmals seit Beginn der Krise wieder zu wachsen. U n d m it staatlichen G roßprojekten, die sein V orgänger noch abgelehnt hat, h o lt Roosevelt Bedürftige von der Straße, um überall im L and Straßen, Flughäfen oder Staudäm m e zu bauen.
warten täglich auf die Essenszuteilung in den öffentlichen Suppenküchen. Hier hilft die spätere Präsidentengattin Eleanor Roosevelt 1932 bei einer Armenspeisung
U m all das zu finanzieren, will der P räsident Kredite aufnehm en, die Z in s zahlungen dafür allerdings sollen durch Steuererhöhungen gedeckt werden. F ür die S tim m u n g der N atio n ist das offenkundig äußerst heilsam. „M eh rere T ausend arbeitslose M ä n n er haben h eu te die R äu m e des A llied C o u n cil gestürm t. W o h l tausend w erden sofort A rb e it b ek o m m en “, ju b ilie rt R e ch ts anw alt R o th in Youngstown. In den gesam ten U SA finden allein 1933 m ehr als drei M illionen Amerikaner zum indest zeitweise einen Job in einem der Regierungsprogram m e.
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D o ch Roosevelts psychologische Stärkungen bringen noch keine nachhal tige Besserung. 1937, ein Jahr nachdem der Präsident m it überw ältigendem E r gebnis erneut gew ählt w orden ist, neh men die Arbeitslosenzahlen sogar wieder zu. Die Krise ist immer noch nicht über w unden. Selbst ein w eiteres, drei M il liarden D ollar um fassendes B eschäfti gungsprogramm, nun nahezu vollständig durch Kredite finanziert, verpufft. D ie K onjunktur lahm t weiter. U nd so wird erst ein zutiefst destruktives E r
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eignis die U S -W irtschaft retten und die Krise beenden: der Zw eite W eltkrieg. D enn schon kurz nach dem Ü b er fall D eutschlands au f Polen 1939 w ird Roosevelt klar, dass sich die U SA nicht au f D auer vom Krieg w erden fernhalten können. E r setzt W affenlieferungen an die B riten durch und plant A ufrüstung in großem Stil. D ie R üstungsausgaben verzehnfachen sich innerhalb eines Jahres auf m ehr als 20 M illiarden Dollar. Das wirkt wie ein gigantisches Kon junkturprogram m . M it der K riegspro
duktion setzt endlich die ersehnte w irt schaftliche Erholung ein. G erade Stahl städte wie Youngstown profitieren von der Aufrüstung. N un rauchen wieder alle Schornsteine, bald herrscht nahezu Voll beschäftigung, und die L öhne sind gut. „Die W irtsc h a ft boom t. Sheet & Tube Co. sind sogar zu theoretisch 107 Prozent ausgelastet“, schreibt Benjamin Roth am 24. April 1941 in sein Tagebuch. D ie L eute spüren, dass der Krieg kommt, und stecken die frisch verdienten Dollar lieber gleich in den Konsum. „Die
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Diese A ngestellten einer Beschäf tigungsagentur können kaum mehr tun, als die Daten der A rb e it suchenden entgegenzunehm en denn es g ib t keine freie Stellen: 1932 sind zehn M illionen A m e rika ner ohne Job. Die W u ch t der Krise stellt die gesamte kapitalistische W irtschaftsordnung infrage
Frauen laufen in die Läden“, beobachtet Roth, „um sich mit Seidenstrümpfen, Bettwäsche und Kleidern einzudecken.“ A utohändler machen R ekord umsätze, M öbel werden angeschafft, Kühlschränke, Radios. „Die W irtschaft schnurrt mit Höchstgeschwindigkeit“, notiert der Jurist am 9. Juli 1941. Es ist eine nachhaltige Entwick lung, die viele Jahre anhält. Auch nach dem Krieg prosperieren die USA. Zwar hat der Staat sich während des Konflikts stark verschuldet - rund die Hälfte der
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o endet die bis dahin tiefste, längste und dramatischste Krise in der Geschichte des Kapitalis mus auch in den USA. In fast allen anderen Ländern hat die Erholung sogar schon früher eingesetzt. M it Großbritanniens W irtschaft ging es seit der Aufgabe des Goldstan dards 1931 bergauf, in D eutschland brachte das nationalsozialistische Regime seit M itte der 1930er Jahre durch die massive Aufrüstung des Landes M illio nen Arbeitslose in Lohn und Brot. Doch etwas hat sich fundamental gewandelt: Die Krise hat die Menschen durch die Not, die sich bis weit in die M itte der Gesellschaft ausbreitete, in Fassungslosigkeit versetzt. Und sie hat nachhaltig den Glauben daran erschüttert, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung sich grundsätzlich selbst zu regulieren vermag: dass sie sogar in Zeiten des Niedergangs irgendwie,
Washington unternimmt lange Zeit zu wenig gegen das Drama
Weltwirtschaftskrise
Rüstungsausgaben wurden durch A n leihen finanziert, also de facto durch Kredite von Privatbürgern und Institu tionen an den Staat - , doch vor allem der private Massenkonsum, der sich nach den kargen Kriegsjahren unter anderem auf Autos, TV-Geräte und Häuser rich tet, erzeugt einen gewaltigen, lang anhal tenden Nachfrageboom. Zudem bleibt durch den aufkom menden Kalten Krieg der US-Militäretat hoch, die Rüstungsproduktion schafft weitere Jobs. Dank der stetig steigenden Steuereinnahmen sinkt die Staatsver schuldung. Nun sind die USA unange fochten das reichste Land der Welt. Auch bei Benjamin Roth stellt sich wieder der Erfolg ein. Seine Kanzlei flo riert nach dem Krieg, und er wird einer der angesehensten Männer seiner Stadt.
gleichsam automatisch, wieder zu einem Gleichgewicht zurückfmdet. Stattdessen hat diese wirtschaftliche Depression gezeigt, dass der Kapitalis mus - inzwischen hoch entwickelt, global verbreitet und international vernetzt Kräfte entfesseln konnte, die mit un geheurer Dynamik eine ökonomische Katastrophe herbeigeführt haben. Doch war der Verlauf des Nieder gangs so komplex, dass Ökonomen bis heute keine unumstrittene, alle Details erfassende G esam terklärung für die
Weltwirtschaftskrise parat haben. Den noch herrscht über einige wichtige Ursa chen und Zusammenhänge mittlerweile Einigkeit. Demnach traf der Börsenkrach eine US-Wirtschaft, die sich bereits in einer Absatzkrise befand. Die Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern nahm schon im Sommer 1929 ab. Der Crash vernichtete kurz darauf nicht nur das Ver mögen vieler Anleger, sondern versetzte den Amerikanern vor allem einen schwe ren Schock, der ihr Zukunftsvertrauen zerstörte und sie davon abhielt, mehr Geld als unbedingt nötig auszugeben. Die dadurch noch einmal deutlich schrumpfende Nachfrage verstärkte den Abschwung.
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A ls in den U S A nun auch noch eine
K ris e p fla n zte sich ü ber das globale F i
sch a ft der U S - B ü r g e r zu k o n su m ie re n
(zum großen T e il irrationale) P a n ik aus
n an zsystem in d ie anderen V o lk s w ir t
u n d v e rsch lim m e rte n so die Lage.
brach , w e il B ü rg e r in de m K lim a der
sch a ften fo rt, u n d deren K ris e n zogen
V e ru n s ic h e ru n g ih r V e rtra u e n in d ie
ihrerseits die U S A nach unten.
B a n ke n verloren u n d massenweise G e ld abhoben, g in gen viele In stitu te pleite.
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Positive A n stöße , um diese negative
D ie kau m n och fü r m ö g lich gehal tene E rh o lu n g von der Jah rh un d ertkrise v o llz o g s ic h s c h lie ß lic h a u f m ehreren
E n tw ic k lu n g zu du rch b re ch e n , fe h lte n
E b e n e n . Z u m einen schaffte R o osevelt
D ie überlebenden G eldh äuser w ie
fast völlig , vor allem vonseiten der P o litik .
d ie p sy ch o lo g isch e W e n d e , eine n ic h t
derum vergaben n u r n o ch extrem v o r
Im G e ge n teil: H o o v e rs S teuererh öh u n
s ich tig K re d ite - was In ve stitio n e n der
gen - geprägt v o n den alten ö k o n o m i
u nerh ebliche Le istu n g . Z u m an d e ren b e fre ite n sic h die
U n te rn e h m e n v e rh in d e rte u n d d a m it
schen L e h re n , die die S e lb sth e ilu n g des
U S A im Frü h jahr 1933 von den Zwängen
abermals die K o n ju n k tu r schädigte.
System s propagierten u n d einen ausge
des G o ld sta nda rd s. N u n kon nte die R e
U n d auch v o n auß en k a m e n n u r
glichen en Staatshaushalt über alles stell
g ieru ng den D o lla r abwerten, konnte die
negative Im p u lse : D ie a m e rik a n isc h e
ten - re d u zie rte n n och m a ls die B e re it
U S -Z e n tra lb a n k dazu übergehen, die Z in
GEO EPO C HE K a pita lism u s
Erst als die USA bei Eintritt in den Zweiten Weltkrieg 1941 alle Ressourcen mobilisieren, endet die Depression die Aufrüstung wirkt wie ein gigantisches Konjunk turprogramm (Produktion von B-17-Bombern)
im Weltkrieg diese Wirkung. Sie hatten offenbar jenes kritische Volumen, das angesichts der Tiefe der Krise und der Größe der US-W irtschaft nötig war.
sen zu senken. Kredite wurden dadurch nach und nach billiger, und Investitionen und Konsum zogen wieder an. Und schließlich beschloss der Kon gress nun Konjunkturprogramme: große staatliche Investitionspakete, etwa in Staudämme oder Autobahnen, die einen Aufschwung befeuern sollten, indem sie die Produktion ankurbelten, die Arbeits losigkeit verringerten, die Kaufkraft der Bevölkerung zurückbrachten. Tatsächlich entfalteten aber erst die massiven Staatsausgaben für die Rüstung
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ie komplex das Gesche hen damals auch war für die meisten Experten haben sich dennoch etli che Lehren aus der Krise ergeben. Heute gehen fast alle Ökonomen davon aus, dass die US-Politiker nach 1929 viel früher und massiver hätten ge gensteuern müssen, etwa den Goldstan dard hätten aufgeben sollen. Als zu dem Börsencrash die Bankenkrise kam, hätte die US-Notenbank dann helfen und be drängten Geldinstituten günstig Dollar zur Verfügung stellen können. Niedrigere Leitzinsen hätten zudem der Schrumpfung der übrigen Wirtschaft entgegengewirkt. Und schließlich hätten beherztere Konjunkturprogramme den Zusammenbruch der Nachfrage zumin dest zum Teil auffangen können. So brachte die Weltwirtschaftskrise nicht nur Erkenntnisse über die zerstö rerische Kraft des Kapitalismus, sondern auch über Wege, sie zu bändigen. Durch die Erfahrung mit der De pression wird es bei den meisten Regie rungen der Industriestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg üblich, die Wirtschaft nicht mehr sich selbst zu überlassen, son dern in Zeiten von Abschwüngen w irt schaftspolitisch zu intervenieren, um die Ausschläge der Konjunktur zu dämpfen und einen Absturz in die Depression zu verhindern. Es ist ein Paradigmenwechsel, der ohne das Drama nach dem Börsencrash von 1929 nicht denkbar gewesen wäre. In den U SA und anderswo wird zudem fortan die Rolle des Staates im
Kapitalismus neu bewertet: Stärker soll er Verantwortung dafür übernehmen, soziale Not durch wirtschaftliche Ent wicklungen zu vermeiden. So richtet beispielsweise Franklin D. Roosevelt als Reaktion auf die Krise in den Vereinigten Staaten erstmals eine staatliche Renten- und Arbeitslosenver sicherung ein. Gegen den Widerstand der Unternehmer stärkt er die Stellung der Arbeiter, indem er die Rechte der Gewerkschaften erweitert. Ein neues Gesetz reguliert darüber hinaus das Bankensystem, führt unter anderem eine staatliche Sicherung für die Konten der Bürger ein. Durch Regulierungen dieser Art, vor allem aber durch eine aktivere W irt schaftspolitik, haben bislang selbst die härtesten Krisen des weiteren 20. und des 21. Jahrhunderts nicht mehr jene Schwere erreicht, die in den Jahren nach 1929 die W elt traumatisierte. Der Stadt Youngstown in Ohio allerdings kann auch dieses gewandelte Bewusstsein irgendwann nicht mehr helfen. Als die US-Stahlbranche in den 1970er Jahren in die Krise gerät, wird die Industriemetropole hart getroffen. Die Menschen werden arbeitslos, ziehen weg. Youngstown verliert mehr als die Hälfte seiner Einwohner, unwiederbringlich. Die Stadt, die die größte aller Kri sen überstanden hatte, wird sich von die sem Schlag nie mehr erholen. Heute gilt sie als Symbol für den Niedergang der nordamerikanischen Schwerindustrie. £ Reym er Klüver,/g. 1960, ist Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung“,f ü r die er viele Jahre auch USA-Korrespondent war. E r hat zahl reiche Städte -wie Youngstown kennengelernt, im „Rustbelt“, Amerikas ehemaliger Stahl region zwischen Chicago und N ew York.
L IT E R A T U R E M P F E H L U N G E N : David M.
Kennedy, „Freedom from Fear: The American People in Depression and War (1929-1945)“, O xfo rd University Press: umfassende, leicht lesbare Darstellung der Depressionsjahre in
„The Great De pression: A Diary", Public Affairs Print: anrüh den USA. Benjamin Roth,
rendes Tagebuch jenes Rechtsanwalts, der den Niedergang seiner Heim atstadt in den Depressionsjahren unverfälscht protokollierte.
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Soziale M ark tw irtsch aft
GEZÄHMTER KAPITALISMUS D ie S o zia le M arktw irtschaft g ilt als w esentlicher G ru n d für den w irtschaftlichen E rfo lg der Bundesrepublik. D o c h steht dieses K o n ze p t w irklich, wie oft behauptet, für die V e rbin dun g von kapitalistischer E ffizie n z und so zialer G e re c h tig k e it ? -----------
er Aufbau der Sozia len Marktwirtschaft ist einer der Gründungs m ythen der Bundes republik. M it ihr habe Ludwig Erhard, erster W irtschaftsminister Westdeutschlands, ein Konzept entwickelt, das die kapitalis tische Effizienz in den Dienst sozialer Gerechtigkeit stelle. Einen Gegenent w urf zum ungezügelten Kapitalismus früherer Zeiten. Doch das ist eben nur ein Mythos. Denn Erhard macht zwar den Be griff der „Sozialen Marktwirtschaft“ po pulär. Allerdings sieht er darin nicht die Zähmung des Kapitalismus durch den Staat, um ihn humaner und gerechter zu machen. Sondern er meint eher das Ge genteil: je f r e i e r die Konkurrenz, desto sozialer die Marktwirtschaft. Erst nach mehreren Veränderungen entsteht aus Erhards Entwurfjene ökonomische Ord nung, die heute noch Deutschland prägt. Dass der Westen Deutschlands nach 1945 Teil der kapitalistischen W elt wird, steht nicht von vornherein fest. Heftig streiten Politiker und Ökonomen über die Frage, wie die W irtschaft wieder in Gang zu bringen sei. Im Osten soll es eine Planwirtschaft nach sowjetischem M us ter geben; das ist bald klar. Doch auch in den drei westlichen Zonen sehen zahlrei che Experten die Lösung in mehr Len kung. In einem Grundsatzprogramm der CDU heißt es 1947: „Das kapitalistische W irtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deut schen Volkes nicht gerecht geworden.“ Andere Ökonomen aber widerset zen sich diesen Plänen. Am einfluss-
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reichsten ist Ludw ig Erhard, der ein radikal marktwirtschaftliches Programm vertritt: Sein Z iel ist „Wohlstand für alle“, und der sei am besten durch freien W ettbewerb zu erreichen - denn nur so komme der wirtschaftliche Fortschritt allen Menschen zugute. Das sei dann die „Soziale Marktwirtschaft“. Den Begriff hat er von dem Öko nomen Alfred Müller-Armack übernom men, der damit eine Wirtschaftsordnung meint, die den Freiheitswillen des Libe ralismus mit dem Gerechtigkeitsgedan ken des Sozialismus verbindet. Freie Kon kurrenz sei demnach nötig, um Effizienz
D er V W Käfer sym bolisiert wie kein anderes Produkt W irtschaftsw under und Soziale M arktw irtscha ft. A lle in bis
1955 laufen in W olfsburg eine M illio n Exemplare vom Band
von f r a n k o t t o
zu schaffen, doch müsse dies der gesam ten Gesellschaft Nutzen bringen. Der Staat müsse hierzu geeignete Bedingun gen schaffen, ohne aber lenkend in die W irtschaft einzugreifen. Zudem habe er für jene zu sorgen, die nicht am Wettbe werb teilnehmen könnten, etwa Kinder, Alte, Arbeitslose. Im Oktober 1945 ernennt die USM ilitärverw altung Erhard zum bayeri schen Staatsm inister für W irtschaft, später übernimmt er einen vergleich baren Posten in der britisch-amerikani schen Bizone. Im Sommer 1948 hebt er einen Großteil der dortigen Rationierun gen und Preisbeschränkungen auf. Erhards Politik eines freien Wettbe werbs wird indes schon bald attackiert ausgerechnet aus Washington. Im August 1949 gewinnen CDU und CSU die Bun destagsw ahl, Konrad Adenauer wird Bundeskanzler und Erhard Wirtschafts minister. 1950 bricht der Koreakrieg aus, in dem die USA eine internationale Koa lition gegen kommunistische Aggresso ren anführen. Um die Nachfrage nach Rüstungsgütern zu decken, wollen die U SA auch die westdeutsche Schwer industrie einspannen. Washington verlangt von Bonn da her, in die W irtschaft einzugreifen; der Staat soll Teile der Konsumgüterindus trie stilllegen und dringend benötigte Rohstoffe, vor allem Kohle, nur noch den für die Rüstung wichtigen Branchen zuteilen, andernfalls drohen einschnei dende Sanktionen. Den Forderungen der Besatzungs macht kann sich Erhard nicht widerset zen. Doch er will, zumindest nach außen hin, nicht von seiner Politik abrücken, die
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er im W ahlkam pf als Garanten des baldigen Aufschwungs be schworen hatte. In dieser Situation springen ihm die Unternehmerverbände bei - und auch die Gewerkschaf ten (beide Seiten fürchten, die U SA würden sonst direkt in die deutsche W irtschaftspolitik eingreifen). In verschiedenen Gremien treffen Abgesandte der Wirtschaftsverbände, Arbeitneh mervertreter und Spitzenbeamte gemäß den amerikanischen W ün schen Absprachen über Investi tionen, Preise und R ohstoff lenkung. M it Erfolg: Die U SA bekommen, was sie verlangen, Erhard wahrt sein Gesicht. Damit aber ist eine A rt Präzedenz fall geschaffen: In Zukunft werden im mer wieder Vertreter von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierung gemein sam W irtschaftspolitik betreiben, etwa bei der Sanierung des Kohlebergbaus in den 1960er Jahren. Diese Steuerung ist die erste ent scheidende Veränderung der Erhardschen Sozialen Marktwirtschaft. Die gewaltige Rüstungsnachfrage für den Koreakonflikt setzt einen west deutschen Exportboom in Gang: Denn während andere Nationen immer mehr Kriegsgüter produzieren, nutzen deut sche Unternehmen die so entstehende Lücke und liefern nun unter anderem Maschinen sowie Konsumgüter. In den folgenden Jahren wächst die W irtschaft der Bundesrepublik im Schnitt um mehr als acht Prozent. Die jährlichen Steuereinnahmen des Bundes schwellen an, der Finanzm inister legt rund sieben M illiarden D -M ark zurück - im W irtschaftsw underland gibt es etwas zu verteilen. Und genau das plant Adenauer vor der Bundestagswahl 1957. Gegen den W iderstand Erhards setzt er einen Anstieg der Renten um rund 60 Prozent durch; vor allem aber wird die zukünftige Höhe der Altersversorgung an die Lohnentwicklung gekoppelt. Dies ist die zweite große Umgestal tung von Erhards Konzept: Adenauer
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Ludw ig Erhard, der erste west deutsche W irtschaftsm inister, m acht die Soziale M a rktw irtsch a ft populär
macht den Staat zum Garanten des L e bensstandards seiner Bürger. Die Wahlen werden zu seinem Triumph - die CDU/ CSU erringt die absolute Mehrheit. Die dritte Veränderung betrifft die Konjunkturpolitik. Fast überall in der westlichen W elt haben sich nach 1945 neue Vorstellungen über die ökonomi sche Funktion des Staates durchgesetzt. Früher sollte das staatliche Budget mög lichst niedrig sein und die Regierung sich darauf beschränken, Geld nur für die ab solut notwendigen Aufgaben auszugeben, wie die Landesverteidigung. Doch nun haben sich die Regierun gen etwa der U SA und Großbritanniens verpflichtet, für Vollbeschäftigung zu sorgen: Sollten die Arbeitslosenzahlen wieder massiv ansteigen, wollen sie mit einem Ausgabenprogramm die Konjunk tur unterstützen, etwa in den Ausbau der Infrastruktur investieren. Erhard lehnt eine solche Lenkung der W irtschaft ab. Doch als es 1966 zur ersten Rezession der Bundesrepublik kommt, reicht schon ein geringer Anstieg der Arbeitslosigkeit aus, um das Vertrau en der Deutschen in die Marktwirtschaft zu erschüttern. Der R u f Erhards - inzwischen Bundeskanzler - ist beschädigt, zumal seine Sparpolitik nach M einung vieler Experten den Abschwung noch verstärkt. Er muss zurücktreten.
In der neuen Koalition von CDU/CSU und SPD wird ein Sozialdem okrat W irtsch afts minister, der nicht an die selbst regulierenden Mechanismen des freien Wettbewerbs glaubt: Karl Schiller. Für den Professor der Ökonomie bringt der Kapitalis mus U ngleichgew ichte hervor, die der Staat ausgleichen muss. Sein Stabilitätsgesetz von 1967 verpflichtet die Regierung daher auf eine Politik der Vollbeschäf tigung, der Preisstabilität und des stetigen Wachstums. So w ird aus einer W irt schaftsordnung, die auf dem frei en W ettbewerb gegründet sein sollte, nach und nach eine weit gehend regulierte Marktwirtschaft, in der Unternehmen und Gewerkschaften an der Wirtschaftspolitik beteiligt sind und der Staat ein großes M aß an Daseinsfür sorge für seine Bürger betreibt. Das macht die Bundesrepublik öko nomisch und sozial stabil - aber auch starr und unbeweglich. Ihre Wachstums kraft schwindet, in den 1980er Jahren kommt es zu Massenarbeitslosigkeit. Nach der Wiedervereinigung steigt die Zahl der Menschen ohne Job auf fast fünf M illionen, über Jahre hinweg hat Deutschland innerhalb der EU das ge ringste W achstum. Das M odell eines gezähmten Kapitalismus scheint geschei tert, der hemmungslose Wettbewerb der angelsächsischen A rt zu triumphieren. Doch dann platzt 2007 die Immo bilienblase in den USA, und die W elt stürzt in eine globale Finanz- und W irt schaftskrise. Auch in der Bundesrepublik bricht die Konjunktur ein, stärker als je zuvor in ihrer Geschichte. Und der eben noch wegen seiner Effizienz gepriesene ungezügelte Kapitalismus wird nun ge schmäht: Von den „Exzessen der Märkte“ spricht die Regierung. Aufgabe des Staa tes in der W irtschaft sei „Kontrolle“. Das ist die Renaissance der Sozia len Marktwirtschaft. £ D r. F ra n k O tto ,^ -. 1967, ist der Geschäfts führende Redakteur von G E O E PO C H E .
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N eoliberalism us - Großbritannien, 1984
DER KAMPF
Links die S tre ike nd e n , rechts die P olizisten: N ic h t selten stehen sich in den kleinen b ritis c h e n G e m e in d e n , wie hier im sch o ttisch e n B ilsto n , Freunde und V erw andte geg en ü b e r
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DER KUMPEL Als die britische Regierung 1984 D utzende staatseigene Kohlegruben schließen und Zehn tausende Bergarbeiter entlassen will, ru ft deren m ächtige G ewerkschaft zum Streik auf. In dem nun folgenden Ausstand geht es um mehr als nur A rbeitsplätze: V erhandelt wird die Frage, wie viel Staat nötig ist fü r einen verantw ortungsvollen Kapitalismus
V on M A T H IA S M E S E N H Ö L L E R
Es ist der 29. M ai 1984. Aus der grünen Hügellandschaft im englischen Yorkshire ragt in der Nähe der Ortschaft Orgreave wuchtig und dunkel ein Kom plex aus Stein und Stahl empor: die Kokerei. Ihre Schornsteine und Rund bauten erinnern an die Wehrtürme einer mittelalterlichen Burg - einer belager ten Burg: Entlang der Zufahrtsstraßen stehen sich an diesem Tag drohend zwei Armeen gegenüber wie Ritter und auf ständisches Volk. A uf der einen Seite haben sich min destens 2500 Polizisten in ihren langen, blauen M änteln und hochgewölbten Helmen formiert, ausgerüstet mit Klarsicht-Schilden und Schlagstöcken, zu sammengezogen aus zehn Grafschaften. Berittene Einheiten, Hundestaffeln. A u f der anderen Seite: mehr als 5000 Bergarbeiter in Jeans, T -Shirts, Lederjacken und Turnschuhen. Es sind mobile Streikposten, die aus ihren M inen angerückt sind, um zu verhindern, dass der Koks von Orgreave zur Stahlerzeugung ins nahe Scunthorpe transportiert wird; auf diese Weise wollen sie die dortigen Stahlwerke lahmlegen. Seit das „National Coal Board“, die staatliche Verwaltung der Kohlegruben, Anfang M ärz angekündigt hat, überall im Vereinigten Königreich unprofitable Zechen zu schließen, haben Zehntau sende Kumpel die Arbeit niedergelegt, in Kent und Schottland, in Südwales und den Midlands. Es ist die größte Erhebung der jüngeren britischen Geschichte. Und ein Existenzkampf. Gegen neun Uhr kommt ein Kon voi von 35 Lastwagen in Sicht. Sie sollen den Koks in die Stahlwerke bringen. Der Anführer der Streikenden, der G ewerkschafter A rthur Scargill, ein schmaler, energischer Mittvierziger, auf
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dem Kopf eine Baseballkappe, versucht die M änner mit einem Megafon zu diri gieren. Nun stürmen seine Streikposten vor, werfen Flaschen, Steine und abgerissene Zaunlatten auf den Konvoi. Die Fahrer der Lkw ducken sich in ihren Kabinen, deren Fenster mit M aschendraht gesi chert sind. Polizisten stellen sich den Bergleuten in den W eg, Schlägereien brechen aus. Auch auf die Uniformierten gehen Wurfgeschosse herab: Steine, Ei senkugeln, Hölzer mit Metalldornen. Daraufhin lassen die Polizisten ihre Schäferhunde von der Leine, die Tiere jagen in die Menge, beißen um sich. Reiter und Polizei zu Fuß greifen die Bergarbeiter an, machen Jagd auf Einzelne, knüppeln sie nieder - und gehen selber verletzt zu Boden, werden von Sanitätern unter speziellen Schutz helmen durch den Kampflärm vom Feld geleitet. Roter Rauch von Feuerwerks körpern weht über der Szenerie. Die Lastwagen kommen durch. Knapp anderthalb Stunden später rollen sie beladen wieder aus dem Tor der Kokerei. Diesmal unter völliger Stille. Eingepfercht und stumm stehen die Bergarbeiter hinter einem dichten Kor don aus Uniformierten, die sie inzwi schen von der Straße abgeschottet haben. Als am N achm ittag ein weiterer Konvoi Orgreave ansteuert, beginnen die Kämpfe von Neuem. Insgesamt wer den bis zum Abend 104 Polizisten und 28 B ergarbeiter verletzt, bluten aus Kopfwunden, haben Knochenbrüche; 82 Streikende sind in Haft. „Was w ir jetzt in Süd-Yorkshire haben“, stellt Gewerkschaftsboss Arthur Scargill vor Reportern fest, „ist ein Poli zeistaat wie in Chile oder Bolivien!“ An diesem Tag Ende M ai dauert der Ausstand der britischen Bergleute bereits seit fast drei M onaten an. Das Ausmaß der Gewalt jedoch ist neu. Und es stellt nur den vorläufigen Höhepunkt eines Konflikts dar, der an Härte, Bitter keit, Verzweiflung bis in den W inter und über ihn hinaus noch zunehmen wird. Denn bei diesem A rbeitskam pf geht es um mehr als höheren Lohn oder einzelne Gruben oder Arbeitsplätze. Es ist ein Kampf um die Ordnung der W irtschaft, ja der Gesellschaft.
Für die einen, vor allem Premier ministerin M argaret Thatcher, beginnt im Frühjahr 1984 ein Showdown, an des sen Ende die W iedergeburt der Freiheit stehen soll, der Vernunft. Für die anderen, vertreten durch A rthur Scargill, ist es ein Gefecht um sozialen Ausgleich und Solidarität. Beide Seiten haben gute A rgu mente und hehre Motive - und sind sich für keine Niedertracht zu schade. Beide Seiten verfügen über charismatische An führer - deren Stärke allerdings kombi niert ist mit verheerender Borniertheit. Und beide Seiten glauben fest dar an, dass dies der Moment ist, an dem sich die Geschichte entscheidet. W eil eine neue Denkweise angetreten ist, die Welt zu verändern: der Neoliberalismus.
1. A pril 1947, M o n t Pèlerin, Schweiz.
Einsam am Berghang steht das schloss ähnliche „Hôtel du Parc“ und bietet von der Terrasse eine grandiose Aussicht über
Beeinflusst von neoliberalen Ideen, m acht Prem ierm inisterin M argaret T ha tch e r zwei G rundübel der britischen W irtsch a ft aus: die Staatsbetriebe und die G ew erkschaften
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den Genfer See und die Savoyer Alpen. Ein abgelegener Ort in der unversehrten Schweiz, hoch über den Niederungen des vom W eltkrieg verheerten Europa. An diesem Tag versammeln sich hier auf Einladung des österreichisch britischen W irtschaftswissenschaftlers Friedrich A ugust von H ayek etwa 40 Intellektuelle, die eine ideologische Außenseiterposition verbindet: Sie sind überzeugte M arktw irtschaftler. Die schwindende Nachhut einer überhol ten Idee. Denn praktisch w eltweit werden Arbeitslosigkeit, Not und Krieg der vor angegangenen Jahrzehnte auf die Anar chie freier M ärkte zurückgeführt. Seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gilt der kaum regulierte Kapitalismus als gescheitert, als im Kern unmoralisch und untauglich, den Menschen ein er trägliches Leben zu sichern. Gebannt blicken viele Intellektuelle auf das planwirtschaftliche Experiment in Stalins Sowjetunion. Sowie auf die
Sozialist. Den Kapitalismus hält er selbst in gezähm ter Form für grundsätzlich unmoralisch
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in der westlichen W elt verbindet: eine Denkgemeinschaft von Kritikern am Vormarsch der Planer und Lenker. Ende der 1940er Jahre scheinen sich deren Ideen unaufhaltsam durchzu setzen. In Großbritannien etwa geht die sozialdemokratische Labour-Partei unter Premierminister Clement Attlee daran, die „Kommandohöhen“ der W irtschaft zu erobern - ein Ausdruck, den die Arbeiterpolitiker von Russlands Revolu tionsführer Lenin übernommen haben. Nach und nach verstaatlichen sie die Kohlegruben, die Stahlindustrie, die Eisenbahnen, die Telekommunikation. Sie errichten ein öffentliches Gesund heitswesen und eine staatliche Unfall versicherung, fördern Wohnungsbau und Bildung. Und prägen einen Begriff da für: „Wohlfahrtsstaat“. Oberstes Ziel aller Politik soll die Vollbeschäftigung sein. Da auch die konservative Opposition die Reformen akzeptiert, geht das System als „AttleeKonsens“ in die Geschichte ein. Es ist ein Programm der Hoffnung. Entworfen, so ein Regierungsbericht, um die „fünf Rie sen“ der alten, kapitalistischen W elt zu „erschlagen“: Mangel, Krankheit, Unbil dung, Verwahrlosung, Arbeitslosigkeit. Freiheit, so erklären die Reformer, bedeute zuerst Freiheit von Not. Damit haben sie die Mehrheit der Bürger, aber auch der Ökonomen hinter sich. Nicht jedoch die neoliberale M in derheit. Friedrich August von Hayek sieht in der Not eine natürliche Unbill des Lebens. Freiheit versteht er primär als Freiheit vom Staat, von machtvol len Politikern. Begriffe wie „Wohlfahrt“ und „soziale Gerechtigkeit“ hält er für gefährliche Parolen, Attlees Politik für die Anfänge eines Totalitarismus, wie er Osteuropa beherrscht. Düster spricht Hayek von einem „Weg zur Knechtschaft“.
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D er G ew erkschaftsführer A rth u r Scargill ist ein überzeugter
USA, deren gigantische Infrastrukturund Rüstungsprogramme in einen Nach kriegsboom gemündet haben. Und nach Großbritannien, wo ein eben verstorbe ner Gelehrter zu heiligengleicher Ver ehrung aufgestiegen ist: John Maynard Keynes, brillanter Vordenker einer poli tisch gesteuerten W irtschaft. Sich selbst überlassen, so Keynes, neigen Märkte dazu, in Abwärtsspiralen zu kippen. Dann müsse der Staat eingreifen und mit öffentlichen Ausgaben den Teufelskreis von mangelnden Investitio nen, steigender Arbeitslosigkeit und sin kender Nachfrage durchbrechen. Keynes sah solche Interventionen vor allem für Krisenzeiten vor; seine Nachfolger indes verwandeln die Nach fragesteuerung in ein M ittel der tägli chen Wirtschaftspolitik. Hayeks Gäste im „Hotel du Parc“ sehen darin einen Irrweg. Auch wenn sie zum Teil höchst unterschiedliche Auffassungen vertreten, sind sie sich im Grundsatz einig: Die Lenkung der W irt schaft über Staatsausgaben lehnen sie ab. Die Nachfrage anzukurbeln führe nicht zum Erfolg, erst recht nicht umfas sende Planung und Preiskontrollen, son dern solide Haushaltspolitik der Regie rungen und möglichst große Freiheit für die Unternehmen. Dazu gehöre ein offe ner Wettbewerb - aber auch ein starker, unparteiischer Staat, der faire Spielregeln festlegt und durchsetzt. Dieser letzte Punkt unterscheidet ihr Credo vom klassischen Liberalismus, der die Einmischung der Obrigkeit ganz und gar verwarf. Um sich davon abzu grenzen, haben einige der Anwesenden bereits zuvor ein Schlagwort für den Neuansatz gefunden: „Neoliberalismus“. Nun gründen sie eine A rt Club, die Mont-Pelerin-Gesellschaft. Diese Ver einigung soll den Austausch liberaler Gedanken auf wissenschaftlichem N i veau fördern und zugleich für marktwirt schaftliche Prinzipien werben. Bald werden erste Unternehmer auf die Gesellschaft aufmerksam. Obwohl sie die zum Teil komplizierten Theorien und Auseinandersetzungen nicht immer be greifen, ihnen zuweilen gar misstrauen, unterstützen sie den Club mit Geld und Empfehlungen. Ein Netz von Kontakten beginnt zu wachsen, das Gleichgesinnte
Juni 1984, Thurcroft, Yorkshire. Ein
wenig genießen die Frauen es sogar: das Abenteuer und die Unterbrechung ihres Alltags - den Stolz, mitzukämpfen um die Zukunft des Ortes, denn auch hier sind die Bergarbeiter seit 14 Wochen im Streik. Schwerer aber w iegt die Sorge um das nackte Überleben der 5500-See-
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Am 12. März 1984 ruft die Bergarbeitergewerk schaft ihre M itglieder zum Streik auf; schon bald stehen in England, Schottland und Wales die meisten Förder türme still
In einer Grube nahe der Stadt Stoke-on-Trent sind vier Bergarbeiter trotz des Streikaufrufs in die Mine hinabgefahren - doch ohne ihre Kollegen können sie dort nicht viel ausrichten
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Im Sommer 1984 sind 140000 Arbeiter im Streik Z ie h t die G e w e rk sc h a ft in den Streik, ist das verbindlich. Streikbrecher w erden als scabs geächtet, als „Schufte“ (wörtlich: „Krätze“). N ich t selten werden selbst deren K inder geschnitten, müssen sie aus ihren H eim ato rten fortziehen. rth u r Scargill ist ein entschlos sener, radikaler A nführer. D er S o h n eines k o m m u n istisc h en Bergm anns ist in einer Siedlung n icht w eit von T h u rcro ft aufgewachsen, anfangs in ein er H ü tte o h n e A b o rt, Strom u n d warm es Wasser. E rst der so ziale W o h n u n g sb au d er 1950er Ja h re verhalf der Fam ilie zu einer m enschen w ürdigen U nterkunft. Von der M u tte r h at er den ch rist lichen G lauben, vom Vater die Liebe zu Büchern, die politische Ü b erzeugung und den Beruf. M it 15 Jah ren w ar er das erste M al auf Schicht; der K ohlenstaub nahm ihm die Sicht u n d verkrustete seine L ippen, die A rb e it w ar b e täu b e n d lau t, neben ihm schufteten Krüppel - und das waren erst die B edingungen über Tage. So kann, so darf die W elt nicht sein, em p fan d er. Scargill schloss sich den Jungkom m unisten an. Später ließ er den orthodoxen Kom m unism us h in te r sich, w urde G ew erk schafter, stieg in der N U M auf. Seine G rundüberzeugung aber blieb: D er K a pitalism us, selbst gezähm t, ist inakzep tabel. W ie viel sich für die A rbeiter auch verbessert h ab e n m ag, G e re c h tig k e it kann allein der Sozialismus bringen.
Scargill hält Kompromisse für Ver rat, das E stablishm ent für absolut skru pellos u n d den K lassen k am p f für ein N a tu rg e se tz - äh n lich w ie F ried rich A ugust von H ayek die Ü berlegenheit des M arktes. Beide würden sich nie als Ideo logen b etrachten. S ondern als M änner, die illusionslos au f die W elt blicken. D och w ährend H ayek sie gleichsam von oben b eobachtet, aus der Perspek tive des weltgewandten W issenschaftlers, sieh t Scargill sie von u n te n , m it den A ugen eines Y orkshire-Bergm anns. E r kann reden, h at Charism a. 1981 w ird er P räsid en t der N U M . U n d drei Jahre später, nach der A nkündigung des C oal Board, G ru b en zu schließen, führt er die G ew erkschaft in den h ärte ste n A rb eitsk am p f ihrer G eschichte. U m eine Zeche durch Streik lahm zulegen, reich t m eist eine kleine Z ah l ö rtlich er Posten: W er ihre K ette quert und einfährt, m acht sich zum Scab. Z usätzlich setzt die G ew erkschaft „mobile Streikposten“ ein. D ie Komman dos, g ut 4500 M an n allein aus Yorkshire, schw ärm en aus, um B elegschaften en t fernter M in en oder die A rbeiter benach barter Branchen zum Ausstand zu bewe gen. Als Masse entsandt, erhöhen sie den psychologischen D ru c k auf die A rbeits w illigen - o der blockieren schlicht die Z u fah rten zu den W erksgeländen. M eist legt die Gewerkschaftsleitung w ichtige Ziele fest, koordinieren örtliche Funktionäre die Freiwilligen, dann star ten die P osten in Privatautos, M inivans o der g ech arterten Bussen, um früh vor S chichtbeginn in Position zu sein. F ür viele Streikende ist diese M is sion zugleich die einzige G eldquelle, d enn allein die aktiven Posten erhalten von der G ew erkschaft regelm äßig eine kleine E ntschädigung; für m eh r reicht die Streikkasse nicht. A lle anderen sind au f Ersparnisse angewiesen (die oft nur wenige W ochen Vorhalten), auf die Hilfe von F re u n d e n u n d V erw an d ten , a u f S penden u n d Suppenküchen. D ennoch b leiben von B eginn an 80 P ro zen t der B ergarbeiter der A rbeit fern. E nde M ai 1984 entscheidet Scargill, die K om m andos gegen die Kokerei von O rgreave einzusetzen. D o ch dies ist denkbar ungünstiges Terrain, auf offenem Feld, ohne leicht zu
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len-G em einde w enige K ilom eter nord östlich von Orgreave. T hurcroft ist eine Bergarbeitersied lung m it backsteinroten D re i-Z im m e rR eih en h äu sch en h in te r B lu m en - u n d G em üsebeeten, über den en der graue, vertraute R auchschleier der K ohlehei zungen liegt. Fast jede dritte Familie lebt von der K ohlegrube. O h n e sie w ären auch die G em üsehändler, Fleischer und Bäcker im O rtsz e n tru m am E n d e, die Bastlerläden, V ideotheken, das G a rte n center, die Pubs. T hurcroft w ürde zerfal len. G enau das fürchten die Frauen. In der W ohlfahrtsstation treffen sie sich, um L eb e n sm ittelp ak ete für jene Fam ilien zu packen, deren E rsparnisse der Streik bereits erschöpft hat. Sie ver kaufen Tee und Kaffee u nd Bingo-Lose, sam m eln Spenden von denen, die noch etwas haben. F ahren zu D em o n stra tio nen, gehen selbst au f Streikposten. Bei W o rtgefechten m it Polizisten müssen sie sich beschimpfen lassen - und an tw o rten m it F lü ch e n , die ih n e n zu H ause nie über die Lippen kämen. D enn m it jedem Tag, den der S treik dauert, w ächst die W ut. N ich t nur in Yorkshire. M indestens 70 der knapp 200 briti schen G ruben seien von den Sanierungs plänen des staatlichen C oal B oard b e d roht, w arn t S treikführer Scargill, der P räsident der Bergarbeitergew erkschaft „National U nion o f M inew orkers“. Regierung und Coal Board streiten das ab - eine Lüge, wie sich später h e r ausstellt: G e h e im e K ab in e ttsp ap ie re sehen vor, innerhalb w eniger Jah re 75 Z echen stillzulegen, 70 000 von 180 000 A rbeitsplätzen zu streichen. A ngesichts eines Jahresverlusts von 250 M illionen Pfund soll die Förderung auf wenige pro fitable Standorte konzentriert w erden. D och die N U M ist eine der m äch tig sten G ew erk sc h aften G ro ß b rita n niens: zum einen, weil ohne Kohle Kraft w erke u n d In d u strie lahm liegen. Z u m anderen, w eil die B ergleute häufig in Siedlungen wie T hurcroft fest verwurzelt sind, die Loyalität zu ihrer Gewerkschaft von klein au f einsaugen. D ie N U M ist m ehr als eine In te r essenvertretung - so wie die harte, ge fährliche A rbeit im Stollen m ehr ist als ein Job. Beides ist H eim at, v erm ittelt Stolz und G eborgenheit.
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»Euer Kampf ist unser Kampf«, steht auf dem Banner, das Frauen aus dem walisischen D orf Maerdy durch die Stra ßen tragen. Sie fürchten den Niedergang ihrer Gemeinde, sollte die Kohlegrube geschlos sen werden
blockierende in n erstäd tisch e S traßen. D er K am pf am 29. M ai 1984 endet m it einer N iederlage für die Streikenden. A ber Scargill ist entschlossen, in Orgreave den Sieg zu erzwingen. Später.
17. Oktober 1973, Kuwait City. Seit elf Tagen führen Ä gypten und Syrien Krieg gegen Israel. N u n haben sich in Kuwait die arabischen Ö lm in iste r versam m elt und beraten, wie sie den beiden B ruder staaten helfen können. Sie beschließen, ihren Ölexport als Waffe einzusetzen, um Israels westliche V erbündete zu treffen. N ach einer sofortigen Senkung der P ro duktion um fü n f bis zeh n P rozent, je nach Land, w erden sie das Ö langebot jeden M onat weiter drosseln - und m an che Länder wie etwa die U SA überhaupt nicht m ehr beliefern. A u f den M ärkten b richt P anik aus. Zeitw eilig schießt der Ö lpreis um m eh rere H u n d e rt P ro z en t nach oben. Vor am erikanischen Tankstellen stauen sich die A utofahrer. E tliche In d u strien atio nen rutschen in die Rezession, denn ihre Fabriken und H aushalte sind von dem Ö l abhängig. D e r P reisschock v erw andelt eine schwelende M isere in eine akute Krise. D ie Krise des W ohlfahrtsstaats. Ü ber m ehr als zwei Jahrzehnte war eine Kombination aus reguliertem M arkt und aktivem Staat in den w estlichen In
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d u strie län d e rn erfolgreich. D ie M e n schen h a tte n A rb e it, starke G ew erk schaften erkäm pften w achsende L öhne und soziale Sicherheit. Fam ilien kauften W a sc h m asch in en , A u to s, T V -G e rä te , reisten in den Urlaub, zogen in eine lich tere W ohnung, erw arben ein H aus. D e r L eb en sstan d ard stieg a u f ein N iveau, das am E n d e des W eltk rieg s n ic h t v o rste llb a r g ew esen w ar. D e r Keynesianismus schien sein Versprechen zu halten: Vom S taat gezähm t, brachte der K apitalism us sta tt N o t u n d U n si cherheit nun Freiheit und Überfluss. K aum je m an d sah die N eb en w ir kungen o der n ah m sie ernst. W ie ein F ieber nistete die In fla tio n sich ein w ährend schleichend die A rbeitslosig keit zurückkehrte. D e n n die vielen R e gulierungen und Subventionen hebelten W ettbew erb und F o rtsch ritt aus. D ie A bgaben stiegen, später auch die öffentlichen Schulden, um den A us bau des W ohlfahrtsstaats zu finanzieren. D ie W irtsch a ft verkrustete. Besonders ausgeprägt ist die M a laise in G roßbritannien. Im Jahr 1973, als das Ö l knapp w ird, u nterliegen Preise, L öhne, D ividenden staatlichen K ontrol len. Viele A rbeitsplätze sind garantiert so fahren a u f E lektrolokom otiven nach w ie vor H eiz er m it, w eil die G ew erk schaften durchgesetzt haben, dass selbst solche eindeutig überflüssigen Jobs er halten bleiben müssen.
V iele S taatsbetriebe m achen Ver luste, ihre M aschinen sind im internatio nalen Vergleich veraltet, der W ohlstand ist geringer gew achsen, das U n te rn e h m ertum im L an d in V erruf geraten. N u n n u tz t die N U M den Engpass bei der Versorgung m it Ö l, um drastische L o h n erh ö h u n g en zu fordern. D ie G e werkschaft schränkt die Kohleproduktion ein, bald muss Energie rationiert werden. In G eschäften u n d Büros erlischt schon am frü h en A b en d das L ich t, F abriken d ü rfen n u r n och an drei T agen in der W oche arbeiten, T V -S en d er nach 22.30 U h r kein Program m m eh r ausstrahlen. E rinnerungen an den Bergarbeiter streik k napp zwei Jah re zuvor w erden w ach. W ie d e r b leiben die H eizu n g en kalt, essen die M e n sch en bei K erzen licht zu A bend. Im Fernsehen erklärt ein M in ister, w ie m an sich am besten im D u n k eln rasiert. Schließlich beraum t Prem ierm inis ter E dw ard H e a th von der K onservati ven Partei A nfang 1974 W ahlen an, unter der Parole: „Wer regiert Britannien?“ Die G ew erkschaften oder die Regierung? H e a th verliert - faktisch gestürzt von der N U M . D am it ist die G ew erk schaft im Z en it ihrer M acht. Zugleich ist dies aber auch das Jahr, in dem Friedrich A ugust von H ayek den N obelpreis für W irtschaftsw issenschaf ten erhält. U n d in dem eine m it Edw ard H eath abgetretene M inisterin die Lehre
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Vor der Kokerei im m ittelenglischen D o rf O rgreave sind Hunderte Beamte postiert. Als die Streikenden d o rt den A b tra n sp o rt von Koks verhindern wollen, brechen Käm pfe aus, die als »Schlacht von Orgreave« bekannt werden
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Denn Gewinner und Verlierer gebe es ohnehin immer: Doch würden nach Hayeks Ansicht in einer liberalen M arkt wirtschaft die Tüchtigen belohnt - in einer vom Staat gelenkten Ökonomie hingegen die am besten organisierten Interessengruppen, etwa die Eisenbah nergewerkschaft, die die Heizer auf den E-Loks durchgesetzt hat. Konkret ins Politische übersetzt be deutet das: weniger Subventionen, weni ger Steuern, weniger Regeln - sowie die Privatisierung von Staatsbetrieben. Als vordringlich gilt Thatcher nicht die Bekämpfung der A rbeitslosigkeit, sondern der Inflation. Die mächtigste aller Interessengruppen, die Gewerk schaftsbewegung, soll eingehegt werden. Unternehmergeist hingegen ist zu beloh nen, Risikobereitschaft zu fördern. Das sind Thesen, die selbst viele ihrer vom Attlee-Konsens geprägten Par teifreunde irritieren. M ancher beruhigt sich, dass es wohl Oppositionsrhetorik ist. Und schätzt damit ihre Bereitschaft zum Konflikt völlig falsch ein. argaret Thatcher - geboren 1925 im mittelenglischen Grantham als Tochter eines G emischt warenhändlers, der W ert legte auf Disziplin, Bildung, Selbstständigkeit - war strebsam, konnte in Oxford studie ren. Während indes die M ehrheit ihrer Kommilitonen links war, engagierte sich
M argaret bei den Konservativen. Sie wurde belächelt, auch geschnitten. Und entwickelte das ausgeprägte Bewusstsein, ein Außenseiter zu sein. Sie heiratete einen reichen Fami lienunternehmer, der ihre - für eine Frau ungewöhnlichen - Ambitionen akzep tierte. 1959 zog sie ins Parlam ent ein, machte sich einen Namen, wurde M inis terin für Bildung und Wissenschaft. Sie passte ihre Aussprache an die der Ober schicht an, die Kleidung, das Auftreten. Blieb im konservativen Establishment dennoch eine Fremde: das Mädchen aus der Provinz, vom unteren Ende der M it telschicht, mit extremen Ansichten. Aber auch mit taktischem Instinkt, M ut, redebegabt und rücksichtslos. Eine eigentümliche Nähe besteht zwischen Thatcher und Scargill: Beide sehen sich als Anführer eines Aufstands gegen die alten Mächte. Was sie zu Gegnern macht, sind ih re Visionen. Scargill fordert ein besseres Leben für die Arbeiterklasse. Thatcher w ill, dass jeder, ob Arbeiterkind oder Krämerstochter, seiner Herkunft ent kommen kann, Geld machen und es be halten darf. Scargill w ill eine gerechte Gesellschaft. Für Thatcher gibt es über haupt keine Gesellschaft, nur Individuen und deren Familien. 1979 stellt sie sich zur Wahl. Sie will Premierministerin werden.
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vom M ont Pèlerin für sich entdeckt: Margaret Thatcher. Die 49-Jährige hat das Zeug zum Medienstar der Konservativen Partei. Sie ist hart und zupackend, und Anfang 1975 gelingt ihr ein überraschender Coup: Die Abgeordneten der Konservativen Partei wählen sie zur Oppositionsführerin. Während die Krise sich verschärft, die Labour-Regierung einen Notkredit des Internationalen Währungsfonds be antragen muss, die Linke in zögernde Reformer und kompromisslose Sozialis ten zerfällt und im W in ter 1978 eine erneute Streikw elle das Land lähm t, Schulen schließen, der M üll sich auf den Straßen türmt, in Liverpool die Toten in Sammelhallen liegen, weil nicht einmal die Bestatter arbeiten, entwirft Margaret Thatcher die Grundzüge einer radikal anderen Politik. Dabei folgt sie Hayeks Hauptargu ment gegen Keynes: mangelnder Reali tätssinn. Hybris. Die Annahme, Politiker, Ökono men und Fachbeamte könnten eine kom plexe Volkswirtschaft steuern, scheint Hayek schlicht anmaßend. Denn das „Regierungswissen“ einiger Mächtiger sei zwangsläufig geringer als die Kreativität, Findigkeit sowie die Orts- und Spezial kenntnisse von Millionen Unternehmern und Konsumenten. Je mehr Entschei dungsbefugnisse die Regierungen an sich zögen, desto schlechter die Ergebnisse.
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Arbeiter haben eine Puppe aufgeknöpft, die einen Streikbrecher darstellen soll, Polizisten versuchen, die symbolische Lynchjustiz zu unterbinden
18. Juni 1984,Thurcroft, 5.30 Uhr. W ie jeden Morgen versammeln sich die mo bilen Streikkommandos, um zu erfahren, was die Streikleitung als Nächstes plant. Die Gewerkschaftsführer koordinieren ihre mobilen Kommandos überaus vor sichtig: Erst unmittelbar vor der Abfahrt wird das Ziel der nächsten Auseinander setzung mit der Polizei und Streikbre chern bekannt gegeben, damit niemand die Pläne verraten kann. Heute geht es erneut nach Orgreave. Mehrere Dutzend Bergleute setzen sich
in Marsch. Als die Gruppe die Kokerei erreicht, sind bereits Hunderte versam melt, und immer mehr treffen ein, aus ganz Yorkshire, aber auch aus Schottland, Wales, aus Kent - wohl mehr als 8000 N U M -M itglieder. Ein w eiterer gro ßer Kokstransport ist angekündigt. Und Arthur Scargill ist entschlossen, ihn mit aller M acht aufzuhalten. A uf der Gegenseite hat die Regie rung mehr als 4000 Polizisten zusam mengezogen: Trotz aller Geheimhaltung der Gewerkschaft weiß die Gegenseite um die Pläne der Streikleitung. Gegen 8.15 Uhr trifft der erste Kon voi von Lastwagen, die Koks transportie ren sollen, ein. Eine Welle von Streiken den wirft sich gegen den Polizeikordon. Doch der hält stand, öffnet sich mehr mals, um Berittene herauszulassen, die die Protestierenden zurückdrängen. Steine fliegen. Polizisten mit Schil den und Knüppeln stürmen vor, verhaf ten Einzelne. Als der beladene Konvoi die Kokerei gegen 9.30 Uhr verlässt, kommt es erneut zu Zusammenstößen.
M it ihrem Schuh schlägt die Frau eines Bergarbeiters auf einen Streik brecher ein. Nur knapp die Hälfte der Kumpel hält den Ausstand über die komplette Zeitspanne durch - denn sie müssen ihre Familien ernähren
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beitern Schutz gewähren. Ein Teil der Ordnungstruppe ist längst außer Kon trolle. Noch immer werden die Beamten m it Steinen, Glasscherben, wohl auch Brandsätzen beworfen. Erst am Nachm ittag klingen die blutigsten Kämpfe des gesamten Kon flikts ab. M ehr als 90 Streikende wurden verhaftet, 72 Polizisten sind verletzt so wie Hunderte Bergleute, darunter Arthur Scargill, der mit einer Gehirnerschütte rung im Krankenhaus liegt. Seiner Aus sage nach wurde er zusammengeschla gen, der Polizei zufolge ist er gestürzt. o mancher Beobachter wähnt das Land nun am Rande eines Bür gerkriegs. Doch da Scargills Ver such, bei Orgreave eine große, symbolträchtige Blockade zu inszenieren, endgültig gescheitert ist, rückt er von seiner Brechstangen-Taktik ab. Zwar schickt die NUM weiterhin mobile Streikposten aus - doch niemals mehr in dieser Masse. Das für britische Verhältnisse ungewöhnlich rigorose Vor-
Streikende in Yorkshire beschimpfen einen Arbeitswilligen, den die Polizei in die Zeche eskortiert. Wenige Monate später kommt in Wales ein Mann ums Leben, als Bergleute einen Betonklotz auf ein Auto werfen, in dem ein arbeitsbereiter Kumpel sitzt
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gehen der Polizei hat die Streikenden schwer getroffen. Dennoch hat Scargill in Orgreave den Kampf um die öffentliche M e i nung verloren. Ein TV-Bericht zeigt eine Szene mit Steine werfenden Arbeitern, dann die Polizei; es entsteht (zu Unrecht, wie sich später herausstellt) der Ein druck, dass die Gewalt von den Streiken den ausgegangen ist. Auch die Zeitungen berichten zu meist einseitig von der Gewalt der Berg leute. Thatcher spricht von einem Kampf zwischen der „Herrschaft des Rechts“ und der „Herrschaft des Mobs“. Arthur Scargill macht es den Geg nern der NUM leicht. Er streitet selbst dann noch ab, dass es Ausschreitungen seiner M änner gegeben hat, wenn die unübersehbar sind. Da er in Journalisten grundsätzlich Agenten der Regierung sieht, fühlen Reporter sich zwischen den Streikposten wie in Feindesland. Und während sich das Coal Board offiziell zu Gesprächen und Kompromis sen über die geplanten Schließungen be reit zeigt (oft nur, um besser dazustehen - die Regierung ist gar nicht an einem Ausgleich interessiert), bleibt der NUMC hef starr: keinerlei Schließungen. Führer anderer Gewerkschaften so wie Labour-Politiker suchen zu vermit teln - und verzweifeln immer wieder an Scargills Unnachgiebigkeit. „Er w ill ei nen totalen Sieg“, stöhnt der Vorsitzende der Druckergewerkschaft, „und er wird damit die NUM zerstören.“ Bis heute ist umstritten, ob Scargill eine andere Wahl hatte. Seine Verteidiger meinen, M argaret Thatcher habe von Beginn an die scheinbar übermächtige NUM zerschlagen w ollen, notfalls schrittweise. Seine Gegner argumentie ren, er habe ihr erst durch seine Kompro misslosigkeit die Chance dazu gegeben. Vor allem aber lässt er unter den Bergleuten nie eine Urabstimmung über den Streik abhalten - ob aus Sorge, sie zu verlieren, oder aus Selbstgerechtigkeit, oder weil er den Moment verpasst, bleibt ungeklärt. A uf jeden Fall kostet ihn die ses Versäumnis wichtige Unterstützer, auch in den eigenen Reihen, etwa in dem traditionell gemäßigten NUM-Gewerkschaftsbezirk Nottinghamshire. Dort arbeiten rund 30 000 Bergleute weiter,
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Danach setzt eine Pause ein, Stun den der Ruhe auf dem Schlachtfeld. Während die Polizisten an diesem heißen Sommertag in ihren Uniformen schwit zen, sonnen sich die Bergleute, spielen Fußball oder kaufen sich in einem nahen Supermarkt Getränke. Doch dann werden erneut Steine geworfen, rücken Polizisten in geschlos sener Formation vor, jagen Reiter los, die Knüppel gezogen, und schlagen zu. Wo sich die Fronten auflösen, tre ten und prügeln Arbeiter und Polizisten aufeinander ein, Verwundete und Be wusstlose liegen auf dem Boden, Verhaf tete werden weggezerrt, Streikende flie hen in Panik, schieben sich an einem Bahndamm gegenseitig aus dem Weg. A uf einem Schrottplatz finden die Arbeiter frische Wurfgeschosse, m in destens ein Auto geht in Flammen auf, ebenso erbeutete Knüppel und Schilde. S ch ließ lich v erlagert sich die Schlacht in das Dorf Orgreave, wo Poli zisten die Streikenden bis in die Häuser von Anwohnern verfolgen, die den A r
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Durch Blockaden wollen die Bergarbeiter die mit Koks betriebenen Stahlwerke lahmlegen und die Regierung so zum Einlenken zwingen. Doch London schickt Tausende Polizisten, um die Kokstransporte zu bewachen
vielleicht aus W iderw illen gegen den Konfrontationskurs oder in der Hoff nung, von den Schließungen nicht be troffen zu sein. In Thurcroft wünschen sie diesen Streikbrechern Pestizide und Unfruchtbarkeit auf den Leib. Auch in Nottinghamshire versucht Scargill, seine mobilen Streikposten auf zustellen. Doch die Polizei riegelt die Region systematisch ab: Uniformierte halten Busse und Autos an und zwingen die Fahrer, umzukehren. Später wird bekannt werden, dass die Regierung Agenten losschickt, die in Nottinghamshire für eine Abspaltung von der NUM werben. Polizei und Ge heimdienste bestechen Funktionäre, hö ren Hotels und Restaurants ab, die den Gewerkschaftsführern als Treffpunkte dienen, zapfen Telefone an, senden mög licherweise gar Provokateure aus, die Streikposten zur Gewalt verleiten sollen. Führer der Hafenarbeitergewerk schaft lassen sich anscheinend auf heim liche Deals ein, um unter der Hand Importkohle ins Land zu bringen. Und Geschäftsleute bezahlen die Anwälte für arbeitswillige Bergarbeiter, die gegen ei nen Streik ohne Urabstimmung klagen. Gleichwohl strahlt Scargill unge brochene Zuversicht aus. Drei Tage nach der Niederlage bei Orgreave kommt die Sommersonnenwende, die Nächte wer
Als die streikenden Bergarbeiter am Eingang dieser Kohlegrube bei Dover Kollegen sehen, die wieder einfahren wollen, versuchen sie, den Polizeikordon
den wieder länger, die kalte Jahreszeit rückt näher - und mit ihr die Monate des größten Energiebedarfs. „Die Zeit ist jetzt auf unserer Seite!“, lautet seine Pa role. Schaffen die Streikenden es bis in den W inter, werden sie siegen. Zunächst aber wächst unter den unbezahlten Arbeitern die Not. Eltern wissen oft nicht, woher sie den nächsten Laib Brot, ein Glas M ilch für ihre Kin der nehmen sollen. Ehen zerbrechen unter dem Druck. Mancher geht zurück an die Arbeit und ist lieber ein Scab, als zu hungern. Derweil nehmen die Kohlehalden ab. Beide Seiten spielen auf Zeit: Geht zuerst der Regierung die Energiereserve aus - oder den Bergleuten die Durchhaltekraft?
4. M a i 1979, London, 10 Downing Street. Im blauen Kostüm und gemus terter Bluse mit Schleife steht Margaret Thatcher vor dem Amtssitz der briti schen Prem ierm inister, um ringt von Journalisten. Am Tag zuvor hat sie die W ahl gewonnen - weil viele Briten ein fach einen Neuanfang wollten. Und die neue Regierungschefin macht sich mit nahezu religiösem Eifer an ihre Mission. Das Kabinett senkt den Höchstsatz der Einkommensteuer von 83 auf 60 Prozent, den Eingangssteuer satz von 33 auf 30 Prozent; zum Aus gleich wird die M ehrwertsteuer ange hoben. Um die Inflation zu bekämpfen, werden die Staatsausgaben reduziert. Enge Getreue von Thatcher erhal ten strategische Posten: Ein Mentor wird M inister für Industrie, ein ideologischer Mitstreiter M inister für Energie. Dessen A uftrag lautet, das Netz von Kernkraftwerken auszubauen: aus drücklich mit dem Ziel, Großbritannien weniger abhängig von der Kohle zu ma chen - und somit von der NUM. Der Industrieminister soll die Pri vatisierung von Staatsbetrieben vorberei ten. Er heuert einen Investmentbanker an und setzt ihn an die Spitze des staat lichen Stahlkonglomerats British Steel: den fast 70-jährigen Ian MacGregor. Zu der Zeit beschäftigt British Steel 166 000 Menschen und macht einen Jah resverlust von mehreren Hundert M il-
zu durchbrechen und zu den Arbeitswilligen zu gelangen
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Geschützt mit Schilden und Helmen, steht eine Spezial truppe der Polizei in Yorkshire randalieren den Bergarbeitern gegenüber. Im Hinter grund steigt der Rauch brennender Autos auf, die die Streikenden angezündet haben
rmutigt von diesem Erfolg, kürzt der Energieminister Anfang 1981 die Subventionen für das National Coal Board, um so die Schließung unwirtschaftlicher Zechen zu erzwingen. Doch anders als die Vertretung der Stahlarbeiter ist die NUM kompro misslos - und zudem siegessicher, seit sie Edward Heath aus dem Amt getrieben hat. Binnen weniger Tage legt rund die Hälfte der Kumpel die Arbeit nieder: ohne Urabstimmung und damit illegal. Eine offene Provokation. Ohne Nachschub aber reichen die Kohlevorräte nicht aus, das Land über den W inter mit Strom zu versorgen. Re gierung und das Coal Board lenken ein. W ieder haben die Bergarbeiter gesiegt. Zugleich aber verschärft sich in Großbritannien die Rezession. Im Früh ling veröffentlichen 364 Wirtschaftswis senschaftler eine Erklärung, die mit der Regierung abrechnet: Sie mache buch-
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stäblich alles falsch und steuere das Land in eine Katastrophe. Mehrere Innenstädte in verarmten Regionen werden von Un ruhen und Plünderungen erschüttert. Während ihre Kritiker ein Ende der Einschnitte fordern und auf eine keynesianische Rettungspolitik drängen, bleibt Margaret Thatcher stur: Subventionierte Industriearbeitsplätze müssten verschwin den, dam it langfristig w irtschaftliche „Jobs von morgen“ im Dienstleistungs sektor entstehen könnten. Auch wenn die Rosskur härter ausfällt als erwartet, sei sie doch „ohne Alternative“. Längst gilt sie selbst einigen ihrer M inister als verbohrte Ideologin, deren Festhalten an neoliberalen Rezepten weltfremd sei. Verächtlich sprechen eta blierte Konservative von „dieser Frau“. Ende 1981 ist sie so unpopulär wie kein Premier seit Einführung der M ei nungsumfragen. Die Industrieproduktion ist um ein Viertel gefallen, das Brutto sozialprodukt geschrumpft, die Arbeits losigkeit steigt rasant, die Inflation er reicht zeitweilig 22 Prozent. Thatchers neoliberale Revolution scheint gescheitert, ihr Sturz und das Ende des Experiments nur eine Frage der Zeit. Da verschafft ihr eine Fehlkal kulation im Südatlantik eine Chance.
2. April 1982, Falkland-Inseln. Der karge Archipel 600 Kilometer vor der Küste Argentiniens - das die Inselgruppe seit
Langem für sich beansprucht - ist ein winziger Restposten des ehemaligen bri tischen Weltreichs. 1800 Menschen le ben hier sowie mehrere Hunderttausend Schafe. Um Geld zu sparen, hat London entschieden, das letzte Patrouillenschiff von der Kolonie abzuziehen. Das deutet die Militärjunta in Bue nos Aires als Signal, dass die Briten ihre Rechte aufgeben. Innerhalb weniger Stunden besetzen argentinische Truppen die Inseln und hissen über dem w ell blechgedeckten Hauptort Port Stanley ihre hellblau-weiße Flagge. Einen Tag später steht Thatcher vor dem empörten Parlament der gedemütigten Nation. Und gibt eine unerwartet rabiate Antwort: Binnen 48 Stunden werde eine Vorhut der Royal Navy zur Rückeroberung der Inseln auslaufen. Es ist ein aberwitziges Hasardspiel. Ohne Vorbereitung bringt das M ilitär eine A rm ada von 100 Schiffen und 26 000 M ann zusammen, um sie über fast 13 000 Kilometer in den südatlanti schen W inter zu schicken und dort ein Landemanöver unter Feuer zu wagen. Doch es geht um mehr als ein paar Felsen und abgelebtes Prestige. Es geht um M argaret Thatchers politische Zu kunft - und damit um alles, an das sie glaubt. Anfang M ai beginnen die Kämpfe zur See, drei Wochen später an Land. Am 14. Juni kapitulieren die Argen tinier auf den Falklands.
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lionen Pfund. MacGregors Lösung ist kompromisslos: Unprofitable Fabriken müssen schließen, die verbleibenden wer den modernisiert. Innerhalb w eniger Jahre drückt er die Belegschaft auf 71000 Arbeiter - und schafft so einen der kon kurrenzfähigsten Stahlkonzerne Europas. Allerdings ist dies nur möglich, weil die Gewerkschaften der Stahlarbeiter bereits zuvor in einen Tausch eingewilligt hatten: Entlassungen gegen höhere Löh ne für den Rest.
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M ehr als 250 Briten sind gefallen, über 650 Argentinier - viele weitere wur den verwundet, verstümmelt, traumatisiert. Alles für einen an sich nutzlosen Flaggenmast am Ende der Welt. Doch es macht aus der unbeliebten Reformerin eine Volksheldin: Der Falk landkrieg verleiht M argaret Thatcher eine Gewinner-Aura. Als sie sich im Jahr darauf zur W ahl stellt, erlangt sie einen Erdrutschsieg. Und sie ist nicht mehr allein. Auch anderswo sind wirtschaftsliberale Ideen auf dem Vormarsch. In den U SA folgt Präsident Ronald Reagan diesem Kon zept und senkt massiv die Steuern, in der Bundesrepublik regiert eine bürgerliche Koalition unter H elm ut Kohl - und im fernen China hat Staatsführer Deng Xiaoping den Wechsel der offiziell kom munistischen Volksrepublik zum Kapi talismus eingeleitet. M argaret Thatcher kann sich als Vorreiterin einer Bewegung fühlen. Mehr denn je ist sie entschlossen, mit den bei den Erzübeln der britischen W irtschaft aufzuräumen, wie sie es sieht: den Staats betrieben und den Gewerkschaften. Längst arbeitet ein geheimer Kabi nettsausschuss daran, eine Strategie ge gen die Bergarbeiter zu entwickeln: den „inneren Feind“, wie die Premierminis terin in Anspielung auf den argentini schen A ngriff bald sagen wird.
29. September 1984, London. Für die Regierung ist die Nachricht ein Schock: Die 16 000 M itglieder der moderaten Steigergewerkschaft, also der Interessen vertretung der Grubenaufseher, haben mit großer M ehrheit dafür gestimmt, sich dem Streik der NUM anzuschließen; der Beginn des Ausstands wird auf den 25. Oktober festgelegt. Sind die Steiger nicht vor Ort, verbieten Sicherheitsvor schriften den Förderbetrieb. Auch die Minen in Nottinghamshire, in denen die meisten Kumpel trotz des Streiks ja Wei terarbeiten, lägen dann still. Die Schuld trägt Ian MacGregor. Der Mann, der innerhalb von drei Jahren British Steel saniert hat, ist anschließend an die Spitze des Coal Board berufen worden. Und setzt abermals auf Härte: Steiger, die sich von NUM-Streikposten
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Ohne Kohle droht Großbritannien ein kalter Winter aufhalten lassen, sollen ihren Lohn ver lieren. W orauf die Grubenaufseher nun mit W iderstand reagieren. Erbost verlangt Thatcher von Ian MacGregor, das Problem zu lösen. Denn inzwischen breitet sich in einigen Kabinettressorts U ntergangs stimmung aus. Die Kohlevorräte gehen bedenklich zurück. Mobile Streikkom mandos verhindern immer wieder, dass Reserven dorthin gelangen, wo sie ge braucht werden. Beamte warnen, dass etliche Schulen bald mangels Heizmate rials schließen müssten - und dass wie zehn Jahre zuvor die Stromversorgung einbrechen könnte. Im kleinen Kreis überlegt die Pre mierministerin, das M ilitär einzusetzen, um die Kohle zu transportieren. Unter dem massivem D ruck der Regierung einigt sich MacGregor am 24. Oktober, einen Tag vor Streikbeginn, mit den Vertretern der Steiger: Er sichert unter anderem eine Überprüfung der angekündigten Grubenschließungen zu. In der Annahme, einen Sieg für alle Bergleute errungen zu haben, sagen die Steiger ihren Ausstand ab. Für Scargill ist das Verrat: Er glaubt M acGregor kein W ort. (Zu Recht, die Zusage rettet nicht eine Zeche; dafür kommt der Verdacht auf, die Unterhänd ler der Steiger seien gekauft worden.) Dennoch bringt der 25. Oktober die Wende - zugunsten Thatchers. Zum einen nimmt an diesem Tag ein TV-Team in Nordafrika eine Szene auf, die zwei M änner beim Bruderkuss
zeigt. Der eine ist Libyens D iktator M uam m ar Gaddafi, als Förderer des internationalen Terrorismus im Westen gehasst wie kaum ein zweiter Staatschef. Der andere ist Roger W indsor, NUMGeschäftsführer und A rthur Scargills engster Vertrauter. Vermutlich sollte er um Hilfe werben, und wahrscheinlich hat Gaddafi ihm Geld zugesagt. Das Bild wird zum Skandal, diskreditiert die Ge werkschaft für viele Briten endgültig, kostet sie Sympathien, Zusammenhalt. Zum anderen entscheidet in Lon don ein Richter, das Vermögen der NUM vorläufig zu beschlagnahmen, weil sich die Gewerkschaft geweigert hat, wegen der unterlassenen Urabstimmung eine hohe Geldstrafe zu bezahlen. Mühsam gelingt es Scargill weiter zumachen, mithilfe von Darlehen und Spenden aus dem In- und Ausland. Britische Gewerkschaftsführer lei hen ihm große Summen, in bar und auf guten Glauben. Arbeiterorganisationen aus G riechenland, Bulgarien und der Tschechoslowakei senden Dollarnoten. Besonders großzügig ist Frankreichs kommunistischer Gewerkschaftsbund CGT, der bereits zuvor Lebensmittelkon vois und Geld geschickt hat. ald werden H underttausende Pfund dieser Spendengelder in Koffern, Plastiktüten und Papp kartons durch das Land transpor tiert, um Gehälter der Gewerkschafts angestellten und Strom zu bezahlen, Druckereikosten für Flugblätter, Rechts anwälte, Sprit und Streikpostengeld sowie H ilfsleistungen für notleidende Familien. Sowjetische B ergleute sammeln mehr als zwei M illionen Rubel, von denen zwei Schiffsladungen mit Essen und Kleidung gekauft werden - die der britische Zoll indes wegen fehlender Einfuhrlizenzen abweist. Französische Aktivisten werfen ton nenweise für Großbritannien bestimmte Kohlelieferungen ins Meer, versenken mit im Zweiten W eltkrieg erprobten Unter wassersperren Frachter. In Australien erzwingen Bergarbei ter und Seeleute einen Ausfuhrboykott gegen das Königreich. Aus Italien errei chen lastwagenweise Spaghetti Yorkshire.
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Bei den Streikposten besonders gefürchtet sind die berittenen Polizisten, die blitzschnell aus der Formation hervorstoßen und auf die Arbeiter einknüppeln
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Zwei Sanitäter stützen A rthur Scargill, der bei Protesten in Orgreave eine Gehirnerschütte rung erlitten hat. Er sei zusammengeschlagen worden, sagt der Gewerkschafter. Er sei gestürzt, sagt die Polizei
Polizisten führen in Orgreave einen blutüber strömten Streikposten ab. Insgesamt werden bei dem zwölf Monate andauernden Ausstand rund 20 000 M en schen verletzt
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Nach dem Streikende ist Margaret Thatcher stark wie nie - die Macht der Gewerkschaften hat sie gebrochen, dem Neoliberalismus zum Sieg verholfen
Doch schließlich beginnt der W i derstand dennoch zu bröckeln. Nach und nach kehren Tausende Bergarbeiter in die mittlerweile zum großen Teil von Polizisten geschützten M inen zurück. Zwischen den Arbeitsbereiten und den Standhaften entsteht bittere Feindschaft, die sich auch auf die Ehepartner über trägt und die Gemeinschaften vergiftet. Denn das Rückgrat der ausharren den M ehrheit bilden nach wie vor die Frauen. Sie versorgen die im Straßen kam pf zusammengeschlagenen M än ner, führen Suppenküchen, protestieren, wenn wegen unbezahlter Rechnungen Strom und Gas abgestellt werden sollen. Sie lesen Kohlebrocken aus den Abraum halden, um ihre Häuser zu heizen, und stehlen auf den Feldern Kartoffeln. Am 13. November tritt der 90 Jahre alte Harold M acmillan, Thatchers Vor vorgänger als konservativer Premier, vor das Oberhaus. Beseelt von jenem klassenübergreifenden Patriotismus, der das Fundament des Attlee-Konsenses gebil det hatte, ruft er verzweifelt nach einer Einigung mit „den besten Männern der W elt, die die Armee des Kaisers und Hitlers Armee besiegt haben“. M argaret Thatcher aber will davon nichts wissen. Für sie sind M änner wie M acmillan mitschuldig am Niedergang des Landes, an seinen Verkrustungen und sozialistischen Fieberträumen. Denn der lähmende Konsens sei den alten Eliten ja nicht aufgezwungen, sondern von diesen bereitwillig akzep tiert worden, und Thatcher verachtet eine
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solche Ausgleichspolitik, hält sie für be queme Feigheit. Der Streik verschärft sich. Scargills M änner greifen arbeitswillige Kollegen an, werfen Scheiben ein, zerstören Autos, töten Haustiere der Scabs. Am M orgen des 30. November warten zwei junge Bergleute auf einer Straßenbrücke in Wales auf eine Polizei eskorte mit einem prominenten Streik brecher; als der Wagen unter ihnen pas siert, wuchten sie einen Betonklotz über das Geländer. Der Fahrer ist sofort tot. Der Kampf um die Zukunft des Landes beginnt die britische Gesellschaft endgültig zu zerreißen.
5. M ärz 1985,Thurcroft. Die 800 Berg arbeiter, Frauen und Unterstützer, die sich hinter dem Karren m it dem gro ßen Banner der NUM formiert haben, gleichen einem Trauerzug. Angehörige, Nachbarn, Veteranen säumen die Straße. Still setzt die Prozession sich in Bewe gung; hin und wieder ertönt ein Lied. Viele haben Tränen in den Augen. Sie sind geschlagen, kehren in die Grube zurück, ohne ihre Ziele durchgesetzt zu haben. Ähnliches spielt sich vor Dutzen den Zechen ab: Da mehr als 50 Prozent der Bergleute aus Not zu Streikbrechern geworden sind, hat die NUM die Rück kehr zur Arbeit festgelegt - ohne eine Vereinbarung mit dem Coal Board. Das ist die bedingungslose Kapitulation. Ein Jahr hat der Streik gedauert. Rund 20 000 M enschen sind verletzt,
Als Verlierer des Arbeitskampfes kehren die Bergleute im März 1985 in die Zechen zurück. Viele von ihnen sind nach dem einjährigen Streik hochverschuldet, nicht wenige haben ihre Häuser verloren
drei getötet worden. Knapp 10 000 Streikposten hat die Polizei verhaftet, 200 sind zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Obwohl die Regierung es durch Truppenverschiebungen zu vermeiden suchte, standen in den Gemeinden im mer wieder Uniformierte ihren Freunden und Verwandten gegenüber, machte mancher junge Polizist auf der Gegen seite seinen Vater aus. Nun sind viele der Arbeiter hoch verschuldet, nicht wenige Familien haben ihr Heim verloren. Hunderte Bergleute sind entlassen worden, ohne Aussicht auf W iedereinstellung. Von der Macht, mit der die Gewerkschaft einst den Einzel nen schützen konnte, ist wenig geblieben. Als die M änner einfahren, stellen sie in etlichen Gruben fest, dass es keine Mäuse mehr gibt. Ohne die Krümel aus den Esspaketen sind sie verhungert.
28. November 1990, London. In 10 Downing Street steht Margaret Thatcher mühsam gefasst vor den Mikrofonen. Sie sagt: „W ir sind sehr glücklich, dass wir
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das Vereinigte Königreich in einem sehr, sehr viel besseren Zustand hinterlassen als vor elfeinhalb Jahren, als wir hier ein gezogen sind.“ Dann verabschiedet sie sich. Sie wirkt eher wie eine Siegerin als wie eine scheidende Regierungschefm, die gerade von den eigenen Leuten ge stürzt wurde. Es ist das Ende einer Ara. Nicht aber der liberalen Revolution. Der Putsch in der Konservativen Partei galt Thatchers zunehmend herrischer Radikalität, weniger dem Programm. Ihr Nachfolger John Major denkt ebenso neo liberal wie Tony Blair aus der LabourPartei, der ihn 1997 ablösen wird. Auch andernorts setzt sich der Glaube an den M arkt durch, die Skepsis gegenüber dem W ohlfahrtsstaat und einer politisch gelenkten W irtschaft. Doch hat Margaret Thatchers Re volution Großbritannien wirklich in ei nem besseren Zustand hinterlassen? Ihr Sieg gegen Arthur Scargill wird der britischen Gewerkschaftsbewegung nach und nach das Rückgrat brechen. Un aufhaltsam schwindet nun deren Macht, Arbeiterinteressen zu schützen - aber auch den Staat zu erpressen. Scargills Männer erleben, wie seine Vorhersagen eintreffen: Als 1994 die Reste der Branche privatisiert werden, sind nur noch 16 Gruben mit 8000 Berg leuten geblieben. A uf weniger drastische Weise wer den Dutzende ineffizienter Staatskon zerne verkauft, darunter Betreiber von Häfen und Flughäfen, die Strom- und Wasserversorger, später die Eisenbahn und die Post sowie British Airways, B ri tish Gas und der Autobauer Rover. Den Auftakt macht 1984 British Telecom, die frühere Telefonsparte der Post - ein Moloch, der manchmal M o nate für einen neuen Anschluss braucht, Kunden als Bittsteller behandelt und nicht einmal ein ordentliches Rechnungs wesen hat, weil niemand auf die Kosten achtet. Der Industrieminister baut den Staatsbetrieb zu einem Serviceunterneh men um und bringt es auf den Markt. Dabei geht es nicht allein um Effi zienz. Margaret Thatcher hat die Vision eines „Volkskapitalismus“, einer „Demo kratie der Kapitaleigentümer“; jeder soll shareholder w er d en können, Arbeiterkind wie Krämerstochter. Deshalb wirbt die
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Regierung vor allem um Kleinanleger m it Erfolg: Gegen den Rat ihrer Ge werkschaft wollen 95 Prozent der BritishTelecom-Belegschaft und mehr als eine Million Sparer die Aktien des Unterneh mens zeichnen. Bis 1990 steigt die Zahl der Aktien besitzer dramatisch an. Ähnlich beim Immobilienbesitz: Die Regierung ver kauft staatliche Häuser und Wohnungen zu günstigen Konditionen an die Mieter und macht sie so zu Eigentümern. ugleich aber verlieren M illionen ihren Job; erst M itte der 1990er Jahre beginnt die Arbeitslosen quote dauerhaft zu sinken. Wo neue Stellen entstehen, vor allem im Dienstleistungssektor, in Call-Centern, Fast-Food-Restaurants und A usliefe rungslagern, sind sie oft schlecht bezahlt - indes immer noch attraktiver als die Sozialleistungen. Die alten Industriezen tren veröden, sind bald gezeichnet von Armut, Verfall, Kriminalität und Drogen. Bei der später veräußerten Eisen bahn geht die Privatisierung zu Lasten der Qualität. Die unpünktlichen Züge sind verschmutzt, die Bahnhöfe überfüllt - doch die Fahrkartenpreise steigen. Allerdings setzt rund um die M e tropole London ein Boom ein. Banken, Versicherungen und die neue Computer branche profitieren von massiven Dere gulierungen; vor allem auf dem Finanz markt werden Vermögen verdient. Niedrigere Steuern, steigende Ge hälter und leicht zugängliche Kredite kommen nun auch der breiten M ittel schicht zugute. Für sie beginnt eine Ära des eifrigen Konsums, des zunehmenden W ohlstands. Die britische W irtschaft wächst. Daher fällt das Urteil von Ökono men über Thatchers Reformen zwiespäl tig aus. Dennoch verbreiten sich neoliberale Prinzipien nach 1990 rasch. Viele Länder privatisieren in großem Maßstab Staats betriebe. Der Euro wird als antiinfla tionäre H artw ährung konzipiert, die Teilnahme an strenge Haushaltsdisziplin gebunden. In Deutschland reformiert ab 2002 die Bundesregierung unter Gerhard Schröder den Arbeitsm arkt in A nleh nung an Thatchers Vorbild.
Güter- und Finanzmärkte werden dereguliert. Technologischer Wandel und Globalisierung sowie die Alterung der europäischen Gesellschaften lassen den W ohlfahrtsstaat zunehmend unhaltbar erscheinen. Zugleich aber wächst das Unbeha gen am wiederbelebten Kapitalismus. Er erscheint kalt, brutal und unberechenbar. Friedrich August von Hayek, der 1992 stirbt, hat sich gefragt, woher die ser W iderw ille gegen ein System rührt, das verlässlich Wohlstand schafft - und woher die Hoffnung auf eine Obrigkeit, deren Planung doch regelmäßig versagt. Seine Erklärung: Der Mensch habe den größten Teil seiner Evolution in klei nen, gefährdeten Horden gelebt und dabei einen moralischen Instinkt entwi ckelt, der Gleichheit und Fürsorge schät ze, auf Vorausplanung und abgestimm tes Handeln setze. Privateigentum und Handel, abstraktes Recht, offener W ett bewerb und deutliche Vermögensunter schiede widersprächen diesem Instinkt. M argaret Thatcher wird für ihre Verehrer zu einer der größten Englän derinnen überhaupt, denn sie habe den Niedergang des Landes abgewendet, den verkrusteten Sozialismus besiegt. Ihren Gegnern gilt sie dagegen als engstirnige Fundam entalistin, die aus blanker Ideologie Industrien vernichtete, Ungleichheit und rücksichtslose Gier zu Prinzipien der Gesellschaft erhob. Als sie 2013 stirbt, säumen Tausen de Trauernde den Weg ihres Leichenzugs durch London. Andere singen „DingDong, die Hex’ ist tot“. 9
Für D r. M a th ia s M esenhöller, Jg. 1969, w ar die Recherche eine Wiederbegegnung: Der D isput zwischen Keynes und Hayek hat ihn bereits während seines Studium s der Volks wirtschaft in Freiburg beschäftigt.
LITERATUREM PFEHLUNGEN: Campbell:
John
„The Iron Lady: Margaret Thatcher“,
Random House: Zusammenfassung einer zweibändigen, kritischen Standardbiografie.
Francis Beckett und David Hencke: „Mar ching to the Fault Line. The Miners' Strike and the Battle for Industrial Britain“, Constable: aktueller, Anteil nehmender Überblick,
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G lobalisierung
DAS CONTAINER-PRINZIP Grenzüberschreitenden Handel gibt es seit Jahrtausenden. Doch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt der Kapitalismus durch Innovationen wie den Container und eine Liberalisie rung der Märkte in das Zeitalter einer wahrhaft globalisierten Wirtschaft e in ---------- voruteeberle
ie Fabriken sind meist schm uck- und fens terlos. Sie stehen in Ostasien, Lateinam e rika, Nordafrika. Die Namen, die sie tragen, sagen keinem in Europa etwas, erst recht nicht die Namen der Hundertschaften an Arbeitern, die allmorgendlich hineinund oft erst in der Nacht erschöpft w ie der hinausströmen. Dennoch ist fast jeder Europäer eng m it diesen M enschen verbunden: Sie pulen die Krabben, die in deutschen Su permärkten verkauft werden. Sie kleben Sohlen an Turnschuhe, montieren die Gehäuse von Mobiltelefonen. Manche Produkte entstehen sogar als eine Art internationales Mosaik. Der Körper vieler Barbiepuppen etwa besteht aus taiwanesischem Plastik, ihr dünnes Kunststoffhaar ist in Japan gefertigt wor den; chinesische Arbeiterinnen nähen ihre Kleider, zusammengebaut wird die Figur in Indonesien oder Malaysia. Seit etwa 1990 scheint der Kapita lismus w eltweit zu triumphieren: Die Handelsmengen werden immer größer, die Volkswirtschaften sind immer dichter miteinander verflochten, die weltweite Fertigung von W aren betrifft immer mehr M enschen. Zwischen 1993 und 2010 hat sich die Zahl der Unternehmen, die im Ausland Tochtergesellschaften unterhalten, mehr als verdoppelt. 2011 wurden Waren im Wert von 18 Billionen Dollar grenzüberschreitend gehandelt. Das entspricht einem Viertel der globa len Wirtschaftsleistung. Es ist indes nicht allein wirtschaft liches Gewinnstreben, das diese Globa-
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lisierung entfacht hat: Die Zunahme der Handelsströme und die engere Verzah nung der Nationalökonomien wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielmehr bewusst von Politikern zahlrei cher Länder herbeigeführt, die zu diesem Zweck unter anderem Zölle senkten und Einfuhrbeschränkungen abbauten.
Seit Jahrtausenden treiben Geschäftsleu te über die Grenzen ihrer Heimatländer hinweg Handel. Schiffe und Karawanen brachten schon in der Antike Seide aus China und Gewürze aus Südostasien in den Mittelmeerraum. Durch die Expan sion der Europäer nach Amerika, Asien und Afrika entstand im 16. und 17. Jahr hundert erstmals ein globaler Handels raum. Die Industrialisierung im 19. Jahr hundert beschleunigte den weltweiten Warenaustausch. Denn dank der neuen Maschinen ließen sich nun immer leich ter immer mehr Güter für den Export produzieren. Allein: Noch immer war es mühsam und zeitraubend, Distanzen zu überwin den. Eine Segelfahrt von Europa nach Ostasien dauerte neun Monate, eine A t lantiküberquerung 40 Tage. Erst ab etwa 1850 verkürzten Dampfschiffe und die Eisenbahn Reisezeiten. Um 1900 ließ sich Amerika von Europa aus in drei bis fünf Tagen erreichen, mit Kühlschiffen wurde es m öglich, auch verderbliche W are wie Früchte oder Fleisch von ei nem W eltteil in den anderen zu liefern. Und doch blieb es aufwendig und teuer. Kiste für Kiste, Sack für Sack mussten W aren aus dem Schiffsbauch in Eisenbahnwaggons oder Lastwagen
umgeladen werden. Bis der Amerikaner M alcolm M cLean um 1955 große, mo bile, in den Ausmaßen genormte M etall behälter entwickelte, die an den Zwi schenstationen der Handelswege nicht ausgepackt werden mussten, sondern komplett von Frachtern auf Sattelschlep per oder Güterzüge umgesetzt werden konnten. Der Handel verbilligte und beschleunigte sich durch diese „Con tainer“ entscheidend. M illionen solcher Kisten waren bald zu Land und zu W as ser unterwegs. In den 1990er Jahren verband sich das Container-Prinzip mit anderen Ent wicklungen, die globale W irtschaft er hielt einen nie da gewesenen Schub. Was die metallenen Behälter in der physi schen W elt bewirkten, leistete auf dem Gebiet der Kommunikation das in dieser Zeit entstehende Internet. Es beschleu nigte und vereinfachte den internationa len Nachrichtenaustausch zwischen Ge schäftspartnern, die Abstimmungen über Produkte, Lieferungen und Verträge. Zudem veränderte sich die politi sche Lage. Der Kollaps der sozialisti schen Regime im Osten Europas um 1990 öffnete dem kapitalistischen Markt system gew altige neue Gebiete. Und schon bald reagierten Politiker auf die gewandelte weltwirtschaftliche Situation. Bereits nach dem Zweiten W elt krieg hatten sich zahlreiche Staaten zu sammengetan, um nach den Erfahrun gen der Weltwirtschaftskrise, als der glo bale Austausch dramatisch eingebrochen war, den internationalen Handel durch Abkommen zu erleichtern. Nun gaben die Regierungen der Liberalisierung des Warenverkehrs einen neuen, größeren
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institutioneilen R ahm en. 1994 grü n d e S anktionen ahnden. D o ch auch au ß er A n tw o rt lautet: ja u n d nein. U n d kein ten 76 S taaten, d aru n te r D eutschland, halb d er W T O v erh a n d eln P o litik e r L an d illustriert das besser als C hina. die W orld T rade O rgan isatio n (W e lt und Fachleute über eine weitere L ibera h an d elso rg an isatio n ). D ie M itg lie d e r lisierung des W elthandels. So sind die gaben nationale M achtbefugnisse an den Europäische U nion und die U SA seit Juli In vieler H in s ic h t h at der sich im m er V erbund ab, u nterw arfen sich etw a bei 2013 in G esp räch en ü ber den Z u sa m noch „kom m unistisch“ nennende Staat Handelsdisputen dem Schiedsspruch der durch die E in b in d u n g in die W eltw irt m enschluss zu einer gigantischen F rei O rganisation. W eitere 84 Staaten traten handelszone. schaft stark gewonnen. Vor knapp 40 Jah der W T O in den folgenden Jahren bei. N ich t zuletzt durch die A rb eit der ren w ar C hina eines der ärm sten Länder D as Z iel dieser G em einschaft von W T O ist der W e rt aller in te rn atio n a l der E rde. E in Bürger verdiente dam als 160 Staaten ist es seither, einen von Z ö l ausgetauschten G üter zwischen 2000 und durchschnittlich um gerechnet kaum 200 len und anderen H em m nissen ungehin 2007 fast doppelt so schnell gew achsen U S -D o llar pro Jah r - w eniger als M e n derten Austausch von W aren und D ienst wie die globale W irtschaft. Viele Firm en schen in U ganda oder A fghanistan. D ie leistungen zu erm öglichen. D e n n viele h an d e ln zu d em n ic h t n u r g ren z ü b er Volksrepublik war abgew irtschaftet und Ö k o n o m en gehen davon aus, dass von sc h re ite n d , sie erö ffn e n au ch d ire k t rückständig. Es herrschte eine unproduk einem u n eingeschränkten H an d e l alle Zw eigstellen in anderen Staaten, errich tive Planwirtschaft. Beamte befahlen U n L änder Vorteile haben. K önnen W aren ten dort etwa Fabriken, um von günstigen ternehm en, was und wie viel sie herstelfrei über die G ren zen fließen, so ihre L ohnkosten zu profitieren. len sollten. M achte ein Betrieb Verluste, glich die Staatsführung sie aus. Viele All A rgum entation, profitierten zum einen Bis 2 0 0 8 h ab en w eltw eit 80 0 0 0 tagsprodukte waren knapp. G etreide, Ö l die V erbraucher: Sie fänden m ehr P ro U n tern eh m en Teile ihres G eschäfts ins dukte in den L äden, als einheim ische A u sla n d v erlegt. Sie b e trie b e n d afü r u n d Seife w urden rationiert. Industrien anbieten könnten, und zu teils 800 0 0 0 T o ch terg ese llsc h aften . T eils A b 1978 öffnete C hinas K P -C h e f günstigeren Preisen. sind d ad u rch m äch tig e W e ltk o n z ern e D eng Xiaoping das L and jedoch schritt en tsta n d e n : D ie U S -W a re n h a u sk e tte D ie „Liberalisierung“ (also „Befrei weise für die M arktw irtschaft. Rund um ung“ der M ärkte) bringe aber auch Im W a lm a rt erzielte 2013 ein en globalen S tädte wie Shenzhen w urden „Sonder pulse für die beteiligten Volkswirtschaf U m satz von 476 M illiarden U S-D ollar. w irtsch a ftszo n e n “ ein g erich tet - Ver ten. Sie w ürden durch die internationale D as ist m eh r als das B ru tto in lan d sp ro suchslabore des K apitalism us. Für aus dukt von Ö sterreich. N achfrage, durch die gew achsene K äu län d isch e G esch äftsleu te w ar das ein ferschaft stim uliert. D u rc h den E xport D o ch h a t die G lo b alisieru n g der attraktiver S tandort: D ie L ö h n e w aren v ergangen en J a h rz e h n te auch für die in Shenzhen um 75 Prozent niedriger als entstünden A rbeitsplätze, und ausländi sche D evisen strö m te n ins L an d . D e r V olksw irtschaften der W e lt das erfüllt, im benachbarten H ongkong, die M ieten L ebensstandard erhöhe sich. was Ö konom en versprochen haben? D ie sogar oft um 95 Prozent. D ie L e itsä tz e der Zwar hat die O brig k eit ihre K o n tro lle der W T O fo rd e rn deshalb, W irtschaft bis heute nicht dass L änder ihre M ärkte völlig aufgegeben - im gegenseitig öffnen u n d ausländische In v estitio m er n o ch w ird k n ap p nen zulassen. U nd so fin ein D rittel der Industrie den unter dem D ach der güter, vor allem in w ich O rg a n isa tio n bis heute tig en S ek to ren w ie der im m er neue V erhandlun S ta h lin d u strie u n d der gen statt, in denen etwa P etro ch em ie, in staats w eitere Z o llsen k u n g en , eigenen Betrieben produ der freie A ustausch von ziert. U n d sie beaufsich D ien stle istu n g e n sowie tig t ausländische Firm en R e g e lu n g e n d is k u tie rt streng. D och statt auf die w erden, die den in te r P lan w irtsch aft setzt die nationalen U m gang m it Staatsführung längst auf die D y n am ik des M a rk Patenten sowie Film - und M usikrechten betreffen. tes. A uch die Regierungs betriebe arbeiten nun ge E in S chiedsgericht w in n o rien tiert. E h em a schlichtet Konflikte zw i schen M itg lie d sta a te n , lige M o n o p o le w u rd en V erstöße gegen einm al Um 1955 entwickelt der Amerikaner Malcom McLean zerschlagen - in getrennte beschlossene Vorschriften jene genormten Metallbehälter, die den Warentransport F irm en, die m iteinander kann die Vereinigung m it revolutionieren: Container (Hafen von Singapur) konkurrieren.
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Diese oft „Staats In Südkorea gingen kapitalism us“ genannte Kinder vor 40 Jahren im W irtschaftsordnung hat Durchschnitt weniger als im Land einen enormen vier Jahre zur Schule Aufschwung ausgelöst. m ittlerw eile besuchen Zwischen 1978 und 2010 fast zwei Drittel aller jun stieg Chinas B ruttoin gen Erwachsenen Hoch landsprodukt um durch schulen, damit zählt das schnittlich 9,6 Prozent L and zur W eltspitze. pro Jahr. Wohl nie zuvor Rund ein Drittel der süd in der Geschichte ist eine koreanischen W irtschaft Volkswirtschaft so lange arbeitet exportorientiert, so stark gewachsen. und jährlich fließen aus In den ersten R e ländische Direktinvesti formjahren ließen aus tionen in Höhe von über ländische Unternehmen zehn M illiarden Dollar in der Volksrepublik in G lobalisierung b e d e u te t auch, dass U n te r ins Land. Südkorea ist großen Massen Textilien nehmen w eltw eit nach den billigsten A rb e itskrä fte n heute führend in vielen nähen oder vorgefertigte suchen (N äherin in Bangladesch) Hightech-Branchen. P roduktko m p o n enten G leich zeitig aber montieren. Noch M itte wächst die Ungleichheit der 1990er Jahre bekamen innerhalb vieler Länder. chinesische Arbeiter dafür Stundenlöhne bezahlte Jobs. Millionen Wanderarbeiter Um das Jahr 2000 lebten knapp 60 Pro von zum Teil nur 13 US-Cent. ziehen von dort in die Städte, wo sie als zent der globalen Bevölkerung in Natio Doch von der „Werkbank der Welt“ M igranten nur wenige Rechte besitzen nen, in denen die Reichen in den voran wandelt sich die Volksrepublik inzwi und oft in slumähnlichen Verhältnissen gegangenen drei Jahrzehnten reicher und schen zunehmend zu einem hoch ent leben. die Armen ärmer geworden waren - und wickelten Technologieland. Die Regie Die chinesische Regierung zögert, nur fünf Prozent in Staaten, in denen die rung investiert in U niversitäten und für höhere Löhne der einfachen Arbeiter sozial Schwachen aufgeholt hatten. Die Forschung. Und die vom Staat lange Zeit zu sorgen und so die soziale Kluft zu (derzeit noch unvollständigen Zahlen), erzwungenen Partnerschaften zwischen verringern. Denn sie fürchtet, dass dies die für die Entwicklung bis 2014 vorlie einheimischen und ausländischen Betrie die Volksrepublik als Wirtschaftsstandort gen, lassen vermuten, dass sich diese Si ben haben den lokalen Unternehmern weniger attraktiv machen würde. tuation nicht zum Besseren gewendet hat. die Chance verschafft, westliche Produk Die Globalisierung hat M illionen tionsprozesse zu erlernen - und gewinn von M enschen in einst wirtschaftlich bringend zu kopieren. D ieses M uster ist mittlerweile weit ver unterentwickelten, aber nun zunehmend Chinesische Elektronikkonzerne breitet. Überall auf der W elt lässt sich industrialisierten Staaten aus der Armut und Computerbauer machen westlichen beobachten, dass durch die Globalisie geholt. Aber sie hat vor allem den Wohl Firmen auf dem Weltmarkt schon lange rung die Ungleichheit zw ischen Ländern stand der Eliten rund um die W elt ver Konkurrenz. Das Land exportiert heute abgenommen hat. Das heißt: M anche mehrt. Das kollektive Einkommen der mehr Waren als jedes andere der W elt einst arme Nationen haben wie China zu weltweit 60 M illionen vermögendsten und hat die USA als größten Produzen den wohlhabenden aufgeschlossen. Menschen hat in den vergangenen zwei ten von Industriegütern abgelöst. Gerade in Asien hat der Zugang Jahrzehnten um gut 60 Prozent zuge Allerdings zahlt China dafür einen zu den W eltm ärkten die W irtschaften nommen. Diese Gruppe profitiert unter hohen Preis: Smog vergiftet die Luft vie etlicher Staaten angetrieben. Länder wie anderem von internationalen Finanzspe ler Städte, und gesundheitsgefährdende Südkorea und Taiwan erlebten ein durch kulationen, die durch die Globalisierung Stoffe belasten die Böden der Industrie Export herbeigeführtes W achstum, in erleichtert wurden. Insgesamt verdienen zentren. Zudem driftet das Land sozial dessen Folge sich oft auch Bildung und die reichsten acht Prozent der W eltbe auseinander. Der W ohlstand, den der Gesundheitssysteme verbesserten. völkerung heute so viel wie die übrigen W irtschaftsaufschwung gebracht hat, In M alaysia etwa lag das gemittelte 92 Prozent zusammen. konzentriert sich vor allem entlang der Pro-Kopf-Einkomm en 1960 bei 300 Zu den Verlierern der Globalisie Küste, wo eine M ittel- und eine Ober Dollar - heute erreicht es rund 10 000 rung zählten in den vergangenen 20 Jah schicht entstanden sind, deren Lebens Dollar (selbst wenn man Inflation und ren hingegen die unteren Schichten in standard dem westlichen gleicht. Wechselkursschwankungen berücksich Industrieländern wie etwa Deutschland. Im Binnenland dagegen herrscht tigt, ergibt sich noch ein Anstieg auf das Während die Ökonomien, in denen sie noch immer viel Armut, gibt es kaum gut Sechsfache). lebten, stimuliert vom Welthandel, noch
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immer wuchsen, mussten sie hinnehmen, Phänomene des Übergangs handelt. Und der Natur treiben und sich zurückziehen, dass ihre Einkommen stagnierten oder auch die Einbußen der gering qualifi wenn die Schäden zu groß werden. gar zurückgingen. zierten Arbeiter in den Industrieländern So leitete in Papua-Neuguinea ein Denn die Globalisierung hat A r haben viele Experten erwartet. Für sie ist Bergbaukonzern rund zwölf Jahre lang beiter zu einer weltweit austauschbaren jedoch entscheidend, dass die W eltwirt täglich mehr als 100 000 Tonnen schad Ressource gemacht. Vor allem gering schaft insgesamt wächst. stoffbelasteter Abfälle in Flüsse. Nach Qualifizierte konkurrieren international Die negativen Auswirkungen der dem er Erze im W ert von sechs M illiar miteinander, w eil Firmen solche Jobs Globalisierung haben in den vergange den Dollar gefördert hatte und die Mine vergleichsweise einfach dorthin verlagern nen Jahren zu heftigen Protesten geführt. weniger Erträge erbrachte, übertrug der können, wo sie am wenigsten dafür be Grundsätzlich beklagen die Aktivisten, australische M ehrheitseigner seine Ak zahlen müssen. Nicht zuletzt deshalb dass die kapitalistische Logik nunmehr tien an den papua-neuguineischen Staat haben Gewerkschaften heutzutage we in jede Nische der Erde vordringt, die - und lastete ihm damit kurzerhand die niger Einfluss als früher. Oft reicht schon W elt allumfassend kommerzialisiert. ökologischen Sanierungskosten auf. die Drohung, im Ausland Produktions Zudem bemängeln Kritiker, dass stätten zu errichten, um Z ugeständ trotz aller A bsichtserklärungen über nisse etwa bei Lohnverhandlungen zu einen liberalisierten Handel die Indus Für etliche Länder aber haben all diese erreichen. trienationen Teile ihrer W irtschaft noch - positiven wie negativen - Folgen der In manchen Industrieländern ist immer durch Subventionen vor inter Globalisierung nach wie vor nur wenig zudem der Kündigungsschutz gelockert nationaler Konkurrenz schützen und so Bedeutung: weil sie an dem Prozess noch worden. Die zunehmende internationale gerade ärmere Staaten benachteiligen. gar nicht richtig teilnehmen. Konkurrenz erschafft einen Druck, der Gegner hat die Globalisierung auch Denn derzeit sorgen nur gut 20 am Ende auch auf die einzelnen Beschäf aus einem anderen Grund: Die weltwei Prozent aller Staaten für 90 Prozent tigten wirkt. Verdichtete Arbeit, erhöh ten Verkehrsströme belasten Klima und des internationalen Handels mit Waren ter Stress und Job-Unsicherheit tragen Umwelt. Und immer wieder werden ge und Dienstleistungen sowie der Direkt zu Überlastungs-Phänomenen wie dem rade aus Entwicklungsländern, die sich investitionen. V iele andere Nationen multinationalen Unternehmen gegenüber aber, etwa in Afrika, sind politisch zu Burnout-Syndrom bei. W eitaus drastischer aber wirken in einer eher schwachen Position befin instabil oder ihre Bevölkerungen selbst sich Konkurrenz und fehlender Arbeit den und zudem häufig von korrupten für einfache Arbeitsschritte zu gering nehmerschutz in den aufstrebenden Län Eliten regiert werden, Fälle bekannt, in gebildet, um für ausländische Investoren dern aus, in denen die Standards ohnehin denen ausländische Firmen Raubbau an attraktiv zu sein. niedriger liegen: Fabrik Sie bräuchten Bilbetreiber unterbieten sich dungs- und Infrastruk dort gegenseitig, um im turprogramme, um sich internationalen W ettbe am globalisierten M arkt werb Aufträge anzuzie überhaupt beteiligen zu können und nicht noch hen, und suchen dafür ihre Kosten stetig zu drü w eiter zurückzufallen. cken. Immer wieder ster Dann wäre die Einbin ben Beschäftigte, wenn dung in die w eltw eite sch lam p ig e rric h te te W irtschaft für sie viel W erkshallen einstürzen leicht eine Chance. oder in Flam m en auf So oder so wird die gehen. G lobalisierung voran Solche Folgen der schreiten. Auch wenn G lo b alisierun g haben ungewiss bleibt, ob sich die Versprechungen der kaum einen Ökonomen überrascht - selbst jene Ökonomen schließlich Wirtschaftswissenschaft erfüllen. Oder die Pro bleme überwiegen. ^ ler nicht, die die Libera lisierung eigentlich be fürw orten. Sie gehen In der globalisierten W irtsch a ft wird selbst M üll zum U te E b e rle ,/^ . 1971, ist davon aus, dass es sich bei E xp o rtgu t - hier ein Ghanaer, der auf der Suche nach K upferteilen Journalistin in Baltimore, Skandalen dieser A rt um ausrangierte C o m p u te r aus Europa und den U SA zerlegt USA.
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Finanzkapitalism us - 1987-2008
Ein gestresster P a rk e tth ä n d le r an der N ew Yorker W a re n te rm in b ö rse . D ie Trader nutzen je d e M ö g lic h k e it, je d e Lücke, je d e Nische, um P ro fit zu generieren
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S e it J a h r h u n d e r te n s p e k u li e r e n M e n s c h e n an B ö r s e n . D o c h in d e n 1980er I
J a h r e n b e g i n n t in d e r U S F in a n z w e lt e in e A r a b e i s p i e ll o s e r P ro fitm a c h e re i, e rm ö g lic h t
d u r c h la x e re G e s e tz e , g r o ß z ü g ig e Versprechen der N o te n b a n k , d i g i t a l e I n n o v a t io n e n . D a n n aber, im H e r b s t 2008, v e r g lü h e n Ir r s in n u n d Ü b e r m u t in e in e r e p o c h a le n K ris e . Ein L e h r s t ü c k ü b e r d en e n t f e s s e lt e n K a p ita lis m u s
Von J E N S - R A IN E R BERG, L E N K A B R A N D T , O L A F M IS C H E R , FRANK OTTO , CAY RADEMACHER un d J O H A N N E S S C H N E I D E R
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I. K a p i t e l
E A S Y MO NE Y Wie der C hef der U S-Notenbank die F in a n zw elt rettet - und einen wilden Tanz der Gier auslöst A m M ontag, dem 19. O ktober 1987, ist der 61 Jahre alte Ö konom A lan G reenspan seit 70 T agen C h e f des „Federal Reserve System“ (Fed), der am erikani schen Zentralbank. D er M a n n m it der eulenhaften Brille und einer Vorliebe für W irtschaftsgeschichte und M athem atik leitet dam it die m ächtigste N otenbank der W elt. Per G esetz ist er dazu ver pflichtet, den W ohlstand aller A m erika ner zu sichern und zu mehren. Indem er je nach W irtschaftslage Z inssätze für F ed-K redite an B anken senkt oder anhebt, heizt er die Inflations rate an oder brem st sie, sorgt für w ach senden Konsum und günstige U nterneh menskredite oder für stabile Preise - und treibt dam it zugleich die Aktienkurse an oder schickt sie in die Tiefe. D och an diesem M ontagm orgen ist er ein Kapitän im Sturm , der den Kurs seines Schiffes nicht zu kennen scheint. G leich nach H andelsbeginn der N ew York Stock Exchange stürzt der „Dow Jones In d u stria l A verage“* um 82,5 Punkte ab: ein M inus von fast vier P ro zent. U nd G reenspan w eiß nicht genau, warum das so ist. F ü n f Jahre lang sind die Kurse an der N Y SE, der globalen Leitbörse, fast ununterbrochen gestiegen. U nd in den letzten M o n aten w ar der W ertp ap ier m arkt aufgeheizt wie selten: D er D ow Jones-Index erreichte wenige Tage nach Greenspans A m tsantritt 2722,42 Punkte, knapp 800 m ehr als zur Jahreswende. A n fa n g S e p te m b e r ab er h a tte G reenspan keine andere W ahl: U m den A nstieg der Inflationsrate zu brem sen, setzte er den D iskontsatz (den Zins, zu dem Banken bei der Fed kurzfristig Geld aufnehm en) herauf, um einen halben P rozentpunkt auf sechs Prozent. D er „D ow Jones“ ist der w ichtig ste am erikanische Börsenindex, der die Kursentw icklung der A k tie n von 30 großen U S -U nternehm en abb ild e t und als Indikator für den Zustand des gesamten A ktienm arktes dient.
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An New Yorks Wall Street liegen zahlreiche große Geldinstitute und die bedeutendste Börse der Welt (r.). Jahrzehntelang wächst die Finanzbranche in den USA schneller als andere Sektoren und setzt ein Vielfaches der Realwirtschaft des Landes um
In der kühlen W elt der Ö konom en ist alles berechenbar: G ew inn und Ver lust, Risiko, U n ternehm ensw ert. Alles, alles lässt sich auf eine Formel reduzieren und prognostizieren, die Zukunft ist bloß noch eine Frage der richtigen Gleichung. Theoretisch zum indest. Börsenkurse fallen, w enn Z insen steigen. D en n m it den erhöhten Kosten für Kredite sinken die Gew inne der U n ternehm en; u n d da A nleger d ort inves tieren, wo sie die höchste Rendite erwar ten, verkaufen viele von ih n en A ktien und erw erben stattdessen etwa festver zinsliche S taats- oder U n tern eh m en s anleihen. T heoretisch zum indest. K ein m athem atisches M odell b e schreibt jedoch, wie Investoren in einer
d erart aufgeheizten Stim m ung wie im S pätsom m er 1987 au f die V erteuerung von K rediten reagieren würden. G reen span w ar nervös. W ü rd en die A nleger seine E n tsch eid u n g ignorieren? O d er würden sie in Panik große Aktienpakete au f den M a rk t w erfen und die W elt in eine W irtschaftskrise stürzen? „Es bleibt im m er R aum für R a t losigkeit“, sagte er später vor Führungs k räften der Fed. T atsächlich gab der D ow -Jones-Index am folgenden H a n delstag, dem 8. Septem ber, nur gering fügig nach, um 38 Punkte. In W irklichkeit aber verunsicherte die Z in serh ö h u n g offenbar die Inves toren. A nfang O ktober verlor der D ow Jones innerhalb weniger Tage sechs Pro-
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zent. Für Greenspan noch kein Grund zur Sorge: 1970 war die Börse prozentual weit stärker eingebrochen und hatte sich anschließend rasch wieder erholt. Doch diesmal fielen die Kurse wohl auch in Erwartung schlechter W irt schaftsdaten - immer weiter. Allein am Freitag, dem 16. Oktober, verlor der Ak tienindex 108 Punkte. Und nun, am Morgen des 19. Ok tober, rauscht der Dow Jones noch weiter nach unten. Gegen 13 Uhr kursiert das Gerücht, die Börsenaufsicht wolle den Handel aussetzen, was dazu führt, dass die Kurse w eiter unter Druck geraten. W ie soll Greenspan reagieren? Am Nachmittag muss er eigentlich nach Dal las fliegen, wo er vor Bankmanagern re den will. Soll er den Termin absagen und in der Zentrale der Fed an der Constitu-
und taub. Als er endlich in Dallas gelan det ist, präsentiert ihm ein Mitarbeiter das Tagesresultat: Der Dow Jones ist um 507,99 Punkte gefallen, um 22,6 Prozent - so viel wie noch nie zuvor an einem einzigen Tag. An der W all Street haben die Be sitzer amerikanischer Aktien in sechs einhalb Stunden Handel ein Vermögen von rund einer halben Billion Dollar verloren. Wer seine Aktien halten kann, für den ist der Riesenverlust noch nur theoretisch: Er kann ja hoffen, dass der Kurs irgendwann wieder steigt. W er je doch Wertpapiere gerade jetzt verkaufen muss, für den sind die Verluste real. In den folgenden Stunden brechen weltweit die Aktienkurse ein. Die Welt, so scheint es, steht vor einer katastropha len Wirtschaftskrise. Es sei denn, Green
jede Waghalsigkeit im Zweifel abzusichern (Handelsraum der New Yorker Nasdaq-Börse)
tion Avenue in W ashington bleiben? Doch wäre das nicht ein Eingeständnis, dass er sich Sorgen macht, würde das nicht die Panik an der Börse vergrößern? Also besteigt er noch vor Börsen schluss Flug 567 der American Airlines; mittlerweile hat der Dow Jones mehr als 200 Punkte eingebüßt. An Bord der M a schine gibt es keine Telefonverbindung, Greenspan ist für mehrere Stunden blind
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span fällt rasch etwas ein. Im „Adolphus“Hotel in Dallas lässt sich der Noten bankchef eine Konferenzleitung nach Washington legen. Kein Mitarbeiter dort hat eine genaue Vorstellung davon, was den Kurssturz eigentlich bewirkt hat. Erst später wird allm ählich klar, dass dies die erste Börsenpanik der Ge schichte ist, die wesentlich von Compu tern ausgelöst wurde.
Finanzkapitalismus
Das Geschäft mit Finanzprodukten wird zunehmend virtuell, entkoppelt von den realen Wirtschaftsströmen - und von moralischen Ankern. Denn die Zentralbank suggeriert seit 1987,
Verantwortlich dafür sind vor allem Programme, die Finanzmanager nutzen, um die kompliziert zusammengestellten Depots ihrer Klienten vor Verlust zu schützen. Dabei ist der Aktienwert durch fu tu res (vereinfacht gesagt: börsengehan delte Termingeschäfte; siehe Kapitel VI., Seite 142) gesichert. Fällt der Wert eines Aktiendepots an der New Yorker Börse etwa um drei Prozent, berechnen Com puter die exakte M enge von Futures, die - an der Terminbörse in Chicago verkauft werden müssen, um den Verlust auszugleichen. Aktienpakete im W ert von mindestens 60 M illiarden Dollar werden so verwaltet. Doch mit dem extrem schnell sin kenden Kursniveau im Frühherbst 1987 löste diese Strategie an der W all Street eine Kaskade aus: M it den fallenden Kur sen geriet auch die Chicagoer Termin börse zunehmend unter Druck, was wie derum New Yorker Broker zum Verkauf von weiteren Aktien veranlasste. Denn viele der durch Greenspans Zinserhö hung verunsicherten Anleger deuteten die steigende Zahl von Futures-Verkäufen als Vorzeichen einer Phase starker und anhaltender Kursrückgänge. Am Abend des 12. Oktober hatte der Dow Jones fast 300 Punkte auf sei nen Höchststand im August verloren. Würde der Index weiter sinken, müss ten die Computer nun auch Aktien ver kaufen, um die Verluste der Anleger zu begrenzen. Das wussten etliche Großin vestoren, trennten sich daher von Papie ren - und drückten so die Kurse weiter. Kurz darauf überfluteten die Rech ner tatsächlich die New Yorker Börse mit Verkaufsaufträgen. Allein am folgenden Freitag boten sie Aktien im W ert von zwölf M illiarden Dollar an, von denen aber nur rund ein Drittel Käufer fand. Daher startete die Börse am Mon tag, dem 19. Oktober, mit einem Über angebot in Milliardenhöhe. Jetzt stürzten Computer und Händler den Dow Jones wechselweise in die Abwärtsspirale: Auf Verkaufsofferten der Rechner hin fiel der Kurs und veranlasste Händler, noch mehr Wertpapiere abzustoßen. Fast alle der rund 5000 in New York notierten Aktien wurden in diesen Abwärtssog gerissen. Dann brach das ebenfalls compu tergestützte Handelssystem der Börse
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unter der großen Z ahl von Verkaufsauf trägen zeitweise zusam m en - was pani sche Broker u nd ihre K unden w ieder um nur zu w eiteren V erkaufsaufträgen veranlasste. A m A b en d h a tte n m eh r als 600 M illio n e n A k tie n den B esit zer gew echselt: ru n d dreim al so viele wie im D urchschnitt pro H andelstag im August. Ist dies der große Crash? G reenspans Stab an der C o n stitu tio n A ven u e in W a s h in g to n b le ib t scheinbar gelassen. „W arum w arten w ir n icht einige Tage ab“, fragt ein E xperte w äh ren d der T elefö n k o n feren z, „und sehen, was passiert?“ „W ir m üssen n ich t w arten “, erw i d ert G reenspan aus D allas, „wir wissen, was geschehen w ird.“ Z w ischen Investm en tb an k en u nd H edgefonds, großen B rokerhäuser u nd Versicherungen fließen unfassbare Sum m en. V iele der T ra n sak tio n en w erden erst nach dem E n d e eines B örsentages beglichen (sofern die S chuldner liquide sind). D och stoppt dieser Fluss des K a pitals - weil Broker nach herben Verlus ten ihre Z ahlungen verzögern und B an ken keine Kredite gew ähren - , füh rt das zum Ausfall des Systems. U nd der lähm t unw eigerlich ebenso die Realw irtschaft, w eil auch G eschäftsbanken in solchen Krisen kaum noch K redite an S tahlkon zerne oder Bäckereien vergeben. G reenspan ist überzeugt, dass die Federal Reserve diesen M illiardenfluss unbedingt erhalten muss: Sie w ird daher G eld ins System pum pen, Kredite garan tieren. U m jeden Preis. E r will allerdings noch im m er seine Rede in Dallas halten. E rst a u f D rä n g en der R egierung erklärt er sich bereit, den V ortrag abzu sagen u nd noch am D ienstag m it einer A ir-F orce-M aschine nach W ashington zurückzufliegen. D er 76 Jahre alte R epu blikaner Ronald Reagan ist seit 1981 U SPräsident. Seine Popularität b eruht auch auf seiner scheinbar erfolgreichen W irt schaftspolitik - eine Krise an der Börse wäre für ihn politisch verheerend. D ien stag , 20. O kto b er. U m 8.41 U h r veröffentlicht G reenspan (noch von Texas aus) einen einzigen Satz, der die Krise ersticken soll. U n d der für seine fast zwei Jahrzehnte andauernde A m ts zeit zu so etwas wie einem M a n tra w er
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DI E S C H U L D I G E N DER FINANZKRISE Viele A kteure sin d f ü r die Katastrophe von 2 0 0 8 verantw ort lich. E in Jahr nach deren H öhepunkt präsentiert das renommierte U S -M a g a zin »Time« seine A u sw a h l der 2 5 Schuldigen
DIE POLITIKER Sie deregulieren die F inanzm ärkte,
BILL CLINTON D er US-Präsi-
achten nur a u f die Interessen ihres eigenen Landes oder handeln in der Krise nicht entschlossen genug
de n t versäum t es, den außerbörs lichen Handel m it Derivaten zu regulieren
GEORGE W. BUSH
WEN JIABAO
C lin to ns
Chinas Premier
N a ch fo lge r
m inister e rm ö g
schwächt
lich t den USA
die staatliche
m it billigen
Kontrolle
Krediten im m er
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weitere Schulden
HENRY PAULSON
PHIL GRAMM
D er Finanzm inis
D er republikani
te r ist einer der
sche Senator tre ib t
Hauptschuldigen
die gesetzliche
und m itve ra n t
Deregulierung
w o rtlich fü r die
entscheidend
Lehm an-Pleite
voran
den wird: „Die Federal Reserve bestätigt h eu te in Ü b e re in stim m u n g m it ih rer V erantw ortung als Z entralbank ihre Be reitschaft, die Liquidität des W irtschafts u nd Finanzsystem s zu gew ährleisten.“ M it drögeren W o rte n ist noch nie eine Krise erstickt w orden. D ie Fed b e k äm p ft n u n n ic h t m e h r die In flatio n , so n d ern eine d ro h en d e, w eltu m sp a n nende Rezession: eine W irtschaftskrise, die einem C rash der L eitbörse oft folgt.
T a ts ä c h lic h b e s c h r ä n k e n sich G reenspan u n d seine M itarb eiter nicht allein darauf, G eld ins System zu p u m pen. Sie versuchen - m indestens ebenso w ich tig - , die n och schockstarren F i nan z- u n d B ankm anager zum H an d eln zu bewegen. Sie m achen etwa säumigen Zahlern klar, dass das zurückgehaltene G eld ihre U n tern e h m en n ich t retten w ird, w enn das System zusam m enbricht. Sie über-
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te Profitgier und Euphorie zu ebenso fatalen Folgen an den Finanzmärkten führen können wie die Panik von 1987. Zunehmend komplexer werden nun die Finanzprodukte, aberwitziger die in vestierten Summen. Denn jeder glaubt, dass ihm nichts geschehen wird: Wenn du gewinnst, wirst du reich - wenn der M arkt verliert, rettet dich Greenspan. Im Jahr 1980 hat der Aktienwert von Finanzfirm en w ie Banken oder F o n d sg e se llsc h afte n noch fünf Prozent des Wertes aller US-Aktien ausgemacht: 2007 sind es 23,5 Prozent. Ein knappes Viertel entfällt also auf Unternehmen, die weder Öl fördern noch Jets bauen, die keine Computer fabri zieren - sondern die bloß Dollars und W ert papiere hin und her schieben. Beobachter an der Wall Street wähnen sich längst in einem neuen Zeitalter, das man je nach Temperament bewundernd oder bangend, auf jeden Fall aber machtlos bestaunt: einem Zeitalter der Gier, des unverstellten Kapitalismus, in dem die kompromisslose Bereicherung die letzte Ideologie zu sein scheint. Wertpapierspekulation gab es auch in den Jahrhunderten zuvor schon, aber zwischen 1987 und 2008 ist sie entfessel ter denn je: ausgelöst durch Greenspans ständige Schutzversprechen, durch Poli tiker, die die Regeln für die Branche sys tematisch lockern, durch eine digitale Revolution, die die technischen M ög lichkeiten für immer neue, immer schnel lere Geschäfte hervorbringt. Vorbei die Zeit, in der die Finanz welt hauptsächlich eine dienende Funk tion innehatte: als sie vor allem half, Staaten und Unternehmen - also die reale W irtschaft - mit Kapital zu versor gen. Nun wächst diese Welt nicht nur ins Gewaltige, sondern scheint von der übri gen Ökonomie zunehmend entkoppelt, fast nur noch auf sich selbst bezogen. Neue Finanzprodukte w ie etwa C ollateralized D ebt O bligations gewinnen mehr und mehr an Bedeutung (siehe
Kasten Seite 152). Solche innovativen „Wertpapiere“ sind nichts als W etten auf die Kreditwürdigkeit von Unterneh men oder auf Kursveränderungen oder darauf, wie sich andere Finanzprodukte entwickeln, die wiederum von anderen Finanzprodukten abhängig sind, die wiederum ... A uf diese Weise werden Börsen zu Kasinos, zu gigantischen Glücksspiel zentren, in denen sich täglich die bestausgebildeten und in telligentesten Zocker der W elt treffen. An jenem Diens tag im Herbst 1987, als er den folgenreichen Satz über die Hilfe der Fed ausspricht, erlöst A lan Greenspan die W all Street deshalb nicht bloß von einem Schock. Er läutet auch zwei Jahrzehnte genia ler wie zynischer Ver antwortungslosigkeit im wichtigsten W irt schaftssektor des wichtigsten Landes der W elt ein. M it anderen Worten: Er lässt ein Monster frei.
DER C H E F DER
ZENTRALBANK ENTFESSELT EIN M O N S T E R
Finanzkapitalismus
zeugen Bankmanager, auch bei erhöhtem Risiko Firmen mit Krediten zu versor gen, und überreden Vorstände, die nied rigen Kurse zu nutzen, um Aktien ihrer Gesellschaften zurückzukaufen. Dennoch: Die Kurse taumeln an diesem Vormittag weiter nach unten, auf 1616 Punkte (damit hat der Dow Jones seit dem Höchststand im August mehr als 1100 Punkte verloren). Erst gegen 14 Uhr steigen sie endlich an. Denn große Anleger haben zuvor in Erwartung steigender Kurse in C h i cago wieder Futures gekauft. Zudem sind mehrere Unternehmen der Empfehlung der Fed gefolgt und haben Aktienrück käufe angekündigt. Am Dienstagabend ist der Dow Jones gegenüber dem Vortag um 102 Punkte gestiegen. Der Fed ist es gelungen, den durch die Computer mitausgelösten Schock an der W all Street in weniger als 24 Stun den aufzufangen. Der Kurssturz verpufft: Er löst keine globale Krise aus, w eil Greenspan den M ärkten Liquidität ga rantiert hat (was die US-Notenbank 1929 versäumt hatte). Der C hef der Federal Reserve er hält durch sein Krisenmanagement eine geradezu mythische Aura ökonomischer Allmacht, auch wenn viele Anleger noch zurückhaltend bleiben. Erst zwei Jahre später überspringt der Dow Jones wieder den W ert von 2700 Punkten - bis zur Jahrtausendwende steigt der Index dann auf mehr als 10 000 Punkte. Auch daran hat Greenspan Anteil. Denn nach dem M uster von 1987 verhält er sich während seiner gesamten Am tszeit: Er verspricht den Finanz managern Liquidität, senkt die Zinsen bei jedem kleinen Crash und w iegt die Marktteilnehmer so in Sicherheit - welt weit. Was immer an der Börse geschieht, die Fed wird es schon richten. Und gerade das ist fatal. Denn Greenspans M ethode, die Akteure des Finanzmarktes um jeden Preis zu stützen, wird zum Sündenfall. Ob Banken oder Brokerhäuser, ob Hedgefonds oder Versicherungen: Viele Akteure an den Finanzzentren tanzen fortan immer verrückter auf einem immer dünneren Seil, als ob es für ewig unter ihnen ein Netz geben würde - obwohl selbst Greenspan warnt, dass ungebrems
II. Kapitel
DER HAI Wie Stephen S ch w arzm an F irm en aufk auft - u n d w esh alb er ein en g e r in g e r e n S teuersatz h a t als sein e P utzfrau Am weißen Karibikstrand von St. Barts schlendert, irgendwann um 1995, ein am erikanischer Finanzmogul, als sich eine gigantische Yacht nähert und ankert. Bedienstete balancieren Tisch, Stühle, Sonnenschirm , W einkühler, Geschirr und erlesenes Essen auf zwei Jetskis ans Ufer und arrangieren alles am Strand. Danach kehren sie zurück und ho len eine schlanke Frau und einen kleinen M ann von Bord, die schließlich unter dem Sonnenschirm dinieren. „Es wäre eine Untertreibung, das angeberisch zu nennen“, erinnert sich der Augenzeuge später, selbst ein m illionenschwerer
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Großinvestor. „Ich bin ja nicht für A r mut, aber ich hatte wirklich das Gefühl, jetzt sollte eine Revolution stattfinden.“ Der Yachtbesitzer beim Dinner am Karibikstrand, der Hai, der selbst die an deren Haie der Finanzwelt provoziert, ist Stephen A. Schwarzman. Ein Geschäfts mann, den nur ein einziges Motiv durchs Leben treibt: Gier, nackte, unstillbare Gier. Der mit dieser Gier und seiner Cle verness und seiner Rücksichtslosigkeit zum Mythos wird und zur Symbolfigur für die entfesselte Finanzwelt. „Steve“, sagt ein Geschäftspartner, „würde direkt auf dich zukommen und sagen: ,Ich werde versuchen, dir deine Brieftasche abzunehmen.“1 Doch Schwarzman gibt sich nicht mit den Brieftaschen reicher Menschen ab, sondern greift in die Kassen großer Unternehmen - völlig legal. Diese Un ternehmen müssen ihm dafür auch noch Honorare bezahlen, und obendrein sub ventioniert der Staat diese Bereicherung. L evera ged buyout wird dieses Ge schäftsmodell zur Übernahme einer Fir ma genannt, das unter Finanzjongleuren populär geworden ist: Investoren zahlen Geld in einen sogenannten p riva te equity fu n d , der ihr Geld anlegen soll. Dieser Fonds nimmt ein Vielfaches des Kapitals zusätzlich an Krediten auf, sodass er über Summen in Höhe von oft mehr als einer M illiarde Dollar verfügt (und hat auf diese Weise leverage, also einen mächti gen „Hebel“). M it dieser Kriegskasse erwirbt er Unternehmen (buyout). Oder es werden alle Aktien einer börsennotierten Gesell schaft aufgekauft, deren Aktienkurs un terbewertet erscheint. So wird der Fonds zum neuen und oft alleinigen Besitzer der Firma. Die Kredite, die er zum Kauf aufgenommen hat, werden dem Unternehmen aufgebür det, das für die Kredite auch als Sicher heit haftet. Es kauft sich also praktisch selbst und verschuldet sich dabei enorm. Außerdem muss es neben der oft hohen Zinsbelastung und Tilgung auch noch teure „Beratungshonorare“ an den Fonds zahlen. Das so belastete Unternehmen wird danach umstrukturiert, in verschiedene Bereiche zerlegt oder auf neue Produkte umgestellt, bis es nach einigen Jahren zu
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einem möglichst guten Preis wieder ver kauft wird. Dabei gehen die M anager zuweilen brutal vor; häufig fallen viele Jobs weg, und die verbleibenden Beschäf tigten werden unter extremen Leistungs druck gesetzt. Für den Verkauf muss das Unternehmen gute Bilanzen aufweisen und so gut dastehen, dass ihm wirtschaft lich eine positive Zukunft zugetraut wird. Am Ende befindet sich also - wenn alles nach Plan verläuft - auch das Unterneh men auf der Gewinnerseite. Bezahlen müssen aber oft die Be troffenen vor Ort: Löhne etwa sinken, Angestellte verlieren ihre Arbeit, beson ders wenn Standorte geschlossen oder ins Ausland verlegt werden.
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Und mitunter leidet sogar ein über nommenes Unternehmen als Ganzes. Dann nämlich, wenn ein Fonds nur auf kurzfristigen Gewinn abzielt: So wird etwa die deutsche Chemiefirma Cognis 2001 von einer global operierenden Private-Equity-Gesellschaft übernommen; fast zwei Drittel des Kaufpreises von 2,5 Milliarden Euro laden die Fondsmanager dem Unternehmen als Schulden auf. Schon im folgenden Jah r aber rutscht Cognis in die Verlustzone, bis 2006 werden 1300 Stellen abgebaut. Die neuen Eigner dagegen kassieren nicht nur Beratungshonorare in Millionenhö he, sondern genehmigen sich insgesamt 850 M illionen Euro an Sonderdividen-
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komplexeste G eschäfte kalkulieren: etwa auf Kredit finanzierte Übernahm en von Firmen
den, die die Außenstände von Cognis noch vermehren. Investitionen sind unter der Schuldenlast nicht mehr möglich. Langfristig ist diese Strategie ris kant: Als 2006 Cognis wieder verkauft werden soll, interessiert sich zunächst niemand für das hochverschuldete Un ternehmen. In der Regel aber verdient die Kapi talseite. Banken etwa kassieren bei diesem Geschäftsmodell oft mehrfach: durch Kreditzinsen sowie Gebühren bei mög
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lichen späteren Börsengängen. Und die Investoren in den Fonds, meist Banken, Versicherungen, Pensionskassen und Stiftungen, bekommen auf ihr Geld oft zweistellige Renditen. Am besten ergeht es den Fonds betreibern wie Stephen Schwarzman: Sie nehmen von den Investoren jährlich 1,5 Prozent des Kapitals als M anage mentgebühr und kassieren von den über nommenen Firmen die Beraterhonorare. Zudem erhalten sie nach dem Verkauf des
Finanzkapitalismus
D igitale Systeme spielen - wie hier in der New York Stock Exchange - Ende des 20. Jahrhunderts eine im m er größere Rolle in der Finanzindustrie. M it ihnen lassen sich auch
Unternehmens 20 Prozent des Gewinns als branchenüblichen Anteil. Vor allem gelten ihre Einnahmen als „langfristige Veräußerungsgewinne“, die in den USA nur mit 15 Prozent ver steuert werden und nicht mit bis zu 35 Prozent Einkommensteuer - de facto eine staatliche Subvention der Gewinne der Private-Equity-Manager. So werden manche rasch zu vielfachen Millionären, ja Milliardären und zahlen dabei auf ihr Gesamteinkommen im Verhältnis weniger Steuern als ihre Putzfrauen. Stephen Schwarzman, anfangs ein junger Banker bei Lehman Brothers, erkennt 1985, welche Möglichkeiten im Geschäft stecken und gründet mit einem Partner seine eigene Private-EquityFirma: Blackstone. Er ist ein höllischer Chef. Wer in Ungnade fällt, wird versetzt oder gleich gefeuert. Andere gehen freiwillig, selbst namhafte Manager, abgeworben von füh renden Bankhäusern, halten es nicht einmal ein Jahr mit ihm aus. Einen Ge schäftspartner, durch dessen Investitio nen in deutsche Telefonnetze Blackstone Geld verliert, schnauzt er an: „Where is my fucking money, you dumb shit?“ Schwarzman ist ein Rüpel, doch ein vorsichtiger Rüpel. Er hat ein geniales Gespür für den richtigen Deal. Als nach den Terroranschlägen vom 11. Septem ber 2001 viele Versicherungen wegen der immensen Schadensforderungen nur wenige neue Policen anbieten können, übernimmt er nicht etwa eines der unter Druck geratenen Unternehmen, wie man es von einem Private-Equity-Fonds er warten würde - sondern investiert 201 M illionen Dollar von Blackstone und gründet gemeinsam mit vier Partner firmen eine eigene Versicherung. Die ist unbelastet von den Forderungen aus den Anschlägen und kann daher den Kon kurrenten Marktanteile entreißen, sowie wegen der vorangegangenen Katastrophe gerade jetzt besonders hohe Prämien verlangen - und so macht Blackstone per annum mehr als 30 Prozent Gewinn auf das eingesetzte Kapital. Im Jahr 2007 verfügt Schwarzman, der inzwischen rund 1000 Mitarbeiter wie eine kleiner Gott kommandiert, über 88 Milliarden Dollar von Investoren und kontrolliert zusätzliche 50 M illiarden
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DIE AUFSEHER Sie üben kaum Kontrolle aus, erm untern die A kteure z u riskantem H andeln oder beteiligen sich sogar a k tiv an dem Hasardspiel: D ie Menschen, die die F in a n zw irtsch a ft einschätzen, überwachen u nd lenken sollen, vernachlässigen diese Aufgabe sträflich - u n d oft m it voller Absicht
ALAN GREENSPAN
Der Direktor der
KATHLEEN CORBET
DAVID ODDSSON
Der libertäre
US-Börsenauf-
Ihre Rating-Agentur
Islands Zentralbank
Chef der US-
sicht SEC tu t nur
Standard & Poor’s
chef verantwortet
Notenbank setzt
wenig, um Invest
bewertet hoch
die folgenschwere
extrem niedrige
mentbanken zu
riskante Papiere
Privatisierung dreier
Zinssätze fest
kontrollieren
als sehr sicher
Banken
D ollar, die in w eiteren Fonds angelegt sind. Eine Abteilung m anagt Im mobilien im W e rt von 100 M illia rd e n D ollar. B lackstone gehören 51 K onzerne ganz oder teilweise. A m 13. Februar 2007 feiert Schwarzm an in einem ehemaligen Zeughaus, das in M a n h a tta n einen ganzen G eb äu d e block einnim m t, seinen 60. G eburtstag das eigene 35-Zim m er-A partm ent an der P ark A venue ist ih m w ohl n ic h t groß genug. T V -Stars sind da, die w ichtigsten B ankiers des L andes, ein E rz b isc h o f u n d vor der T ü r selbstverständlich alle Klatschreporter N ew Yorks. Rod Stewart singt. D ie Feier kostet m indestens drei M illionen D ollar - so viel, wie Schwarzm an in drei T agen verdient. D en n er h at im abgelaufenen Jahr fast 400 M illionen D ollar kassiert. W enn er nicht in der Park Avenue oder auf sei ner Yacht in der K aribik weilt, am üsiert er sich in Saint-Tropez, in den H am ptons auf L ong Island oder in Palm Beach. E r ist der K önig der Finanzw elt. U nd er ist unzerstörbar. E inige M o n ate nach seinem Fest, am 22. Juni 2007, füh rt er Blackstone an die Börse u n d kassiert 684 M illio n en
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CHRIS COX
D ollar. Z u d em hält er 23,3 P ro zen t der Blackstone-Anteile im W ert von 9,4 M il liarden Dollar. W enn es einen Nachfolger der T ita nen aus der goldenen Ä ra des Kapitalis mus gibt, der Rockefellers und Carnegies, dann Stephen A. Schw arzm an. Allerdings: G enau am Tag des Bör sengangs g ib t die B an k B ear S tearns bekannt, dass sie zwei klam m e, a u f I m m obilien ausgerichtete H edgefonds m it M illiarden stützen muss. Es ist ein erstes A nzeichen für die K ernschm elze der Finanzindustrie 2008.
I I I . K apitel
DAS G E L D DER ANDEREN Wie die W irtschaft der U SA ab 1985 nur noch a u f einem P rin zip beruht: Schulden(machen)
E in großer Teil des Reichtums eines en t w ickelten Industrielandes ist stets durch
Schulden finanziert: U nternehm en bau en Fabriken m it Krediten von nationalen und internationalen Banken, Konsumen ten kaufen H äuser oder Autos m it gelie h en e m G eld , u n d die R egierung gibt Staatsanleihen aus, die auch von auslän dischen Investoren gezeichnet werden. W ird m ehr Kapital im Ausland an gelegt, als alle A usländer zusam m en im eigenen L and investieren, dann ist dieses L an d eine Gläubigernation. L eihen sich Bürger, U nternehm en und die Regierung eines Landes jedoch m ehr G eld im A us land, als sie dort Vermögenswerte haben, w ird ih r Staat zur Schuldnernation. D ie U S A w erd en in den 1980er Jahren von einer G läubiger- zur Schuld nernation. N o ch E n d e 1981 beläuft sich das N etto-A uslandsverm ögen am erika nischer U n tern eh m en , Bürger u n d des Staates a u f 141 M illiard en D ollar. D ie U S A hab en also m eh r finanzielle F o r derungen an das A usland als A usländer an die U SA . Sieben Jahre später beläuft sich die V erm ögensposition a u f m inus 533 M illiarden Dollar. D iese tiefrote Z a h l h at vor allem die Regierung verursacht. Ronald Reagan ist vom am erikanischen Volk 1980 auch
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G EO E P O C H E K a p ita lis m u s
nur noch 2,44 Prozent Eigenkapital statt wie zuvor 6,25 Prozent. Durch die Hebel können Fonds nun Summen aufbringen, m it denen sie Konzerne kaufen, Währungen unter Druck setzen, ja ganze Volkswirtschaften bedrängen werden. Doch dam it potenziert sich auch das Risiko. Geht ein Investment schief, dann geht nicht einfach bloß ein Fonds oder ein Spekulant pleite, dann ist min destens auch eine Bank bedroht, deren Kredite verloren sind. Und wackelt eine Bank, dann ist das ganze System in Gefahr.
IV. Ka p i t e l
EIN T O D S I C H E R E S GESCHÄFT Wie ein M athem atik er u n d z w ei N obelpreisträger d ie p erfek te G ew in n form el en tw ick eln - u n d gra n d ios scheitern Klugheit und Dummheit sind Extreme, und wie oft bei Extremen so gibt es auch hier eine Grenze, an der sie sich wieder treffen: einen Bereich, wo extreme Klug heit zu kolossaler Dummheit wird. Ein Held der W all Street erfährt das auf die ganz besonders harte Art. John Meriwether, ein verschlossener Mathematiker und trader (Finanzmarkt händler) bei der Investmentbank Salomon Brothers, den beim Sport nicht das Ergebnis interessiert, sondern die W ett quote, lernt bei seiner Bank, dass Risiko berechenbar ist. Jedes Risiko. Was etwa ist riskanter - einem In ternet-Start-up für ein Jahr Geld zu lei hen oder der Regierung von Bolivien für 30 Tage? Welchen Zinssatz also berech net man dem einen Schuldner, welchen dem anderen? Für den Zahlenmenschen Meriwether ist das keine Frage von neu en technischen Entwicklungen im Sili con Valley oder von Putschgerüchten in Lateinamerika: Jedes Problem lässt sich seiner M einung nach in einer Formel darstellen. H ast du die Formel, dann machst du unfehlbar Profit.
Meriwether ist einer der ersten Ak teure der W all Street, die in ihrer Abtei lung M athem atiker und Naturwissen schaftler einstellen, um solche Risiken möglichst genau zu berechnen. Diese „Quantitativen Analysten“, die ausschließ lich mit statistischen Methoden arbeiten, werden von vielen Händlern geschmäht, die bei ihren Geschäften nach wie vor eher aus dem Bauch entscheiden. Doch die quants sind die Vertreter einer neuen Zeit: Dank immer leistungs fähigerer Computer wird die hohe M a thematik für die Finanzwelt zunehmend wichtiger - um die komplexer werdenden Märkte angemessen einschätzen zu kön nen und um lukrative Finanzprodukte zu entwickeln. Anfang 1994 macht sich M eriwe ther selbstständig und gründet mit zehn Partnern den Hedgefonds „Long-Term Capital Management“. H edgefonds existieren seit den 1920er Jahren als private Investment clubs; Halten sie sich an bestimmte Be dingungen - ein Hedgefonds darf nur für 99 Investoren offen sein, jeder muss mindestens eine M illion Dollar anlegen - dann unterliegen sie nicht so strenger staatlicher Aufsicht wie etwa Investment banken. Sie müssen zum Beispiel nicht ihr Portfolio veröffentlichen: Niemand weiß, wie viel Geld in welche Anlagen ein Hedgefonds investiert. Ihr Name leitet sich von „einhegen“ ab, denn ihre Strategie soll die Risiken der Anleger minimieren: Das Portfolio ist, vereinfacht ausgedrückt, so verteilt, dass ein Teil immer Gewinn macht, egal wie sich der M arkt entwickelt. Aus diesem Prinzip folgt allerdings, dass ein anderer Teil des Portfolios Ver luste macht. M an kann mit einem aus gewogenen Portfolio beispielsweise auf steigende und fallende Aktienkurse zu gleich setzen. Die Kunst besteht darin, dass jene Hälfte des Portfolios, die auf die richtige Entwicklung gesetzt worden ist, etwas höhere Erträge abwirft, als die Hälfte, die aufs Gegenteil baut. Die Gewinne werden nie fabelhaft sein, denn stets stehen ihnen ja Verluste gegenüber. Doch wird ein Hedgefonds auch nie ausufernde Verluste machen: Bei einer Fehlspekulation werden die ro ten Zahlen der einen Hälfte ja zum Teil
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deshalb zum Präsidenten gewählt wor den, weil er versprochen hat, die Steuern zu senken: So wolle er die Leistungsbe reitschaft von Unternehmern und Ange stellten fördern, damit die Produktivität der W irtschaft steige - und die Staats einnahmen am Ende sogar wüchsen. Doch seine Steuerreform führt nicht zu den erwarteten Effekten. Das fehlende Geld müssen sich die USA zum Teil im Ausland leihen. Bis 1988 steigen die Staatsschulden auf 2052 M illiarden Dollar. Zudem verschulden sich auch die amerikanischen Konsumenten immer mehr. Die U SA sind jetzt der größte Schuldner der Welt. Finanzmärkte wie die W all Street sind zugleich Fokus und Spiegel dieser Entwicklung. Fokus, w eil die immen sen Summen der in- und ausländischen Investoren vor allem dort gebündelt wer den. Und Spiegel, weil auch diese Zen tren nun immer mehr m it geliehenem Geld operieren. Investoren kaufen beispielsweise Aktienpakete oder ganze Unternehmen mit Krediten und oft nur wenig Eigen kapital - in der Hoffnung, ihren Gewinn um ein Vielfaches zu „hebeln“: Sie belei hen Aktien, um mit dem Geld der Ban ken weitere Aktien zu kaufen, viel mehr, als sie mit eigenem Geld hätten erwerben können. Sind die Kurse der Papiere auf ein bestimmtes Niveau gestiegen, verkau fen die Anleger ihre Aktien, begleichen ihre Bankschulden und machen einen großen Gewinn. V iele Investoren sind auf diese W eise sehr reich geworden. Doch bei fallenden Kursen bewirkt der Hebel das Gegenteil: Fällt der W ert der als Bank sicherheit dienenden Aktien weit unter die Kreditsumme, verlangt die Bank neue Sicherheiten. Bekommt sie die nicht, verkauft sie die Wertpapiere und fordert den Rest des Darlehens zurück. Dieser Effekt hat schon den Börsencrash von 1929 verschlimmert. Damals mussten viele Anleger, die mit geliehenem Geld spekuliert hatten, ihre Aktien mit hohen Verlusten verkaufen. Dennoch macht die U S-Börsenaufsicht diese A rt der Spekulation 2004 sogar noch attraktiver, zumindest für Investmentbanken. Fortan benötigen Geldhäuser bei solchen Finanzgeschäften
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Das Volum en der Finanzm arktgeschäfte nim m t enorm zu, erreicht hohe Billionensummen. Und nur noch ein Teil wird öffe ntlich über Börsen abgewickelt. Viele Transaktionen laufen verborgen in den Büros der Investm entfirm en ab und machen das Geschehen zunehmend unübersichtlich
durch die schwarzen Zahlen der anderen ausgeglichen. Für Meriwether ist diese abstrakte Welt ein klinisch sauberes Paradies und ein sträflich ungenutztes dazu: Sind die Statistiken erstellt und die Wahrschein lichkeiten erfasst, ist es völlig gleichgül tig, in welche Produkte und in welchen Ländern man investiert. Er kom biniert das Prinzip des Hedgefonds mit dem des Hebels: Wenn ein Hedgefonds ohnehin das Risiko be
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grenzt und zudem alles berechenbar ist, warum sollte man dann nur das Geld der Investoren einsetzen? Warum dann nicht auch Kredite aufnehmen, um noch viel mehr Geld auf diese scheinbar sichere A rt zu verwetten und so die mögliche Rendite für die Investoren in bis dahin unerreichte Höhen zu treiben? Meriwether startet mit einem A n legervermögen von 1,25 Milliarden Dol lar. Zugleich plant er jedoch einen Hebel von 20 bis 30 - das heißt, er investiert
mit Geld, das ihm Banken der Wall Street geliehen haben, das 20- bis 30-Fache jener eh schon kolossalen Summe in M ärkte von Am erika bis Italien, von Russland bis Japan. Im Stab von LTCM arbeiten neben den jungen, brillanten und enervierend selbstsicheren Mathematikern auch zwei Wirtschaftsprofessoren: Robert C. Merton und Myron S. Scholes. Die beiden haben eine herausragende Reputation, die sich auf eine von ihnen entwickelte
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und zwar nach unten, kommt in den Modellen dieser mathematischen Genies schlicht nicht vor! Das heißt: Sie haben überall falsch investiert. 35 Millionen Dollar würde LTCM im schlimmstmöglichen Fall an einem einzigen Tag verlieren, so haben es die Quants zuvor errechnet. Tatsächlich sind es nun fast jeden Tag mehr, am 21. Au gust allein verliert der Fonds 553 M illio nen - rein rechnerisch mehr als 384 000 Dollar pro Minute. Fataler noch: Es gibt keine andere Strategie. Die meisten Trader von LTCM sind intellektuell gar nicht in der Lage, sich aus den Fesseln ihrer so lange erfolgrei chen Modelle zu lösen. Aber selbst wenn sie es wären, bliebe ihnen keine Luft zum Atmen. Der Hebel-Effekt ist so hoch, dass sie laufend die bestehenden Bank kredite bedienen und neue Sicherheiten stellen müssen, weil die Vermögenswer te sinken. Da sie keine Gewinne mehr machen, müssen sie dafür Anlagen ver kaufen. Da im kollabierenden Weltmarkt aber niemand die Anlagen von LTCM kaufen will, ist es nur eine Frage von we nigen Tagen, bis der Fonds insolvent ist. Meriwether kehrt aus dem Urlaub zurück, überschreibt sei nen Immobilienbesitz rasch seiner Frau, um sein eigenes Vermögen aus dem Desaster zu retten - und sieht dann mehr oder weniger hilf los zu, wie sein Fonds in Rekordtempo kollabiert. Am 21. September 1998 überlebt LTCM den H andelstag nur noch mit einem Not kredit einiger Banken, doch es ist klar, dass bald alle Reserven weggeschmolzen sein werden. Daher treffen sich am Tag darauf führende Banker in einem Konferenz raum der New Yorker Fed. Und wieder einmal hauen Greenspans Leute die Spe kulanten heraus. Denn da 55 Banken Kredite gewährt haben und sie durch die großen Krisen in Übersee schon belastet sind, könnte die Pleite von LTCM meh rere Geldhäuser mit in den Abgrund reißen. Und stürzen erst einmal die Ban ken, dann stürzt das System.
384 000 DOL L A R VERLUST PRO MINUTE
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Formel gründet, mit der sie den „fairen“ Preis - also den für Käufer sowie Ver käufer als angemessen zu bewertenden Preis - von Optionen berechnen können (das sind Finanzprodukte, die das Recht gewähren, eine Aktie oder Anleihe zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem vorher vereinbarten Preis zu kaufen oder zu verkaufen; siehe Seite 142). M it dem Ansatz von Merton und Scholes lassen sich nun auch Fehlbewer tungen von W ertpapieren durch die Finanzmärkte frühzeitig erkennen und ausnutzen. Und tatsächlich: 1994 schüttet LTCM 20 Prozent Rendite aus, im Jahr darauf mehr als doppelt so viel. 1996 ver
dient der Fonds, für den etwa 100 M it arbeiter tätig sind, mehr als Riesenkon zerne wie die W alt Disney Company. In jenem Jahr verwaltet LTCM rund 4,7 Milliarden Dollar eigenes Vermögen, hat aber 140 Milliarden angelegt - zu sam m engeliehen durch Kredite von 55 Banken. Dann kommt das glorreichste Jahr des Hedgefonds. Vom Sommer 1997 an verfallen die Währungen mehrerer asiati scher Staaten. Im Oktober stürzt der Dow-Jones-Index an einem Tag um 554 Punkte ab. Trotzdem schließt LTCM mit einem Gewinn von immer noch beacht lichen 17 Prozent ab. Und der Fonds sonnt sich zudem im Schimmer aller höchster akademischer Würden: Merton und Scholes wird der Wirtschaftsnobel preis zugesprochen. Doch was kaum jem and w eiß: Scholes investiert sein Preisgeld nicht im eigenen Fonds ... Die Professoren glauben zwar nach wie vor an die Unfehlbarkeit ihrer For meln, doch beunruhigt sie inzwischen wohl die Höhe des Hebels und die Un übersichtlichkeit der LTCM-Investitionen. Außenstehenden sagen sie allerdings nichts davon. Und nur knapp fünf Monate später wird LTCM die Einlagen sei ner Investoren fast voll ständig verbrannt haben. D as D ram a be ginnt am 17. A ugust 1998, als M eriw ether im Sommerurlaub ist: Russland kann seine Kredite nicht länger be dienen. Schockwellen an den Börsen von der Türkei bis nach Brasi lien sind die Folge, überall brechen die Kurse ein. Und überall haben die Quants von LTCM mit einer für Laien geradezu unfassbaren Naivität investiert. Getreu dem Hedge-Prinzip, dass ein M arkt nach oben geht, wenn ein an derer fällt, haben sie auf allen Märkten investiert, aber stets nach der gleichen Stra tegie Gelder angelegt. Dass die vernetzte W irtschaftsw elt, erschüttert von der Asien- und nun der Russland-Krise, sich überall in die gleiche Richtung bewegt,
Lesen S ie weiter a uf Seite 142 GEO EP O C H E Kapitalismus
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Nach 34 Stunden fast pausenloser Verhandlungen retten schließlich 14 Ban ken LTCM m it rund 3,65 M illiarden Dollar. D ie Geldhäuser stabilisieren den Fonds damit so weit, dass er seinen Ver pflichtungen nachkom m en kann und somit Notverkäufe zu den gesunkenen Kursen verhindert werden. Tatsächlich erholen sich die Preise der LCTM-Vermögenswerte (also der Anlagen, die zum größten Teil über Kredite finanziert wur den) in den nächsten M onaten, diese Positionen werden nach und nach auf gelöst und die Kredite zurückgezahlt. Schon zum Jahresende erhalten die an der Rettung beteiligten Banken ihre Ret tungsmilliarden zurück. Und die Wall Street ist, wieder ein mal, einem Kollaps entgangen. Ein Triumph der Fed? Zwar hat Greenspan keine öffentlichen Gelder eingesetzt, sondern Privatbanken mehr oder weniger gezwungen, den taumeln den H edgefonds m it eigenem Kapital zu stützen, doch die Botschaft ist klar: Greenspan schützt nicht nur system relevante Banken vor dem Ruin, sondern auch einen hochspekulativen H ed g e fonds. D ie Spekulanten müssen nicht alle Folgen ihrer Fehler tragen. Kein gutes Signal für die Zukunft. Nur 15 Monate nach dem BeinaheKollaps gründen John M eriwether und einige ehemalige Mitarbeiter einen neu en Hedgefonds, sammeln 250 M illionen D ollar ein und pum pen sie wieder in die Märkte der W elt - erneut auf Basis verm eintlich unfehlbarer m athem ati scher Modelle.
V. Kapitel
DAS V E R S A I L L E S VON L ONG I S L A N D Wie sich ein W all-Street-Investor knapp 40 B adezim m er einrichtet
Ab 1999 lässt sich der N ew Yorker Spe kulant Ira Rennert auf der H albinsel Long Island vor den Toren N ew Yorks eine Palastanlage mit mehr als 10 000 Quadratmeter W ohnfläche errichten.
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Kosten: 100 M illio n en Dollar. Seine neobarocke Villa hat 29 Schlafzimmer, 39 Badezimmer, ein Kino m it 164 Plät zen, ein 28 M eter langes Esszim m er, drei Schwimmbäder, Basketball-, Tennisund Squash-Plätze, zwei Bowlingbahnen und eine Großküche. Zu dem Anwesen gehören darüber hinaus fünf weitere Gebäude, darunter ein Parkhaus für 200 Autos. In Manhattan besitzt Rennert eine zweistöckige W ohnung an der Park Ave nue, die m it A ntiquitäten und echten Impressionisten gefüllt ist, und in Jeru salem eine weitere palastartige Villa. Schlagzeilen hat der Investor zuvor gem acht, als seine Firma die Renten mehrerer Tausend Arbeitnehmer in G e fahr brachte, w eil eines der U nterneh men, die er kontrollierte, pleite ging.
V I. Kapitel
SWAPS, O P T I O N S & CO Wie die scheinbar besten Absicherungen gegen das Risiko zum größten Risiko überhaupt werden
A u f Spekulanten übt die von ihnen an gewandte M athem atik vielleicht gerade wegen ihrer für Laien nicht mehr nach vollziehbaren Komplexität einen beson deren Reiz aus. Auch die Märkte schei nen der höheren M athem atik in einem entscheidenden Punkt immer ähnlicher zu werden: Sie sind zum Teil so komplex, dass fast niemand sie mehr versteht. N ach und nach entstehen im F i nanzmarkt Produkte, deren wirkliche Größe, Kosten und Auswirkungen so gut wie keiner mehr durchschaut. D ie bedeutendsten von ihnen sind die Derivate, ursprünglich grundsolide Finanzinstrumente. Basis für ein D eri vat (von lat. derivare, „ableiten“) ist das schon seit Jahrhunderten praktizierte Termingeschäft: Ein Verkäufer verspricht, zu einem bestim m ten Zeitpunkt eine bestim mte Ware zu einem bestim mten Preis zu liefern - und ein Käufer ver spricht, diese Ware zu diesem Preis ab
zunehmen. Ein Bauer etwa sagt einem Müller per Vertrag zu, ihm in sechs M o naten x Tonnen Getreide zum Preis y zu überlassen, die der Müller dann kaufen muss. D am it verringert der Bauer schon bei der Aussaat sein Risiko durch m ög licherw eise sinkende Getreidepreise: Einen Teil seiner Ernte wird er zu dem jetzt vereinbarten Preis abgeben, den an deren Teil zum späteren Marktpreis. Fällt der Marktpreis, profitiert der Bauer von dem Termingeschäft. Steigt er dagegen, macht der Bauer weniger G e winn: seine Kosten für die Risikoabsi cherung. Umgekehrt senkt der Müller so die Gefahr, die von steigenden Getreide preisen für ihn ausgeht. Bereits im 17. Jahrhundert entw i ckeln Kaufleute aus diesen individuellen Übereinkünften zwischen Geschäftspart nern ein Produkt: standardisierte Ver träge auf die Zukunft, die an speziellen Börsen, etwa in Amsterdam, gehandelt und später futures genannt werden. Erwartet ein M üller nun, dass die Kornpreise steigen, kauft er an der Börse Futures, die den aktuellen günstigen Preis festschreiben; fürchtet der Bauer, dass die Preise fallen, kauft er Papiere, die ihm den jetzigen Preis sichern, bis er sein Korn wirklich verkaufen kann. A uch später als options („O ptio nen“) bezeichnete Verträge werden schon an diesen Börsen gehandelt. Diese Kon trakte unterscheiden sich von den Fu tures dadurch, dass Käufer oder Verkäu fer gegen eine Gebühr lediglich das Recht erwerben, eine Ware zu einem bestimm ten Preis und Zeitpunkt in der Zukunft zu kaufen bzw. zu verkaufen - dies aber nicht tun müssen, sollte es bei Fälligkeit nicht vorteilhaft für sie sein. D er W ert von Futures und O ptio nen verändert sich abhängig vom tat sächlichen aktuellen Preis der zugrunde liegenden Ware, etwa des Korns: Er leitet sich also von diesem ab - deshalb heißen solche Kontrakte „Derivate“. M it Derivaten können auch M en schen handeln, die nichts mit den eigent lichen W arengeschäften zu tun haben: Spekulanten, die nicht ihre Risiken m i nimieren wollen, sondern sogar gezielt Risiken eingehen, um von Preisveränderungen zu profitieren.
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DIE BANKER
DICK FULD
Getrieben von Gier u nd Größen
Befeuert die
wahn, schaffen diese M ä nner künstlich aufgepumpte M onstren,
Krise m it dem Z usam m enbruch seiner Invest
die im Scheitern g anze Volkswirt
m entbank Leh
schaften m itzureißen drohen
man Brothers m aß geblich
SANDY WEILL
STAN O'NEAL
Er baut die
D er C h e f von
C itig ro u p auf, die
M errill Lynch
erste Superbank,
steuert die Bank
und b e tre ib t in
in H o ch risiko
W ashington
geschäfte - und m illiardenschwere
D eregulierung
Verluste
FRED GOODWIN
JIMMY CAYNE
U n te r seiner
Stearns w ette t,
Ä g id e schluckt
von ihm geführt,
die Royal Bank
M illia rd e n auf
o f Scotland K on
le tztlich wertlose
kurrenten. Und
H yp o th e ke n
ü b e rn im m t sich
kredite
Ein solcher Investor könnte etwa darauf setzen, dass eine vorausgesagte gute Ernte doch noch durch Unwetter zerstört wird, der Getreidepreis also nicht sinkt, sondern wegen Knappheit steigt. Er kauft dann Derivate, deren Wert zu nimmt und die er später m it Profit ver kauft: D ie D ifferen z zw ischen dem Kauf- und Verkaufskurs ist sein Gewinn. Den Verlust in gleicher Höhe würde ein anderer M arktteilnehm er machen: derjenige nämlich, der m it sinkenden Getreidepreisen gerechnet hätte. D enn Derivate sind nichts anderes als W etten zwischen zwei Seiten, die jeweils entge gengesetzte Vorstellungen von der Zu kunft haben. U nd stets entstehen dabei in gleicher H öhe Gewinne und Verluste. So helfen die Spekulanten zwar einerseits auch den Bauern, denn sie sind es oft, die die Gegenwetten liefern. A u f der anderen Seite kann die Spekulation
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D ie Bank Bear
Preise steigen oder abstürzen lassen und so die Risiken der Bauern sogar erhöhen. Bis in die frühen 1970er Jahre wer den Derivate nur für den H andel von W aren eingesetzt. D o ch dann geben die P olitiker die seit dem Z w eiten W eltkrieg bestehende internationale W ährungsordnung auf; die zuvor am Dollar orientierten festen Wechselkurse beginnen zu schwanken - und schaffen zuvor unbekannte Risiken für Im - und Exporteure. Bereits 1972 werden deshalb die ersten Finanzderivate angeboten, die nach dem bekannten Prinzip diese Kurs veränderungen ausgleichen helfen. Bald darauf folgen auch die ersten Futures, die steigende und sinkende Zinsen betreffen. Und zugleich entwickeln Mathematiker Modelle, mit denen Konstruktion, Preis bestimmung und Handel von Derivaten einfacher werden.
Finanzkapitalismus
L o b bya rb e it für
Eine Revolution hat begonnen: Von nun an eröffnen sich dem Derivatgeschäft immer mehr Felder und Möglichkeiten. D en n die B eteiligten ersinnen immer neue Produkte, die G elegenheiten zur Risikoabsicherung bieten. Aber auch zur Spekulation. Um 1980 erfinden Mitarbeiter einer N ew Yorker Investmentbank den swap, einen Tausch. Zw ei Hausbesitzer etwa haben jeweils einen Kredit über die glei che Sum m e und die gleiche Laufzeit abgeschlossen, der eine zahlt feste neun P rozent Z insen pro Jahr, der andere hat einen veränderlichen Zinssatz. Nun fürchtet der Erste, die Zinsen werden fallen und er könne nicht davon profitie ren. U nd der Zweite glaubt, die Zinsen werden steigen. Er hätte lieber feste neun Prozent Zinsen. M it dem Swap verabreden beide, jeden M onat die Kreditkosten des ande ren zu bezahlen. Sie tauschen die Belas tungen, weil sie jeweils auf gegenläufige Z insentw icklungen hoffen. Ä hnliche Swaps werden auch für schwankende Wechselkurse entwickelt. Vereinbarungen dieser Art - meist in sehr viel größeren Dim ensionen vor genom m en - müssen jedoch wieder in dividuell auf die Bedürfnisse eines Inter essenten zugeschnitten werden; er muss vor allem einen genau passenden Partner finden, der die W ette annimmt. D eshalb werden Swaps fast gar nicht an Börsen gehandelt, sondern meist über eine Bank oder einen Makler direkt abgemacht, im Finanzjargon: over the counter, „über den Tresen“ (OTC). Auch Optionen und Future-Kontrakte werden mitunter individuell angepasst und als außerbörsliche OTC-Papiere gehandelt. D ie Gefahr bei diesen nicht öffent lichen Zweiergeschäften: Der Wettpart ner kann kaum einschätzen, in welche weiteren OTC-Kontrakte das Gegenüber verwickelt ist, wie es um dessen Kredit würdigkeit steht oder welche Folgen eine Zahlungsunfähigkeit auf der Gegenseite für andere Verträge hat. Dennoch können Spekulanten Ende der 1990er Jahre mit Derivaten auf so gut wie alles wetten, was sich in Kurs, Preis oder H öhe verändert: Butter und Rohöl, Aktien und Anleihen, Zinsen und D evi sen. Aber auch auf abstraktere Größen
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wie etwa auf die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Kreditnehmer ihre Schulden nicht mehr bezahlen können (das soge nannte Ausfallrisiko). Und sogar auf das Wetter: auf Niederschlagsmengen und Temperaturkurven. D ie zunehmende weltweite Vernet zung hilft bei der Suche nach den jewei ligen Wettgegnern. Und Computer ver einfachen die Berechnung der Verträge. So entstehen unzählige Produkte ftir fast jeden Zweck. Unternehmen und Großanleger versuchen sich gegen un terschiedlichste, oft sehr spezielle Risi ken zu schützen, immer komplexere und umfangreichere Wagniskonstrukte zu managen. Andere Investoren und Spekulanten wiederum finden in den Derivaten vor allem hochriskante, aber potenziell profitstarke Finanzinstru mente. Banken und Maklerfirmen trei ben das Geschäft voran, weil sie an der Ausgabe und Vermittlung von Derivaten gut verdienen. U nd w ie bei anderen F in an z geschäften auch hebeln viele Käufer ihre investierten Summen, erhöhen also das Volumen massiv durch zusätzliche Kredite. So steigen Menge und Wert der gehandelten Derivate in ungeahnte, von der realen W irtschaftsentwicklung gro tesk entkoppelte Höhen. 1998 entspricht der Wert der global in Um lauf befind lichen Derivate bereits dem Dreifachen des Welt-Bruttoinlandsprodukts. Und es gibt für den Handel außer halb der Börsen so gut wie keine Regeln. Im Mai 1998 veröffentlicht die US-A ufsicht über die Terminmärkte zwar Vor schläge, wie diese Geschäfte kontrolliert werden könnten. D och ZentralbankC hef Alan Greenspan, der Apostel des freien Marktes, bekämpft die Pläne so fort. Die Fed könne keine Gründe erken nen, weshalb eingegriffen werden sollte: D ie einzelnen Beteiligten am Derivate handel würden ja die Kreditwürdigkeit ihres Gegenübers und die Risiken ihrer Transaktionen aus eigenem Interesse heraus am besten prüfen. Am 21. Dezember 2000 setzt U SPräsident Bill Clinton ein G esetz in Kraft, das den ohnehin kaum regulier ten Markt für O T C -D erivate völlig entfesselt: Er bleibt jeder behördlichen Aufsicht entzogen, und die freie Speku
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Experten entwickeln im m er neue Finanzprodukte, die es erlauben, auf so gut wie alles zu spekulieren: die Veränderungen von Zinsen, Kursen, Preisen, wie sie auf den Bildschirmen der Trader Tag fü r Tag, Sekunde für Sekunde aufscheinen
lation mit den Derivaten wird ausdrück lich erlaubt. Damit verändern Swaps, Options & Co den Finanzmarkt in drei entschei denden Aspekten: • Sie blähen ihn auf. Für Spekulan ten entstehen enorme neue Betätigungs felder, auf denen sie Summen bewegen können, die noch w enige Jahre zuvor schier unvorstellbar waren. • Sie machen ihn unübersichtlich. Schon zuvor war es kompliziert, die Güte eines Kredits oder die Bonität eines Schuldners einzuschätzen. Durch Swaps jedoch wird nun vollkommen unklar, wer letztlich welche Gelder vergibt und wer für wessen Schulden eigentlich einsteht. Das weltweite Derivatgeflecht aus mil lionenfacher Risikoabsicherung und Spe kulation, aus unzähligen obskuren OTCKontrakten, wird zu einem gewaltigen Finanzgebilde, das weder zu überblicken noch zu kontrollieren ist. • Sie machen ihn risikoreicher. Aus dem riesigen Volumen und der neuen U n übersichtlichkeit ergibt sich, dass Krisen selbst für Experten an überraschender
Stelle, mit überwältigender Schnelle und unkalkulierbarer W ucht ausbrechen und sogar Akteure treffen können, die buch stäblich bis zu dem Augenblick, da sie pleite gehen, nicht einmal ahnen, dass sie ein derart großes Risiko eingegangen sind. So verwandeln sich Instrumente, die jahrhundertelang dem Schutz der W irtschaftswelt gegen das Risiko dien ten, in deren gefährlichste Sprengsätze.
V I I . K ap itel
WER MACHT DIE GESETZE? Wie sich ein Bankchef den Staat so form t, wie er ihn braucht
Sandy W eill und John Reed sind bester Laune an diesem 6. April 1998. Zufrie den sitzen sie auf einer Pressekonferenz vor den Fotografen, scherzen m it den Journalisten. Gerade haben die beiden
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K onzernchefs die bis dahin größte F ir m enfusion der G eschichte angekündigt. Sie wollen ihre U nternehm en, den Versicherungs- und Finanzkonzern Travelers G roup und die Citicorp (zu der die größ te amerikanische G eschäftsbank gehört) zum g rö ß ten F in an z d ien stleiste r der W elt zusamm enschließen, einem Koloss m it einem B örsenw ert von 140 M illiar den D ollar u nd 100 M illionen K unden in 100 L ändern. Bei dem D eal gehe es, so verkünden sie, um die Verbindung der Geschäftsfel der Versicherungen und W ertpapierhan del m it Sparkonten u nd K reditkarten. Alles könne künftig aus einer H an d angeboten werden. Dies sei die Z ukunft der Finanzbranche. Allein: Eigentlich dürfte die Fusion keinen B estand haben. D en n die U S Gesetze verbieten es, dass ein U nterneh men, zu dem eine B ank gehört, andere
F inanzgeschäfte betreibt, etw a Versi cherungen anbietet. Innerhalb von zwei Jahren müsste die neue Riesenfirm a die betreffenden A bteilungen abstoßen. Weill und Reed aber sehen es so: Sie haben nach der Fusion zwei Jahre Z eit, um die G esetze ihrer K onzernstruktur anzupassen. U nd sie wissen, der G eist der Z eit ist au f ihrer Seite. D en n seit den 1970er Jah ren h at sich der Schw erpunkt der herrschenden ökonomischen Lehre radikal verschoben:
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Besonders die G eschäftsbanken hatten Problem e, m it ihrem Einlagengeschäft noch G eld zu verdienen. Sie verloren K unden an lukrativere G eldm arktfonds, und die Zinsen, die sie für ihre H ypothe kenkredite bekam en, reichten oft nicht aus, um G ew inne zu machen. Um diese Probleme zu lösen, betrieb die U S -Z en tra lb an k - ganz im Sinne der W all Street - ab 1986 nach und nach die schrittweise Aushebelung von GlassSteagall. Sie erlaubte Geschäftsbanken, einen Teil ihrer G ew inne nun doch wie der m it dem H andel von W ertpapieren zu erwirtschaften: 1986 erst fünf Prozent, dann zehn und im Jahr 1996 schließlich 25 Prozent. D arüber hinaus arbeiteten ab 1995 die Berater des W eißen Hauses rund um den Finanzm inister Robert Rubin (einen ehemaligen Topmanager der Investment bank G oldm an Sachs) an der kompletten A ufhebung von Glass-Steagall. W ie in einer H interzim m erintrige versuchten sie, Präsident Bill C linton in ihrem Sinne zu beeinflussen. D en n der Demokrat, obwohl liberalen Ideen durch aus zugetan, zögerte noch, die staatliche K ontrolle über die W all Street so dras tisch zu lockern. U m ihn zu der gew ünschten E n t scheidung zu drängen, forderten ihn die Berater um Rubin zweimal auf, innerhalb von nur drei Tagen seine Position in der Frage festzulegen, da wichtige Sitzungen zu dem T h em a anstünden. Sie überschw em m ten ihn zudem m it A rgum enten für die Liberalisierung des Finanzsektors und versicherten ihm, dass er sich m it den D etails n ich t be schäftigen müsse - das F inanzm iniste rium übernehm e diese Aufgabe gern. D ah e r ist der Z eitg eist ganz auf D ereg u lieru n g ein g estellt, als Sandy W eill im Februar 1998 Jo h n Reed die Fusion ihrer beider U nternehm en vor schlägt. Dass sie in ihrem neuen Konzern auch W ertpapierhandel und klassisches B ankgeschäft zusam m enführen wollen, ist nach der A ufw eichung von G lassSteagall schon jetzt kein Problem mehr. D och es bleibt das große Hindernis, dass das Bank-H olding-Com pany-G esetz das Z usam m engehen von G eschäftsbanken (wie die der Citicorp) und Versicherun gen (wie Travelers) untersagt.
Finanzkapitalism us
Die Dynamik, die Händler entfachen, ist nur noch schwer zu kontrollieren. Aber kaum ein Verantwortlicher versucht es überhaupt
weg von staatlicher Einmischung, von der L enkung der M ärkte, h in zu D eregulie rung, Flexibilisierung, Privatisierung. M eh r M ark t und w eniger Staat ist das M a n tra von Ö k o n o m en w ie dem Österreicher Friedrich August von Hayek und dem A m erikaner M ilton Friedman, für die staatliche Eingriffe in die W irt schaft nahezu zwangsläufig in die Knecht schaft führen. B eide W issen sch aftler erh ielten M itte der 1970er Jahre den W irtschaftsnobelpreis. Fortan w urden jahrzehntealte G e setze aufgew eicht, in den U S A etw a der „Glass-Steagall A ct“. D ie nach zwei Kongress-A bgeordneten benannte Vor schrift war wenige Jahre nach dem Crash von 1929 erlassen w orden, um die Risi ken im B ankengeschäft zu begrenzen. Sie verfügte die klare T re n n u n g von G eschäfts- und Investm entbanken: D ie Geschäftsbanken in den U SA arbeiteten seither m it G u th a b e n u n d K rediten, durften jedoch nicht m it A ktien und an deren W ertpapieren handeln. D ies war Investmentbanken Vorbehalten. So sollte verhindert werden, was vor dem C rash von 1929 so o ft geschehen war: dass Banken das G eld ihrer privaten Kunden in riskante Spekulationsgeschäf te investierten - oder dass sie Anlegern, die kom plizierte Finanzgeschäfte nicht durchschauten, m ehr oder weniger w ert lose Papiere andrehten. Aus den gleichen Gründen, nämlich um die Einlagen der Sparer zu schützen, wurde es Konzernen, zu denen Geschäfts banken gehören, 1956 im „Bank H olding C om pany A c t“ verboten, m it anderen Finanzuntem ehm en zu fusionieren, etwa Versicherungen. D ie A kteure an der W all Street je doch bekäm pften die G esetze, die ihre Geschäfte einschränkten. In der zuneh m end globalisierten W elt verdam m ten ihre Lobbyisten die Regelungen als läs tige Brem se im K onkurrenzkam pf m it ausländischen Instituten, die keine der artige T rennung per G esetz kannten. U n d ihre A rgum ente trugen dazu bei, dass es schon in den 1980er Jahren mehrere Gesetzesinitiativen gegen GlassSteagall gab. D o ch noch fand sich im Kongress keine M eh rh eit dafür. D ab ei schm olzen seit den 1970er Jahren die G ew inne vieler U S-B anken.
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DIE ANTREIBER Sie p r o fitie r e n vom Im m ob ilien -B oom des fr ü h e n 21. Ja h rh u n d erts u n d b efeu ern ihn. Sie ü b erz eu gen v ie le A m eri kaner, H äuser zu kaufen, K red ite au fz u n eh m en — u n d d ie B ank en, K red ite auch je n e n zu g e w ä h ren, d ie sie g a r n ich t b ed ien en können
Dennoch ist W eill zuversichtlich, dass auch diese Hürde fallen wird. Er will Fakten schaffen, nach denen sich der Staat dann richten muss. Es mag wie der Plan eines Größenwahnsinnigen klingen. Doch W eill ist kein Hasardeur. Gemeinsam mit Reed lotet er zunächst seine Chancen aus, bevor er sich endgül tig für die Fusion entscheidet. So treffen sich die beiden heimlich mit Alan Greenspan. Der verspricht, die Fusion zu unterstützen: „Ich habe nichts gegen Größe.“ Anschließend telefoniert W eill mit dem Finanzminister Robert Rubin und sogar mit Präsident Clinton; beide reagieren ebenfalls wohlwollend. Das reicht W eill und Reed, um die Fusionspläne am 6. A pril 1998 zu ver künden. Die A ktienkurse der beiden Unternehmen steigen um zehn Prozent. Dem Gesetz nach müssten die Fir menchefs nun eigentlich einen Plan ent wickeln, wie sie ihren neuen Konzern, die Citigroup, so beschneiden, dass er dem rechtlichen Rahmen entspricht. Stattdessen starten sie eine mehr oder weniger verdeckte Kampagne gegen die geltenden Regeln. Sie nutzen ihre guten Kontakte zu Rubin und anderen Beratern des Präsi denten, um während der zweijährigen Übergangsfrist, die das Gesetz vorsieht, die störenden Regularien zu beseitigen. Ein Finanzexperte erzählt später, Weills und Reeds Parteigänger hätten so viel Druck gemacht, dass die von ihnen angestrebte Deregulierung in W ashing
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FRANK RAINES Bis 2004 Vorstand der weltweit größten Hypothekenbank Fannie Mae
HERB UNO MARION SANDLER
ANGELO MOZILO Ve rg ib t m it seiner
Ihre Bank ver
Firma C ountryw ide
fü h rt Hauskäufer
landesweit Haus
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kredite - auch ohne
Versprechen
Sicherheiten
ton schlicht „Citi-Travelers Act“ genannt wurde. 150 M illio nen D ollar hat der Finanzsektor in den M onaten zuvor an politische O rganisationen gespendet, 200 M illionen in Lobbyarbeit investiert. Dass W eills und Reeds Verbündete im Weißen Haus an einem Gesetz arbei ten, das ihren Deal frühzeitig legalisieren könnte, soll aber geheim bleiben: „Bitte iss dieses Papier auf, nachdem du es gelesen hast“ schreibt ein Berater seinem Kollegen auf ein Memo. Es ist nur halb im Scherz gemeint. Im November 1999, lange vor A b lauf der Frist, haben W eill und Reed ihr Ziel erreicht: Der US-Kongress be endet die Einschränkungen der Banken geschäfte durch den Glass-Steagall Act und den Bank Holding Company Act. Es sei an der Zeit, erklärt Präsident Clinton in einer kurzen Ansprache, alte M auern einzureißen und den Banken mehr Befugnisse zuzugestehen. Für viele Beteiligte ist es ein Triumph: • für die Wall Street, wo nun weitere Finanzriesen entstehen; • für Sandy W eill, der durch seinen Coup fabelhafte Gewinne einstreicht; • für Robert Rubin, der zur C iti group wechselt und als Vorstandsmitglied dort in den nächsten zehn Jahren mehr als 126 M illionen Dollar verdienen wird. Nach der Fusion lässt Sandy W eill in der Bibliothek der neuen Riesenfirma eine offene Feuerstelle installieren. Kos ten: rund 100 000 Dollar. „Kamine bringen Glück“, sagt er.
V III. Kapitel
DER SEKUNDENTORNADO Wie C om puter in W im pern schlägen M illion en verschieben — u n d so das F inanzsystem destabilisieren So wie die Wall Street manche Beobach ter schon lange an ein Spielkasino erin nert, so ist in der Finanzwelt auch das Gegenstück zum Computerspiel entstan den: Es scheint wie pure Zockerei am und mit und durch den Rechner. Es heißt H igh-F requency Trading. Die Spieler sind Händler, deren einziges Ziel die Gewinnmaximierung ist - ohne jede Rücksicht darauf, wie sehr sie bei dem Deal die anderen M arktteil nehmer schädigen. Sie schließen M illio nen von Deals ab. Jeden Tag. Hochfrequenzhandel ist die Do mäne kleiner Firmen mit riesigen Com putern. Denn in der Regel beginnt ein H FT -U nternehm en den Handelstag, ohne ein einziges Wertpapier zu besitzen. Sobald die Börsen jedoch öffnen, kaufen Rechner in Spannen von Tausendstel oder Mikrosekunden Hunderttausende Papiere und stoßen sie manchmal nur Sekunden später wieder ab. Dieser Sekundentornado unabläs siger Käufe und Verkäufe tobt den gan
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IAN MCCARTHY
DAVID LEREAH
Seine Hausbau
C h e fö ko n o m eines
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M aklerverbandes,
bilien b o o m durch
BURTON JABLIN D e r T V -M a n n
ihre finanzielle
preist Im m obilien
R eality-F orm ate
Situation zu
als unfehlbare
über Hauskäufer
beschönigen
A n la g e
und -Verkäufer an
zen Handelstag lang. A n der virtuellen Börse vernetzter Computer werden pau senlos gewaltige Volumina verschoben, werden A ktien zu 7,83 D ollar gekauft und bei 7,84 D ollar abgestoßen, ohne dass ein M ensch noch dafür seine Z u stimmung gibt. Algorithmen rechnen in unfassbarer Geschwindigkeit Kurse, Preise und Ten denzen aus und geben daraufhin Orders. D ie Händler verdienen damit jeweils nur Bruchteile von Cents, aber da die schiere Zahl der D eals so hoch ist - manche HF-Trader schlagen an einem Tag mehr als 200 M illionen Aktien um - , können die Profite enorm sein. A m Ende eines Handelstages sind in der Regel alle Papiere wieder verkauft. Der HF-Trader geht meist so nach Hau se, wie er zur Arbeit gekommen ist: ohne eine Ware. Aber meist m it hohem, sehr hohem Gewinn: Bis zu 21 M illiarden Dollar im Jahr, schätzen Experten, ver dienen die amerikanischen HF-Trader. D erartige Volumina können nur noch künstliche G ehirne bewältigen. Wollte früher ein Investor Aktien kaufen, musste er die Order telefonisch an den Broker durchgeben, der sie seinerseits an der Börse platzierte - und es dauerte teilweise Stunden, bis tatsächlich jene Aktien gekauft waren. A n der N ew York Stock Exchange, die schon früh m it Computern aufgerüstet hatte, verkürzte ein 1984 freigeschaltetes Programm die Handelszeit für Orders geringeren U m fangs auf drei M inuten.
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Seit 2012 bringt ein anderes System einen D eal in durchschnittlich 37 M i krosekunden unter D ach und Fach. Da bleibt keine Zeit zum Nachdenken. HF-Trader leben vom Speed: Nur wenn sie - beziehungsweise ihre C om puter m it den entsprechenden Handels programmen - die Ersten sind, die einen Trend erkennen oder eine Aktie zu einem bestimmten Preis kaufen oder verkaufen, machen sie Gewinn. Kommen sie 0,001 Sekunde zu spät, ist schon jem and anderer da, hat mit seiner Aktion den Kurs um eine W inzig keit verändert und damit die Chance auf einen M ikroprofit je E inzelaktie zerstört. Einem langfristig interessierten In vestor, etwa einem Fonds, der eine Aktie bei 25,00 D ollar kauft, w eil er hofft, dass sie ein Jahr später bei 50,00 Dollar angelangt sein wird, kann es gleichgül tig sein, ob er sie erst für 25,01 Dollar ersteht. Für einen HF-Trader, der diese A ktie sofort wieder verkaufen muss, ist der eine C ent aber schon zu viel. D ie Computer der Hochfrequenz händler müssen daher in extrem kurzen Spannen gleich drei hochkomplexe Auf gaben nacheinander abarbeiten: 1. In den Elektronengehirnen Zehntausende Zeitreihen von Daten ge speichert, unter anderem A ktien- und Währungskurse der letzten Jahre. Taucht irgendwo an einer Börse ein neuer A uf trag auf, muss er blitzschnell m it allen bisherigen Deals verglichen werden.
2. Erkennt ein Algorithmus in den alten D aten eine Entwicklung, die eine Profitchance für den neuen D eal ver spricht, etwa die M öglichkeit, dass ein Aktienkurs bald um einen Cent steigen wird, erteilt er einen Kaufauftrag. 3. E in weiteres Programm setzt diese Order um: Es regelt beispielsweise, an w elchen Börsen zu welchem Z eit punkt und zu w elchem Preis w ie viele Aktien gekauft werden. D a sich inzwischen sehr viele H F Trader auf sehr vielen Börsen bewegen, ist es ein brutales Rennen: Jeder Händler, dessen technische Ausstattung zu lang sam ist, geht leer aus. Zugleich hat es sich aber auch zu einer Art Computerschach entwickelt: In Schritt 3 etwa teilen Algorithmen Kauf orders über Hunderttausende Aktien in viele kleine A ufträge auf, die sie an verschiedenen Börsen platzieren, statt eine große Order zu geben - damit der Aktienkurs nicht durch die ungewöhn lich hohe Nachfrage abrupt in die H öhe getrieben wird. Andere HF-Trader jedoch nutzen „Gegen-Programme“, die ebendies erkennen sollen: Gibt es im Strom der M illionen Deals Muster in scheinbar unzusammenhängenden, kleinen Kaufaufträgen, die auf eine große, versteckte Order schließen lassen? Falls ja, könnte man auf eine Kurssteigerung wetten. Das Wettrüsten der HF-Trader um im mer schnellere Technik nim m t ab surde Dim ensionen an. D a auch in m o dernsten Glasfaserkabeln Signale nicht schneller als m it rund zwei D rittel der Lichtgeschwindigkeit übertragen werden können, spielt die Entfernung zwischen Sender und Em pfänger nach w ie vor eine Rolle: D en n ein Rechner etwa in Chicago erfährt eine Kursänderung in N ew York um eine W inzigkeit später als ein Computer in N ew York selbst. Daher lässt ein Börsendienstleister 2 0 0 9 Tunnel durch Berge sprengen, Röhren unter Flüsse verlegen und dort sind Glasfaserkabel hindurchführen, um so möglichst wenig von der kürzesten Stre cke zw ischen einem Rechenzentrum in Chicago und einem nahe N ew York abzuweichen. Mittlerweile haben sich die größten HF-Trader, digitalen Parasiten gleich, mit
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ihren Computern sogar bei den Börsen selbst eingenistet. So ließ die NYSE ein neues Rechenzentrum errichten - groß wie sieben Footballfelder, mit halbme terdicken Leitungen, deren zirkulierendes Wasser die Server kühlt - , wo HF-Trader gegen Hunderttausende Dollar an Jah resmiete ihre eigenen Rechner installie ren durften. Vertraglich wird dabei ga rantiert, dass jede Ecke des Gebäudes mit den gleichen Hochleistungskabeln versorgt wird: dam it wenigstens im Haus selbst Geschwindigkeitsgleichheit herrscht. Doch hat sich nicht nur die Ge schwindigkeit des Handels beschleunigt, sondern auch eine Schattenwelt gebildet. Eingeleitet hat diese Entwicklung 1970 ein Computerverbund, den mehrere Banken, Fonds und Versicherungen auf gebaut hatten, um unabhängig von der NYSE Dividendenpapiere zu handeln. Ein Jahr später entstand die erste rein elektronisch betriebene Computerbörse: Hier wurden Angebot und Nachfrage nicht mehr von Maklern, sondern von Rechnern automatisch zusammenge führt. Heute sind allein in den USA rund 100 solcher Rechnerbörsen aktiv, doch nur 13 dieser Handelsplätze gehören zu traditionellen Börsen. Der Rest sind meist bankinterne Systeme oder Handelsplattformen, die so wenige Informationen über Transaktio nen, Preise und Akteure herausgeben, dass sie „Dark Pools“ genannt werden. Das Aufkommen dieses außerbörs lichen Computerhandels, vor allem der Dark Pools, hat zwei gravierende Folgen: S ch n elligk eit und U nübersichtlichk eit. Denn die Plattformen sind kaum trans parent, eine Überwachung fehlt. M it den Dark Pools und der absur den Hochrüstung haben Banken und andere Finanzunternehmen eine gefähr lich instabile Situation geschaffen. Denn natürlich sind die Computer nur so klug wie die Menschen, die sie programmiert haben - aber sie sind viel, viel schneller. Ihre Algorithmen arbeiten streng nach logischen Vorgaben ihr Programm ab: Werden sie nicht rechtzeitig gestoppt, kann es in kritischen Situationen zum Kollaps des Markts kommen. Und genau das geschieht beinahe am Donnerstag, dem 6. M ai 2010.
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An diesem Tag wirft ein Fonds Pa piere für etwa 4,1 Milliarden Dollar auf den M arkt. Nach und nach schaukeln sich die automatischen Systeme gegen seitig hoch - und geraten schließlich außer Kontrolle: Die H FT-Com puter handeln wie verrückt. Allein um 14.45 Uhr schließen die Rechner innerhalb von 14 Sekunden un tereinander 27 000 Orders ab. Der A k tienpreis der Firma Procter & Gamble pendelt in diesem kurzen Zeitraum zwi schen 100 000 Dollar und einem Cent. Die Kurse stürzen ins Bodenlose. Einige Trader versuchen einzugreifen, doch das ist unmöglich. In wenigen M i nuten verdampfen Börsenwerte von über 800 Milliarden Dollar. Dann wird der Handel plötzlich unterbrochen - wieso, weiß keiner genau. M ikrosekundendeals sind nun nicht mehr möglich. Fünf Minuten später sind die Kurse annähernd auf ihr normales Niveau zurückgekehrt: Der „Flash Crash“ ist vorüber, wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film, in dem die M a schinen die Menschen beherrschen. Und so wie niemand mit Sicherheit sagen kann, was genau der Auslöser war für den Marktabsturz, wirft auch die Gegenbewegung bis heute Fragen auf. Der Crash bleibt ohne große Fol gen. Doch was wäre geschehen, wenn es dazu nicht nachmittags gekommen wäre, sondern erst kurz vor Börsenschluss: wenn also keine Zeit mehr geblieben wäre, die Folgen zu korrigieren? Oder wenn er etwas länger gedauert hätte als fünf Minuten - lange genug, um Akteure an der W all Street zu ruinieren? Die US-Börsenaufsicht erstellt spä ter einen Untersuchungsbericht, tastet aber das Wesen des H FT nicht an: Bis heute sind vollautomatische Deals mög lich, können Algorithm en nahezu in Lichtgeschwindigkeit M illiardenwerte verschieben. Auch wenn es seither verschärfte Absicherungen bei extremen Kursbewe gungen gibt (Aktien werden vom Handel ausgesetzt, wenn sich ihr Kurs innerhalb von fünf M inuten um mehr als zehn Prozent verändert): W ird das ausreichen, um im Notfall eingreifen zu können? Zudem gibt es noch immer die schwer zu kontrollierenden Dark Pools.
Noch immer weiß niemand genau, wer dort was mit wem handelt. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Crash die Börsen erschüttert. Und wo auch immer es geschehen wird: Es wird sehr, sehr schnell gehen.
IX. Kapitel
EIN 1947ER C H Â T E A U PÉTRUS Wie W ertpapier-Experten einen schönen A bend bei ein p a a r F laschen Wein verb rin gen Auch in London, dem zweiten Zen trum der Finanzwelt, verstehen sich die Jongleure des Kapitals aufs gute Leben. In einem Gourmetrestaurant bestellen
Durch unzählige com putergesteuerte W etten auf minim alste Kursausschläge machen H ändler M illiarden von Dollar
fünf Investmentbanker der britischen Bank Barclays Capital an einem Abend Wein im W ert von umgerechnet 56 000 Euro. Sie haben etwas zu feiern und lee ren unter anderem mehrere Flaschen des legendären Weinguts Château Pétrus. Eine Flasche des 1947er Jahrgangs dieses Rotweins kostet gut 15500 Euro, der 1945er steht für 14700 Euro auf der
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in Software, die W ertpapiere nach speziellen A lg o rith m e n kauft oder abstößt
Getränkekarte und der 1946er für knapp
12 000 Euro. Als Dessertwein zum Ab schluss des Essens bestellen die Banker einen 100 Jahre alten Château d’Yquem zu 11600 Euro. Bei einem Zwischengang hatten sie sich dagegen zurückgehalten: Der 1982er Montrachet kostete nur beschei dene 2200 Euro.
X. K ap itel
J E D E M EIN HAUS Wie die Investm entbank L ehm an B rothers a u f einen Boo?n spekuliert un d den Überblick v erliert Im Sommer 2007 steuert Richard „Dick“ Fuld seit 13 Jahren Lehman Brothers, die viertgrößte Investmentbank der USA.
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Die Kommandobrücke ist sein Büro im 30. Stock der Firmenzentrale in New York: ein holzvertäfelter Palast im Him mel, eigener Badetrakt, reservierter Fahr stuhl, VIP-Zugang, Bodyguards. Zu denen, die das zweifelhafte Ver gnügen haben, „King Richard“ persönlich zu erleben, zählt Madelyn Antoncic. Sie ist die Chief-Risk-Managerin von Leh man Brothers - jene Spezialistin, die alle Arten von Geschäftsrisiken einschätzt. Sie hat ein D utzend Jahre bei der Fed sowie bei Großbanken gear beitet und ist 2005 von Branchenkollegen zur „R isk-M anagerin des Jahres“ gewählt worden. Nun, im Sommer 2007, sind die M ärkte turbulent, zahllose Im mobilienkredite platzen, Hedgefonds kollabieren, Banken müssen M illiar denverluste bekannt ge
Finanzkapitalismus
Immer m ehr M akler werden durch C o m pu te r verdrängt. Finanzkonzerne investieren M illiarden in Hochleistungsrechner, die den Handel beschleunigen, und
ben, die Anleger sind nervös. Madelyn Antoncic hat bereits frühzeitig vor allem auf Risiken durch den aufgeheizten Im mobilienmarkt hingewiesen. Doch im mer dann, wenn Fuld mit wenigen Vor standskollegen über besonders riskante Geschäfte entscheidet, wird sie aus dem Raum geschickt. W ohl kaum jemand an der W all Street geht so viele und so waghalsige Deals ein wie Fuld. Und wohl kaum jemand ist so erfolgreich: Seit 1994 steht er an der Spitze der Investmentbank, die vor allem mit der Ausgabe und dem Handel von Wertpapieren Geld verdient, und hat in dieser Zeit den jährlichen Gewinn des Instituts von 113 Millionen Dollar auf vier Milliarden gesteigert. Lehman Brothers, 1850 von drei deutschen Einwanderern gegründet, ist eine Festung der Finanzwelt. Die Handelsräume in den unteren Stockwerken der Zentrale sind kühl, die hineinge pumpte Luft ist mit Sauerstoff angerei chert: Das soll die Banker wach halten. Wer hier arbeitet, der ist jung, cle ver, ehrgeizig und hat permanent Angst, eine Chance zu verpassen. Jeder M it arbeiter muss (wie bei Banken üblich) seine Gewinne oder Verluste abends dem Vorgesetzten melden - wer zu viel verliert, bekommt Ärger. Jeder ist allein auf den eigenen Vorteil bedacht und bereit, eigene Fehler anderen unterzu schieben. Und Fuld, für den „jeder Tag Schlacht und Krieg“ ist, wie er einmal erklärt, thront über allen wie „eine unsichtbare, doch irgendwie bösartige Erscheinung“, so ein Banker. Sein Ziel ist es, so berichten Vertraute, den Bran chenprimus Goldman Sachs zu über trumpfen. Fuld kauft Firmen hinzu, gründet die Un ternehmenssparte „Ver m ö g en sverw altu n g“. Und er steigt in das Geschäft m it H ypo thekendarlehen ein: Er lässt Kredite ankaufen, die Im mobilien- und G eschäftsbanken an Hauskäufer vergeben haben, lässt diese bün deln, in spezielle Wert-
DAS GESCHÄFT: EIN STETER KRIEG
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papiere umwandeln und an Investoren verkaufen, mit überwältigendem Erfolg. Ab 2003 profitieren Lehman Bro thers und die anderen großen Banken vom Haus- und Hypothekenboom in den U SA m it solchen teils gerade erst entwickelten Finanzinstrumenten - die freilich zu dem Wahnwitzigsten gehören, was je in der Bankenwelt ausgebrütet worden ist. Sehr verkürzt geht es bei Produkten wie den R esid en tia l M o rtga ge B ack ed S ecu rities (RM BS), den C olla tera liz ed D ebt O bligations (CDOs) und den C redit D efault Swaps (CDS) darum, das Ausfall risiko der H ypothekendarlehen auf andere abzuwälzen und damit auch noch Geld zu verdienen (siehe Seite 152). Dazu verkaufen Banken (die Ge schäfts- und Im m obilienbanken) die Kreditverträge - die ja einen W ert dar stellen, da sie die R ückzahlung der Kreditsumme plus Zinsen versprechen - weiter an andere Geldhäuser (meist Investmentbanken wie Lehman). Die schnüren aus vielen dieser Hypotheken darlehen Pakete und entwickeln daraus anschließend Wertpapiere, die gute Ren diten bringen und durch die Forderungen aus diesen Paketen abgesichert sind. Solche Anleihen werden weltweit an Investoren verkauft - oder wieder gebündelt und zur Erschaffung von noch komplizierteren W ertpapieren genutzt. Schließlich kann man sich auch noch für eine Prämie gegen den Ausfall der Produkte versichern. Fast alle Banken stürzen sich auf das Geschäft mit den RMBS und den CDOs: Die Geschäftsbanken veräußern die Kreditverträge mit Gewinn an die Investmentbanken, die ihrerseits präch tige Gebühren bei der U m wandlung in Wertpapiere und bei deren Verkauf einnehmen. Und da die Risiken stets weitergegeben werden, müssen diese Geschäfte nicht mit Eigenm itteln der Banken unterlegt werden: Die Institute können immer weitere Hauskredite ver geben oder aufkaufen, erneut Geld in solche Geschäfte investieren. Für Investoren ist der Erwerb von RMBS und CDOs deshalb attraktiv, weil die Produkte mehr Zinsen bringen als etwa vergleichbare Staatsanleihen und zudem von den Rating-Agenturen - je
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DIE SPEKULANTEN Sie w ette n a u f d ie Im m obilien b lase, a u f ih r P latzen, a u f schlechte K red ite —o d er en tw ick eln f ü r K u n d en gefä h rlich e Produkte. D ie R ettu n g solch er U ntern ehm u n gen kostet d ie USA H u nderte M illia rd en D ollar
LEW RANIERI Der Finanzfach
JOE CASSANO
mann erfindet
Der AIG -M ana-
Ende der 1970er
ger gibt Produkte
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Zahlungsfähigkeit
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JOHN DEVANEY
BERNIE MADOFF
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Sein betrüge
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pothekendarlehen
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auf und macht so
entlarvt die
fragwürdige Kre
Inkompetenz der
dite profitabel
Kontrolleure
nen Firmen, die in der Regel die Ausfall wahrscheinlichkeit von solchen Papieren bewerten - gute Noten erhalten und daher als sicher gelten. Alan Greenspans jahrelange Nied rigzinspolitik sorgt zudem dafür, dass in den U SA immer mehr Bürger Kredite zum Hauskauf aufnehmen, da sie ja nur geringe Zinsen zahlen müssen. Um möglichst viele Verträge abzu schließen, bieten die G eschäfts- und Immobilienbanken den Kreditnehmern oft verlockend niedrige Zinsen für die ersten zwei Jahre der Laufzeit - machen aber nicht deutlich, wie stark die Zinsen anschließend ansteigen werden. Und da das Ausfallrisiko für sie praktisch bei null liegt (weil sie die Hypothekenverträge ja Weiterverkäufen), vergeben sie immer häufiger Darlehen an gering verdienende und arbeitslose Hauskäufer und verzichten auf eine Bo nitätsprüfung. N inja-loans heißen solche Darlehen (loans) bald in der Branche: wo income, no
jo b , or assets - kein Einkommen, keine Arbeit, keine Sicherheiten. Für solche Kredite bildet allein das gekaufte Haus die Sicherheit - und die Erwartung, dass dessen W ert zunimmt. Die jährliche Steigerungsrate der Immo bilienpreise liegt Anfang der 2000er Jahre bei zehn Prozent: Ein 300 000-DollarHaus ist nach zwölf M onaten 30 000 Dollar teurer. Sein Besitzer kann nun auch ein D arlehen auf diese Summe aufnehmen und damit seine Hypothe kenkreditraten finanzieren - oder sich weitere Dinge kaufen, etwa ein Auto, die er sich früher nicht hätte leisten können. M it anderen Worten: Die Immobi lie wird zu einer A rt sich selbst nachfül lendem Geldautomaten - zumal im Jahr darauf wieder 30 000 Dollar (sogar etwas mehr) hereinregnen und im Jahr darauf wieder und wieder ... Ab 2005 macht Lehman Brothers mehr Gewinne durch den Handel mit Hypothekendarlehen und damit abgesi
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Risiken, die sie eingegangen sind, nicht mehr beherrschen können.
XI. Kapitel
GOLDENER F ALL S C H I R M Wie ein G eldinstitut R ek ordverluste m acht. U nd sein C h ef ein en R ek ordprofit Wegen erster Krisensymptome auf dem Hypothekenmarkt gerät die US-Investmentbank M errill Lynch, ein Konkur rent von Lehman Brothers, im Oktober 2007 in Schieflage. Das Geldhaus muss massive Wertberichtigungen vornehmen und weist den höchsten Quartalsverlust seiner Geschichte aus. Daraufhin tritt Stan O’Neal, der C hef der Bank, zurück. Zum Abschied erhält er Aktien und w eitere Zuwendungen im W ert von mehr als 160 M illionen Dollar.
X I I . K a p ite l
88 BILLIONEN DOLLAR Wie bei L ehm an d ie A ngst um geht. N ur n ich t beim C h ef
Der Untergang von Lehman Brothers ist ein Drama in vielen Akten, das am 15. September 2008 endet. Es beginnt bereits im Sommer 2005. Damals erscheint eine kleine M el dung des amerikanischen Immobilien maklerverbands: Während der Verkauf von geplanten, aber noch nicht gebau ten Immobilien weiterhin steigt, ist im Juli der Verkauf bereits fertiggestellter Häuser um 2,6 Prozent zurückgegangen. Damit wird nun auch der W ert vieler Immobilien sinken. Doch wenn dieser W ert abnimmt, dann sinkt der W ert der Sicherheiten für die Kredite in den Hypo thekenpapieren, den RMBS und CDOs,
ihnen drohen Rating-Herabstufungen. Zudem nimmt mit dem Immobilienwert auch der Konsum der Hausbesitzer ab, die sich nun ärmer fühlen. Dies ist das erste Wetterleuchten am Horizont, das jenes Jahrhundertgewitter ankündigt, in dem die Immobilienblase zerplatzen wird. Zu diesem Zeitpunkt hat Lehman Brothers H ypothekenpapiere für ge schätzte 60 M illiarden Dollar in den Büchern, die sie geschaffen, aber noch nicht weiterverkauft haben; der Hebel der Bank beträgt 22:1. Das bedeutet: Für jeden Dollar, den das G eldinstitut als Eigenkapital besitzt, hat es sich 22 Dol lar Fremdkapital geliehen. Damit ist es im Branchenvergleich ein überdurch schnittliches Risiko eingegangen. Doch noch läuft das Geschäft mit R M B S und CDOs fantastisch - zu fantastisch nach Ansicht einiger A n gestellter, die dem Handel m it diesen W ertpapieren nicht trauen. „Dieser Scheißmarkt ist mit Steroiden vollge pum pt!“, entfährt es einem der TopHändler nach einer internen Konferenz. Und so wettet, während eine Abtei lung von Lehman Brothers weiterhin eifrig Hypothekenpapiere produziert und verkauft, groteskerweise eine andere Ab teilung von nun an mit Derivaten darauf, dass der Immobilienmarkt demnächst kollabieren wird. A llerdings werden diese Geschäfte heimlich abgeschlossen, da Firmenchef Fuld auf gar keinen Fall erfahren darf, dass man seine Begeiste rung für das Hypotheken-Geschäft nicht mehr teilt. Oktober 2005. Der Verkauf fertig gestellter Häuser ist im Vergleich zum Vorjahr um 36 Prozent im M inus, der stärkste Rückgang seit zehn Jahren. Ende 2005. In den U SA sind ins gesamt bereits Hypotheken- und Unter nehmenskredite im W ert von mindes tens 3,3 Billionen Dollar in Wertpapiere umgewandelt. Einige Analysten schät zen, dass deren Ausfallrisiko - also die Wahrscheinlichkeit, dass Hauskäufer ihre Kredite nicht zurückzahlen werden zehnmal höher ist als von den ebenso optimistischen wie zuweilen opportunis tisch agierenden Rating-Agenturen pro gnostiziert, doch Richard Fuld will davon nichts hören. Die Gehälter und Bonus-
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cherten Wertpapieren als in jedem ande ren Geschäftsfeld. Doch in diesem für die Investment bank so lukrativen und scheinbar so si cheren Bereich schlummert eine erheb liche Gefahr. Denn das Geschäftsmodell fußt auf der optimistischen Annahme, dass die seit 1993 in den USA stetig stei genden Immobilienpreise immer weiter zunehmen werden. Nur dann sind auch die einkommensschwachen Hauskäufer in der Lage, ihre Kredite zu bedienen. Nur dann bringen die RMBS und CDOs die versprochene Rendite und lassen sich Weiterverkäufen. Kaum jemand vermag sich vorzu stellen, was geschehen würde, sollten die Immobilienpreise flächendeckend stag nieren oder gar sinken. Zwar ist bei den RMBS und den CDOs eingerechnet, dass m anche Kreditnehmer nicht zahlen, aber was passiert, wenn zehn, 20 oder 40 Pro zent der Kredite einer RMBS oder einer CDO ausfallen, das führen sich die A k teure in diesem Spiel nicht vor Augen. Auch für die Investmentbanken entstünden dann ernsthafte Probleme. W enn sie in einem solchen Fall keine Abnehmer für ihre gebündelten Kredite finden, gleichzeitig aber gewaltige M en gen an schon angekauften Hypotheken darlehen in ihren Bilanzen halten, die nun an Wert verlieren, wird das Geschäft schnell zur Belastung. Das umso mehr, als sie die Hypotheken großteils selbst auf Kredit erstanden haben. Zudem haben einige der Geldinstitute damit begonnen, im Vertrauen auf die Produkte RMBS und CDOs nicht nur weiterzuverkaufen, sondern als Wertanlagen ins eigen e P ort fo lio der Bank aufzunehmen. Die Verant wortlichen aber wollen die sich daraus ergebenden Gefahren nicht sehen. M adelyn A ntoncic, die R isiko managerin von Lehman Brothers, hat jahrelang den Handel mit hypotheken besicherten Wertpapieren betrieben. Die Wagnisse, die Lehman Brothers bei die sen Deals eingeht, erscheinen ihr ange sichts der Marktlage bereits Ende 2006 zu hoch. Sie warnt, sie nervt. An einem Sommertag 2007 kanzelt Fuld sie vor Zeugen ab, sie solle „die Klappe halten“. Kurz darauf verliert sie ihren Job. Doch schon bald wird sich zeigen, dass Fuld und seine Gefolgsleute die
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DER LUKRATIVE HANDEL MIT DEM RISIKO U S -F m a n z e x p e rte n e n tw ic k e ln ein n eues G e s c h ä fts m o d e ll: A u s H y p o th e k e n d a rle h e n , d ie M illio n e n v o n H a u s k ä u fe rn a u fn e h m en , m a c h e n sie h o c h k o m p liz ie rte W e rtp a p ie re . D ie V e r m ittle r v e rd ie n e n g u t - was a b e r g e s c h ie h t, w e n n d ie K re d ite p la tzen ?
D
en R esidential M o rtg a g e Back e d Secu rities (RMBS) lie g t eine b estechend einfache (und w ie sich sp ä te r h e ra u sste ile n wird: v erh eeren d falsche) Idee zugrunde. W enn m an die H y p o th ek en k red ite sehr vieler H au sb esit ze r b ü n d e lt u n d a n sc h lie ß e n d d ieses B ündel in h an d e lb a re W ertpapiere u m w an d e lt, e n tste h t ein n a rre n sic h e re s F inanzprodukt. D enn obw ohl natürlich immer w ieder H ausbesitzer pleitegehen, ist es unm öglich - so die (falsche) A n nahm e dass plötzlich m eh r Im m obi lie n b esitze r als e rw a rte t zur g le ich en Zeit ihren Schuldendienst einstellen und das W ertpapier daher stark im Kurs fällt. E ine A nleihe aus H u n d erte n oder T au sen d en H y p o th ek e n d arle h en w ird also im m er g e n ü g e n d E rträge abw erfen. H a u sk re d ite la u fe n in d e r R egel ü b er zehn, 20, 30 Jah re. G esetze zw in g en B anken, für je d e n K redit, d e n sie v erg e b en , eine b estim m te Sum m e E i g en k a p ita l v orzuhalten. Ein H y p o th e k en d arleh en blockiert auf Ja h re hinaus G eld, das die B ank in dieser Zeit nicht andersw o profitabel investieren kann. Wäre es da nicht besser, den Kredit loszuw erden und dam it das Eigenkapital w ied er für an d e re Zw ecke, etw a n eu e D arlehen, verw en d en zu können? Aus der Idee, viele H auskredite zu b ü n d e ln , sow ie d em B edürfnis, d as durch die D arlehen g e b u n d e n e E ig en kapital der B anken w ieder frei einsetzen zu können, en tste h en RMBS, Das g eht so: Die G eschäftsbanken v erkaufen die D arlehen an eine Invest m entbank weiter. Die schnürt H underte von Krediten zu einem Paket zusammen, das von einer eigens g egründeten soge n a n n te n „Z w eck g esellsch aft" a u fg e kau ft w ird (so m uss a u c h die In v e st m e n tb a n k k e in e E ig e n m itte l fü r die H ypotheken Vorhalten). Bei der B ündelung w ird darauf g e achtet, dass m an H auskredite aus ganz
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Investoren verdienen an a u f Pump gekauften Häusern. D o ch dann b rich t der U S -lm m o b ilie n m a rkt zusammen
u n te rsc h ie d lic h e n R e g io n en d e r USA zusam m enfasst - u n d von u n te rsc h ie d lich solventen H ausbesitzern. Die Z w eck g esellsch aft g ib t W ert papiere aus, für die die Forderungen aus d en H y p o th ek e n p ak e te n als Sicherheit v e rw e n d e t w erd en . D iese festv erzin s lich en W ertp ap iere sind die RMBS; sie w erd en n u n an Investoren in aller Welt verkauft. Die Zw eckgesellschaft nimmt, üb er einen Verwalter, die Z ahlungen all d e r H au sb e sitz er ein u n d leitet sie als regelm äßige A usschüttung an die K äu fer d er RMBS w eiter. A llerd in g s b ek o m m t n ic h t je d e r W ertp ap ierb esitzer gleich viel von d ie sem G eldfluss: Die P ap iere w erd en vor d em V erk au f in m e ist d re i G ru p p e n (Tranchen) aufgeteilt. D ie B esitzer d er b e s te n T ranche, d e r S en io r-P ap iere, e rh a lte n w e n ig e r Zinsen, dafür g ehen ihre Zahlungen vor, das b ed eu tet: Sollten zu viele H äu ser käufer ihre Kredite nicht bedienen, wird d as w e n ig e G eld, das ein g en o m m en wird, an diese erste G ruppe ausgeschüt tet, u n d die a n d e re n b ek o m m en kau m etw as oder g e h e n g ar le er aus. Z ah len a b e r die m e isten H äu se r k ä u fe r ih re K re d itraten - kom m t also viel G eld rein - erhalten die m ittlere und die unterste Tranche m ehr Zinsen, denn sie sind ja ein höheres Ausfallrisiko ein geg an g en .
Die K äufer d e r RMBS, die k au m einschätzen können, w ie es um die Bo n itä t all d er K red itn eh m er b estellt ist, v ertrau en bei der Beurteilung der W ert p a p ie re auf e in e d e r g ro ß en R atingA g en tu ren w ie S tan d ard & Poor's oder M oody's, die die A nleihen zuvor an aly sie re n u n d d en S enior-P apieren p ra k tisch im m er die h ö ch ste R ating-N ote AAA geb en , das Siegel geringsten Risi kos. (Rating-Agenturen w erden von den Z w eck g esellsch aften für die B onitäts p rü fu n g bezahlt, es sch ad et ih n en also, w en n sie kein AAA v erg eb en ...) Das Geschäftsmodell, aus H ausdar le h en W ertpapiere zu m achen, führt ab dem Ja h r 2000 zu ein er verhängnisvol len Entw icklung. D enn m an k ann damit selbst aus je n e n H ypotheken, die M en schen mit geringer Bonität aufgenommen haben, A nlagen mit dem AAA-Gütesiegel erstellen. M an brau ch t dafür nur je weils m ehr Kredite, und die Tranche der Senior-Papiere w ird m itunter kleiner. Sowohl diejenigen, die d en H au s k äu fe rn K redite g e b e n u n d sie Weiter verkäufen, als auch die Investm entbank, die d ara u s W ertp ap iere m acht, g eb en das Risiko jeweils weiter. G efährdet sind zun äch st n u r die K äufer der RMBSs. S elbst b ei u n sich ersten H y p o th e k e n v erd ie n en also die k red itg eb en d e B ank, d ie In v e s tm e n tb a n k u n d die Z w eck g esellsch aft p rak tisch risikolos G eld - v o rau sg esetzt, sie k ö n n en alle P apiere an Investoren veräußern. D och die B an k er tre ib e n d ieses G eschäft noch w eiter: W enn m an viele H ypo th ek en b ü n d eln u n d in RMBS um w an d e ln k an n - d an n k a n n m an doch auch Tranchen verschiedener RMBS bün deln. G erad e für m ittlere u n d sch lech tere T ranchen b ietet sich dies an, da sie sich sonst n ich t g u t v erk au fen lassen. Solche B ündelung d er B ündelung heißt Collateralized D ebt Obligation (CDO). Auch sie w ird in Tranchen unterteilt und als festverzinsliches W ertpapier verkauft.
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Sicherheit bestätigt hatten, erkennen nun, dass ihre eigene Glaubwürdigkeit durch die deutlich gestiegenen Ausfall risiken leidet, wenn sie nicht schleunigst die Bonitätsnote nach unten anpassen. M anche CDOs werden nun buch stäblich über Nacht von höchster Bonität auf Ramschniveau herabgestuft. Damit sind die CDOs in den U SA praktisch unverkäuflich geworden. Zur gleichen Zeit steigt die Zahl der Zwangsvollstreckungen gegen säu mige Hypothekenkreditschuldner um 35 Prozent - mehr als 100 000 Häuser werden allein im Dezember geräumt. Anfang 2007. Lehm an Brothers meldet vier M illiarden Dollar Jahres gewinn, fast 750 M illionen Dollar mehr als im Jahr zuvor, ein neuer Rekord. Der Hebel der Bank beträgt inzwischen 32:1. Gut 480 Milliarden Dollar Fremdkapital stecken in dem Geldhaus. 9. Februar 2007. Bei Lehman ver sammeln sich 45 besorgte Topmanager, um über die Gefahren von sogenannten S ubprim e-Anleihen, den besonders risi koträchtigen Hypothekenpapieren, zu beraten. Einer warnt: „Wir haben keine M ittel mehr, um uns ausreichend abzu sichern!“ Ein anderer deutet zum Fens ter: „Siehst du das da hinten? Das ist ein verdammter Eisberg, und wir fahren mit voller Kraft darauf zu!“ Richard Fuld ist bei der Konferenz nicht anwesend, beschlossen wird nichts. Der Chef bespricht sich seit Langem nur noch mit wenigen Vertrauten, darunter Joseph Gregory, dem Leiter des operati ven Tagesgeschäfts, den er zur Nummer zwei der Bank gemacht hat. Gregory, der mit dem eigenen Hubschrauber oder W asserflugzeug von seinem Haus auf Long Island nach M anhattan pendelt, setzt stets Fulds Anweisungen um, maß regelt und feuert Mitarbeiter. Im Haus nennen sie ihn „Darth Vader“, nach der dunklen Gestalt aus „Star Wars“. März 2007. Richard Fuld geht nicht von seiner riskanten Strategie ab. Jetzt, wo das Geschäft mit amerikanischen Hypo thekenpapieren einbricht, ordnet er andere waghalsige Investments an, großteils auf Kredit: Der Hebel steigt auf 34:1. Als ein M itarbeiter das Risiko anspricht, demü tigt Fuld ihn vor versammelter Mannschaft: „Wovor haben Sie eigentlich Angst?“
Finanzkapitalismus
Und w arum nicht m ehrere CDOs zu ein er M ega-CDO bündeln? Noch nicht kom pliziert genug? G e g en e in e n Z ah lu n g sau sfall d e r CDOs k an n sich ein A nleger m it einem Credit D efa u lt S w a p (CDS) a b s ic h e rn . E r „tauscht" sein K reditausfallrisiko m it d em S ich erungsgeber, d er d afü r eine feste Prämie erhält. Allein der Versicheru n g sk o n zern AIG h a t 2008 solche F i nanzprodukte im N ennw ert von 440 Mil liarden Dollar in seinen Büchern stehen. Im m er noch nicht zu kom pliziert? M an k a n n auch ein en CDS erw erben, ohne überhaupt ein Finanzprodukt zu besitzen, das m an d a d u rc h ab sich e rn w ürde. So lässt sich m it geringem K api taleinsatz, ab er großem G ew in n p o ten zial auf ein en sin k e n d en W ert d er F i n a n z p ro d u k te sp e k u lie re n , oh n e das Risiko einzugehen, sie zu kaufen. U nd schließlich b ü n d eln die B an k er sogar m ehrere CDS zu einem „syn thetischen CDO", der nicht m ehr RMBST ranchen selbst, so ndern nu r noch die A bsicherungsinstrum ente enthält. Am E nde w eiß niem and mehr, w er w elche R isiken trägt: Die A nleger, die Senior-Papiere gekauft haben, kom m en nicht darauf, dass bei einem Zusam m en b ru c h d es Im m o b ilie n m a rk te s k e in M ensch m ehr ihre A nleihen will. Die In vestm entbanken, die RMBS u n d CDOs nicht nu r an Investoren ver k aufen, so n d ern v o rü b e rg e h e n d oder lan g fristig a u c h im e ig e n e n Portfolio halten, verlieren zunehm end den Ü ber blick ü b er die finanzielle Situation der u n zähligen H auskreditschuldner. U nd die A nbieter d er CDS u n te r schätzen letztlich die Risiken, für die sie mit ihren F inanzderivaten einstehen. Klar ist nur: Es steckt unfassbar viel G eld in d em u n d u rc h sic h tig e n Spiel. Allein zw ischen 2001 un d 2006 verd o p p elt sich je d e s J a h r das V olum en d er CDS. Auf zuletzt sc h w in d ele rreg e n d e 62,2 Billionen Dollar w eltw eit.
Zahlungen für die M itarbeiter von Leh man Brothers sind in nur drei Jahren um fast 50 Prozent gestiegen. Frühsommer 2006. Die Zahl der neuen Hausbesitzer, die bereits nach 30 Tagen mit der Zahlung ihrer Raten in Rückstand kommen, steigt ganz leicht. Die Summe aller vermittelten Hauskre dite sinkt um eine W inzigkeit. Ein Banker bei Lehman Brothers, der diese Statistiken studiert, hat „ein Bauchgefühl“, dass sich hinter diesen Zahlen die „Buschtrommel“ der Armen verbirgt: dass M ittellose, denen Kredite verkauft worden sind, die sie nicht be dienen können, ihren Verwandten und Freunden nun vom eigenen Scheitern berichten und sie so davor warnen. Doch mit seinem Bauchgefühl kann niemand in einem Geldhaus argumen tieren. Ungeachtet der Risiken handelt Lehm an Brothers w eiter m it hypo thekenbesicherten W ertpapieren. Und verschärft sogar noch das W agnis: Die Manager, die in einem früheren Fall mit einer gegen die Marktstimmung gerich teten Strategie Erfolg hatten, nehmen nun noch mehr Hypothekenpapiere in das eigene Investment-Portfolio auf. Bald wird die Bank mehr als 110 M illiarden Dollar an Hypothekenwerten in den Bü chern stehen haben. Ende Oktober 2006. Centex aus Dallas, eine der größten Baufirmen der USA, meldet für das dritte Quartal 8525 neu errichtete Gebäude. Das sind sieben Prozent weniger als im Vorjahr - zu gleich hat die Firma 29 Prozent weniger neue Aufträge. Weihnachtsferien 2006. Traditionell sind die Tage zwischen Heiligabend und Neujahr ruhig in der Finanzwelt. Doch schlagartig stufen diesmal alle RatingAgenturen etliche CDOs herab. Bis zum Jahresende verlieren insgesamt 1305 CDOs teils drastisch an Bonität; auch vier Lehman-Finanzprodukte sind betroffen. Der Hintergrund: Seit M itte De zember steigt die Zahl derjenigen Haus besitzer stark an, die ihre Raten nicht mehr bedienen können. Das Kaufinter esse für Hypothekenpapiere ist auf dem Tiefpunkt, w eil sich deren Ausschüt tungen aus den Zahlungen der Kredit nehmer ergeben. Die Rating-Agenturen, die zuvor gegen hohe Gebühren deren
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Der Mann kündigt, weitere folgen. gen, die von bloß 17 Banken ausgegeben 2. April 2007. New Century, einer worden sind, eine davon ist Lehman. 88 Billionen Dollar: Das ist das der größten Hypothekenkreditvermittler, meldet Insolvenz an. In den ersten M o 1,6-Fache der globalen W irtschaftsleis naten des Jahres hat die Aktie des Unter tung dieses Jahres. Die Verbindlichkeiten von Lehman betragen inzwischen mehr nehmens 97 Prozent an W ert verloren. 20. Juni 2007. Zwei auf CDOs spe als 700 Milliarden Dollar. Der Hebel hat zialisierte Hedgefonds der Bank Bear nun 44:1 erreicht. Richard Fuld kürzt die Stearns melden Schieflagen, kurz darauf Boni von Mitarbeitern, die ihn in den sind sie pleite. Die ersten Spekulanten vergangenen zwölf M onaten kritisiert beginnen, auf einen Kurssturz der Leh- haben; seinen eigenen Aktien-Bonus je man-Aktie zu wetten. Doch Fuld bleibt doch erhöht er auf 35 Millionen Dollar. weiterhin bei seiner Investitionsstrategie. 14. März 2008. Die Investmentbank November 2007. Allein in diesem Bear Stearns droht zu kollabieren - die M onat stufen die Rating-A genturen Krise hat sich von den armen Haus käufern, die ihre Kreditraten nicht zahlen mehr als 2000 CDOs herab. Ende 2007. W eltw eit stecken 88 können, auf die Geldinstitute ausgewei Billionen Dollar in CDS-Kontrakten, tet. Ob Arbeitsloser in Arizona oder CDOs und anderen hochriskanten Anla W all-Street-Bank, letztlich ist der M e
Als der überhitzte Immobilienmarkt kollabiert, beginnt die Katastrophe für die Wall Street und ihre Händler
Besorgte Blicke: Die Aktienkurse der Banken, die mit Hypothekenpapieren spekuliert haben, fallen rapide
Am 15. September 2008 kapituliert Lehman Brothers: ein jäher Absturz für viele selbstgerechte Banker
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chanismus der gleiche: M an hat sich Schulden aufgebürdet, die man niemals wird zurückzahlen können. Als immer mehr Häuser zwangs versteigert werden, sinken die Immobi lienpreise weiter. M it fallenden Preisen und klammen Schuldnern nimmt auch der Wert der CDOs ab. Die aber sind ja, als noch nicht weiterverkaufte Papiere oder eigene Investments, Vermögens werte der Banken - sinkt also ihr Wert bei gleichbleibend hohen Schulden, dann sinkt das Eigenkapital des Geldinstituts, bis irgendwann die Insolvenz droht: Der Hebel der Institute nimmt derart drama tische Ausmaße an, dass sie schließlich ihre eigenen Kredite nicht mehr bedie nen können. Die Pleite ist unabwendbar. 16. M ärz 2008. Die Bank JP M or gan Chase kündigt an, sie übernehme den bankrotten Konkurrenten Bear Stearns, und verhindert so eine allgemeine Panik an der W all Street. Allerdings geschieht das erst auf massiven Druck der Fed und unterstützt durch einen staatlichen Kredit. Viele Banken und Fonds versuchen nun, ihre Hypothekenwerte und andere stark risi kobehaftete Papiere irgendwie abzusto ßen. Nur Lehman Brothers nicht. Viel mehr schiebt Fuld immer noch weitere, hochriskante Projekte an. Längst hän gen die Probleme des Geldinstituts nicht mehr allein am Geschäft mit den Hypo thekenpapieren. An der Wall Street laufen inzwischen Gerüchte über die Bank um: Ihre Bilanz soll katastrophal sein. 11. April 2008. In Washington trifft sich Richard Fuld mit US-Finanzminister Henry M . Paulson zum Essen. Paulson, früher C hef der Investmentbank Goldman Sachs, des großen Konkurren ten von Lehman Brothers, drängt Fuld nun, die Risiken seines Instituts her unterzufahren. Nur dann könne er mit staatlicher Hilfe rechnen, falls er doch in Schwierigkeiten gerate. Der Lehman-Chef aber ist es längst nicht mehr gewohnt, dass man mit ihm von gleich zu gleich redet. „Ich übe meine Funktion sehr viel länger aus, als Sie die Ihre bei Goldman innehatten“, blafft er. „Ich brauche mir von Ihnen nicht sagen zu lassen, wie ich mein Unternehmen leite.“ Paulson ist empört, verliert vermut lich jedes Vertrauen in Fulds Fähigkeiten.
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X I I I . K apitel
EIN T E P P I C H FÜR 88 0 0 0 DOL L AR Wie ein B ank chef sein neues Büro verschön ert
der Geschichte - straucheln etliche weitere Banken, vergeben kaum noch Kredite. So trifft die Krise auch die übrige W irtschaft hart (Wall-Street-Trader im O ktober 2008 )
Der jedoch glaubt nach dem Gespräch gen, wenn der Kurs der Aktie fällt. Ein in grotesker Verkennung der Lage, dass führender Banker erscheint unangekünihm der M inister freie Hand für die digt in Fulds Büro. Er ist Sprecher der Fortsetzung seiner extrem riskanten zwölf wichtigsten Abteilungsleiter, die Strategie gegeben hat und ihm im Not ihrem Chef nun ein Ultimatum stellen: fall helfen wird - das jedenfalls erklärt er Er müsse seinen engsten Vertrauten einem Mitarbeiter in einer E-Mail. Gregory sofort feuern. (Fuld selbst ist Ende M ai 2008. Ein einflussreicher unantastbar, denn würde er gehen, würde Hedgefonds-M anager spricht bei öf der Aktienkurs noch weiter abstürzen.) fentlichen Auftritten über mangelhafte Trotzdem müsse Fuld de facto die Kon Transparenz bei den Lehman-Investitio- trolle über Lehman Brothers abgeben. nen, verkündet gar in einer Fernsehshow: Sonst, so der Sprecher, sei das Vertrauen „Die Offenlegung reicht nicht aus, um in die Bank nicht wiederherzustellen. zu klären, wie ernst die Probleme sind.“ Fuld, vielleicht überrumpelt oder rat Die Lehman-Aktie bricht weiter ein. los, wehrt sich kaum, opfert tatsächlich 9. Juni 2008. Lehman Brothers kün seinen Weggefährten und geht, welche digt erstmals seit 14 Jahren einen Quar Demütigung, zum ersten M al seit Jahr talsverlust an - in Höhe von 2,8 M illiar zehnten von Stockwerk zu Stockwerk. Er den Dollar. Die Aktie verliert am selben hält nichtssagende Ansprachen vor den Tag ein Fünftel ihres Wertes, die Kurs Mitarbeitern. Offiziell bleibt er Chef von verluste der vergangenen zwölf Monate Lehman Brothers, tatsächlich jedoch ver suchen die Manager von diesem Tag an, summieren sich auf 65 Prozent. mit vereinten Kräften all die gewaltigen 11. Juni 2008. Aufstand der Lehman-Banker. Da ein G roßteil ihrer Schulden und Risiken, die Fuld angehäuft Vergütungen in Aktien ausbezahlt wird, hat, so rasch wie möglich abzubauen. Es verflüchtigen sich ihre Millionenvermö beginnt ein W ettlauf gegen die Uhr.
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Nach dem Konkurs von Lehman Brothers im September 2008 - dem größten Bankrott
Bei der Investmentbank M errill Lynch tritt als Nachfolger des glücklosen Stan O’Neal ein neuer Chef an und wird von dem Geldhaus angemessen empfangen: Als Willkommensgruß erhält John Thain 15 M illionen Dollar sowie Aktien im Wert von 28 Millionen Dollar. Kurz darauf kommt er in die Schlag zeilen, als er sich sein Büro für über eine M illion Dollar renovieren lässt. Unter anderem lässt er anschaffen: einen Beistelltisch aus M ahagoni für 25 000 Dollar, eine Kommode für 35 000 Dollar, ein Schreibtisch aus dem frühen 19. Jahrhundert für 18000 Dollar, einen Teppich für 88 000 Dollar, eine Anrich te ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert für 68 000 Dollar und sechs Wandleuchter für 2700 Dollar. Auch sein Fahrer erhält ein Top-Gehalt: 230 000 Dollar.
X IV . K apitel
KETTEN REAKTION Wie L ehm an B rothers zusam m en bricht - u n d m it d er Bank ein ga n z es vergiftetes System Am 11. Juli 2008 geht die IndyMac Bank unter. Das Geldhaus war zu einer der größten US-Hypothekenbanken aufge stiegen. Doch als immer mehr Kredite platzten, machte das Unternehmen Ver luste. Zugleich räumten Anleger aus Angst vor einer Insolvenz von IndyMac ihre Konten leer. Nun kann die Bank ihre eigenen Kredite nicht mehr bedienen. Die Lehman-Aktie gerät, wie fast alle Aktien im Dow-Jones-Index, unter
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Druck, als die Nachricht in New York bekannt wird. Sie hat seit Jahresanfang rund drei Viertel ihres Wertes verloren. Die Lehman-Manager entdecken in den Büchern immer neue, immer kata strophalere Posten: Kredite, die von den Schuldnern nicht zurückgezahlt werden können; Immobilien, die man niemals zu dem Preis verkaufen kann, zu dem man sie gekauft hat; Beteiligungen an prak tisch insolventen Fonds. Der W ert der Hypothekenpapiere im eigenen Portfolio ist buchhalterisch bis zum ersten Quar tal 2008 um 200 M illionen Dollar nach unten korrigiert worden - viel zu wenig, denn diese A nlagen sind fast nichts mehr wert. Das Problem von Lehman Brothers ist, vereinfacht ausgedrückt, dass die notleidende Bank ein Verkäufer ist, es aber kaum noch Käufer gibt. Die platzende Immobilienblase, die kriselnden Banken, die kollabierenden Finanzinstitute - sie alle machen Investoren nervös. Nur we nige wollen Anlagen kaufen, die ein tau melndes Institut wie Lehman Brothers anbietet. So werden die Schulden der Bank viel zu langsam abgebaut. Die M anager suchen darher nach einem Investor, der bereit ist, sich an dem Unternehmen zu beteiligen. Tatsächlich meldet sich eine große südkoreanische Bank, die willens wäre, für rund ein Drit tel des aktuellen Aktienkurses mehr als 25 Prozent der Firma zu übernehmen. Doch Richard Fuld (der sich offen bar vom Schock des Aufstands erholt hat) verlangt den vollen Aktienwert - die Verhandlungen scheitern. Sonntag, 7. September 2008. Die Immobilienkrise erreicht endgültig das Zentrum der Finanzwelt. Minister Paulson muss mit Steuergeldern zwei halb staatliche Hypothekenbanken retten, die auf Zehntausenden nahezu wertlosen oder geplatzten H ypothekenkrediten sitzen. Er befürchtet, dass sonst in einer Kettenreaktion weitere Geldhäuser tau meln und schließlich die gesamte W all Street kollabieren könnte. So w ill er die Gelder der Investoren schützen. Dienstag, 9. September 2008. Der C hef der Bank JP M organ Chase ruft Fuld an: Sein Haus sei nervös wegen der immer neuen Gerüchte um die drohende Zahlungsunfähigkeit von Lehman. Wenn
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man weiterhin Geschäfte miteinander machen wolle, müsse Lehman Brothers zusätzliche fünf M illiarden Dollar als Sicherheit auf Konten bei JP M organ Chase hinterlegen. Der H intergrund: Im sogenann ten „Interbankenmarkt“ leihen sich die Geldhäuser untereinander Geld. Unter normalen Umständen fordern sie dafür keine Absicherung, doch in Krisenzeiten schwindet das Vertrauen. Als Garantie fordern die Banken dann Sicherheiten, zum Beispiel Staatsanleihen aus dem Besitz des Kreditnehmers. A uf die greift der Gläubiger dann zurück, sollte der Schuldner nicht mehr zahlen können. Die Banker von JP Morgan Chase halten die Schieflage bei Lehman inzwi schen also für derart dramatisch, dass sie ohne zusätzliche Absicherung keine Geschäfte mehr m it dem Geldhaus ab schließen wollen. Kurz darauf wird diese Summe gar auf acht M illiarden erhöht. Zahlungsfrist: 24 Stunden. M ittw och, 10. Septem ber 2008. Notkonferenz bei Lehman Brothers. Der neueste Quartalsverlust macht die Runde: 3,9 Milliarden Dollar. Noch während die Banker beraten, fällt die Aktie auf sieben Dollar; damit hat sie seit Januar mehr als 90 Prozent ihres Wertes verloren. Fuld spricht ein paar W orte, die zuversichtlich klingen sollen - und tat sächlich gelingt es ihm, die von JP M or gan Chase geforderten acht M illiarden zu hinterlegen: unter anderem, indem er die Londoner Niederlassung seiner eige nen Bank ausplündert. Doch es ist klar, dass er mit solchen Tricks höchstens ein wenig Zeit erkaufen kann. Lehman wird innerhalb der nächs ten Tage zahlungsunfähig sein. Aus den Reihen der Banker hört man laute Hohn worte. Eine Wand des Bankgebäudes wird zur riesigen Pinnwand, an die M itarbei ter Spottkarikaturen auf Fuld heften. Freitag, 12. September 2008. Vor der Zentrale von Lehman stellen Nach richtenteams Fernsehkameras auf. Sie wollen verzweifelte M itarbeiter filmen. Am Tag zuvor ist bekannt geworden, dass das gesamte Unternehmen zum Ver kauf steht. Die Bank of America sowie ein britisches Geldhaus sind interessiert, wollen die marode Firma aber nicht ohne staatliche Hilfe übernehmen.
Doch F in an zm in ister Paulson macht klar, dass er nicht mit öffentlichen Geldern einspringen w ill: „Ich kann nicht der Retter mit dem dicken Porte monnaie sein.“ Stattdessen drängt er nun auf eine „LTCM-Lösung“: Andere Banken sollen einspringen und mit ihrem Kapital den Verkauf von Lehman stützen. Am Abend ruft er daher die Geschäftsführer der wichtigsten amerikanischen Geldhäuser zu einem Krisenrat zusammen. Er will sie überzeugen, dem strauchelnden Kon kurrenten zu helfen. Samstag, 13. September 2008. Paul son betritt das New Yorker Fed-Gebäude an der Liberty Street. Wegen sinkender Aktienkurse, kollabierender Banken und geplatzter Kredite ist neben Lehman ein weiteres Geldhaus in Schwierigkeiten geraten, das stark auf Hypothekenpapiere gesetzt hat: Merrill Lynch. Beide Banken stehen vor dem Aus. Was das für das globale Finanz system bedeuten könnte, ist nun abzu schätzen: Ein Bankrott von Lehman würde das Vertrauen der Aktionäre auch in M errill Lynch zerstören. Dann aber würde die Pleite eines Geldhauses zum Zusammenbruch des nächsten führen und damit vielleicht eine Kettenreaktion in Gang setzen, die nach und nach das ganze Finanzsystem kollabieren ließe. Paulson verhandelt mit den Vertre tern der Bank of America über den Kauf von Lehman. Die zögern, stellen immer neue Bedingungen. Tatsächlich interes sieren sie sich eher für M errill Lynch. Gegen Abend wird klar, dass sie - in die Pflicht genommen von Paulson - Merrill Lynch übernehmen werden; der Verkauf von Lehman kommt nicht zustande. Des sen letzte Hoffnung sind nun die Briten. In einem anderen Büro im gleichen Gebäude verhandeln zur gleichen Zeit M anager von Lehman Brothers mit Re präsentanten der anderen am erikani schen Banken, die sich durch die Bilanz des Unternehmens arbeiten, um dessen Besitz zu bewerten. Fassungslos erkennen sie das Ausmaß des Missmanagements. „Was zum Teufel hat Fuld getan?“, ruft einer von ihnen angeblich. Am Sam stagabend m eldet ein Fernsehsender die bevorstehende Pleite von Lehman Brothers, obwohl Paulson
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D em onstranten protestieren im O k to b e r 2008 vo r der Börse an der W all S treet gegen die Finanzexperten und deren Rolle in der Katastrophe. D ie Em pörung über Z ocke rm e n ta litä t, verantw ortungslose G ew innsucht und die L e ic h tfe rtig k e it im Um gang m it billion e n schweren Risiken, die schließlich M illio n e n von Bürgern schaden, ist groß . So nährt die Krise auch einen neuen A ntikapitalism us
noch mit den Briten über den Verkauf der Bank verhandelt. In den nächsten 24 Stunden eilen Hunderte Lehm anMitarbeiter in ihre Büros, um Habselig keiten in Kartons und Sporttaschen zu sammenzuraffen. Denn sobald die Bank Konkurs anmeldet, wird sie vermutlich unter Zwangsverwaltung gestellt - und dann dürfte niemand auch nur einen Bleistift aus dem Gebäude mitnehmen. Sonntag, 14. September 2008. Am Nachmittag telefoniert Paulson mit dem Schatzkanzler von Großbritannien. Das britische Geldhaus hat einem Kauf zu gestimmt, das von Paulson zusammen gerufene Bankenkonsortium w ill das Geschäft mitfinanzieren. Doch nun stellt sich ihnen das Gesetz in den Weg. Nach britischem Recht müssen die Aktionäre des Bankhauses über eine solche Über nahme abstimmen. Das würde Zeit kos
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ten, die Lehm an Brothers nicht hat. Paulson drängt den Schatzkanzler, das Geschäft dennoch zu genehmigen, doch der Brite lehnt ab. Er wolle den „Krebs nicht importieren“, wird er später zitiert. Bestürzt hören die Vertreter von Lehman Brothers das Votum des Schatz kanzlers. Einer von ihnen fordert Paulson auf, etwas zu unternehmen, doch der Finanzminister bleibt hart. Es ist aus. Paulson hat Bear Stearns gerettet, die halbstaatlichen Hypothekenbanken, M errill Lynch - alles Institute, die in den Jahren zuvor in risikoreiche Anlagen investiert und Schrotthypotheken ver schleudert haben. W arum lässt er nun Lehman im Stich? Es gibt viele Erklärungen für Paulsons Entscheidung, doch was den U SFinanzm inister in jenen Stunden tat sächlich antreibt, ist nur zu vermuten.
Wahrscheinlich ist es ganz einfach so: Paulson fürchtet offenbar, dass die W ähler eine weitere, noch größere Ret tungsaktion mit öffentlichem Geld nicht akzeptieren würden. Zudem haben füh rende Bankfachleute ihm versichert, dass sie für den Untergang von Lehman Bro thers ausreichend vorgesorgt hätten eine dramatische Fehleinschätzung, wie sich herausstellen wird: Sie alle scheinen zu glauben, dass das System so stabil ist, dass es sogar den Kollaps eines Kolosses wie Lehman Brothers überstehen würde. 20.00 Uhr. Konferenz im 30. Stock von Lehman Brothers: Die Abgesandten der Bank, die in den Büros der Fed ver handelt haben, verkünden ihren Kolle gen, dass es keine Hilfe geben wird, das Haus muss Insolvenz anmelden. Und Fuld? Der ist sprachlos, fas sungslos, hilflos. Nur einer seiner Unter-
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TÄTER - UND OPFER gebenen wagt einen absurden Rettungs versuch in allerletzter M inute. Er erin nert sich an einen Kollegen, der entfernt mit Präsident George W. Bush verwandt ist. Er fleht den Banker an - „Ich liege vor Ihnen auf den Knien!“ - , Bush telefo nisch um Hilfe zu bitten. Der verlegene Mitarbeiter lässt sich tatsächlich mit dem Weißen Haus verbinden. Doch eine Tele fonistin bescheidet ihm, der Präsident sei leider nicht zu sprechen. M ontag, 15. September 2008,1.45 Uhr morgens. Lehman-Anwälte reichen einen hastig verfassten Konkursantrag ein. M it dem nur wenige Seiten umfas senden Dokument besiegeln sie das Ende des Unternehmens. Seine Schulden be ziffern sie m it 613 M illiarden Dollar. Später wird diese gewaltige Summe auf 660 Milliarden Dollar erhöht, es ist der größte Bankrott aller Zeiten. Das Ende von Lehman Brothers wird nun zum Drama für die gesamte Finanzbranche. Die Hypothekenpapiere, die den Niedergang der Bank wesentlich mitverursacht haben, existieren zwar weiter, liegen in den Portfolios der Inves toren, aber nur zu einem Bruchteil ihres ursprünglichen Wertes. Was folgt, ist eine weltweite Krise. Überall geraten Banken in Schieflage, müssen Regierungen mit Milliarden und Abermilliarden das Finanzsystem stüt zen, sind Ökonomen und Politiker er schüttert über diese Implosion. Dabei sind die Ursachen dafür seit Jahren offenkundig, sie liegen in der Struktur des US-Finanzsystems: • Der Nährboden für die Krise war die Fed-Politik der niedrigen Zinsen, begründet von Alan Greenspan, der die Märkte mit Geld überschwemmte. Für zusätzliche Liquidität sorgten exportstar ke Länder wie China, die einen großen Teil ihrer Exporterlöse in U S-Staatsanleihen anlegten. • Banken waren immer weniger Regeln unterworfen - und bestehende Gesetze haben deren M anager vielfach um gangen. So konnten die Institute immer riskantere, immer undurchsichti gere Produkte entwickeln und auf den Finanzmärkten anbieten. • Viele Investmentbanker glaubten (zu Unrecht), durch komplexe mathema tische Optimierungsverfahren bei neuen
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Anlageformen das Risiko für ihre Unter nehmen fast beseitigt zu haben. • Rating-Agenturen bewerteten die neuen Finanzinstrumente vielfach mit ungeeigneten Methoden und vergaben oft leichtfertig Bestnoten. • Schließlich unterschätzten die Ex perten der Fed die Risiken der sich seit dem Jahr 2000 aufblähenden Immobi lienblase - wohl vor allem, weil sie an die Selbstregulierung der Märkte glaubten. Selbst im Herbst 2014, sechs Jahre nach dem Crash, belasten die Verluste der Finanzkrise sowie Rückstellungen für mögliche Strafen und Schadenersatz leistungen die Bilanzen vieler Banken weltweit. Im August 2014 hat die Bank of Am erica in einem Vergleich m it dem U S-Justizm inisterium eine Geldstrafe in Höhe von fast 17 M illiarden Dollar akzeptiert. Davon fließen 9,6 Milliarden in die Staatskasse. M it dem restlichen Betrag sollen unter anderem Hausbesit zer unterstützt werden, die durch das Geschäftsgebaren der Bank in Not gera ten sind. Insgesamt haben amerikanische Banken seit 2008 mehr als 100 M illiar den Dollar Strafe gezahlt. Zudem sind Gesetze verabschiedet worden, die die Zockermentalität stren ger reglementieren und den Schutz der Anleger verbessern sollen. Auch soll das Regelwerk verhüten, dass die Regierung in Zukunft angeschlagene Großbanken retten muss: Jedes große Geldhaus hat für den Fall einer Schieflage in einem N otfallplan die eigene A bw icklung Schritt für Schritt festzulegen, sodass ein plötzlicher Crash und die daraus resul tierenden Risiken für das Finanzsystem vermieden werden. Allerdings sind die bislang erstell ten Pläne der Banken nach Einschätzung der Fed und der Einlagensicherungsbe hörde vielfach unrealistisch. Daher sind die Folgen künftiger Crashs vermutlich nach wie vor unberechenbar. Verhindern lassen sich Finanzkrisen ohnehin nicht. Schon weil Banker und Juristen stets einen W eg finden werden, um mit neuen Produkten und verschach telten Unternehmensstrukturen staatli che Regeln zu umgehen. Zudem sind wohl alle großen ame rikanischen Banken nach wie vor „too big
D urch ih r K a u fverh a lten w erd en d ie U S -B ürger u n w issen tlich zu K om plizen d er F in a n z jon gleu re
DIE AMERIKANISCHEN KONSUMENTEN Sie glauben an im m erw ähren des W achstum und investieren in die Im m obilienblase - m it geliehenem G eld
to fail“: Wenn sie ins Straucheln geraten, können sie Staaten und Steuerzahler er pressen. Das bedeutendste amerikanische Geldhaus ist JP Morgan Chase, dessen Vermögenswerte inzwischen 2,4 Billio nen Dollar betragen. W er sollte diesen Koloss noch zähmen? Im Frühjahr 2014 verkündet der britische Insolvenzverwalter, dass zumin dest die Gläubiger einer britischen Toch tergesellschaft von Lehman Brothers ihr Geld vollständig zurückerhalten werden. Immerhin 40 Milliarden Pfund. Doch kassieren werden zumeist nicht diejenigen Anleger, die damals ihr investiertes Kapital verloren haben, sondern wieder einmal Spekulanten: auf solche Fälle spezialisierte Hedgefonds und Investoren. Sie hatten die Forderun gen an die Tochterfirma nach dem Zu sammenbruch für etwa zehn Prozent des
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N ennw erts aufgekauft - und werden nun einen gigantischen G ew inn einfahren.
XV. Kapitel
KRISE? WELCHE KRISE? Wie der Kapitalismus es schafft zu überleben - trotz allem
Schon oft ist der Kapitalismus totgesagt worden. N ach jeder seiner vielen Krisen v erkündeten K ritiker sein unverm eid bares E nde. A uch der Infarkt von 2008, dessen Folgen so gravierend waren, dass heute noch jederzeit ein weiterer Kollaps m öglich zu sein scheint, h at M illionen A n k läg e r p ro d u z ie rt: Id eo lo g e n u n d Id ealisten , U n te rg a n g sp ro p h e te n u nd ernsthafte D enker, ewige V erlierer u nd enorm e Profiteure des Systems. In der akadem ischen W elt w erden im m er m al w ieder A lte rn a tiv e n zum System erdacht. So entw ickelte der in C h ica g o le h re n d e P h ilo so p h D av id S ch w eick art in sein em b ere its 2 0 0 2 erschienenen W erk „A fter C apitalism “ sein K onzept der „economic democracy“. D arin haben K apitalbesitzer praktisch keine F unktion m ehr: Ü ber die O rg an i sation der Produktion sowie die G ew inn verteilung entscheiden die Beschäftigten der einzelnen Betriebe; das Investitions kapital w ird d urch eine K apitalsteuer aufgebracht und von öffentlichen Banken an die Betriebe vergeben. U nd selbst ein Insider wie der Brite Jerem y G ran th am , M itb eg rü n d er einer m ehr als 100 M illiarden D ollar verw al ten den Fondsgesellschaft, k ritisiert das System, von dem er lebt: „Der Kapitalis mus ist schlecht gerüstet, um m it einer H andvoll von P roblem en um zugehen. Unglücklicherw eise sind jene Problem e zentral für unser langfristiges W ohlerge hen und sogar unser Ü berleben.“ T rotzdem scheint der Kapitalismus auch nach 2008 alternativlos zu sein: Ü berall a u f der W elt w enden sich selbst sozialistische Staaten im m er stärker dem K o nkurrenzsystem zu. N e b e n C h in a etwa in A ngola, w o sich die regierende
GEO E P O C H E Kapitalism us
M P L A vom M arxismus-Leninismus ver abschiedet hat. N ach dem E n d e eines ja h rz e h n te la n g e n B ü rg erk rieg s 2 0 0 2 erlebte das L an d das w eltw eit stärkste W irtsch a ftsw a ch stu m ; der von einem Ö lb o o m angetriebene A ufschw ung lag in einigen Jahren bei etwa 20 Prozent. U nd bereits seit 1986 experimentiert die R egierung V ietnam s m it einer öko nom ischen L iberalisierung: S eith er ist das P ro -K o p f-E in k o m m en von 437 auf 1911 D ollar im Ja h r gestiegen. So dom iniert der Kapitalismus auch das beginnende 21. Jahrhundert, als w ür de es D em onstranten in Z eltstädten und Bankenpleiten, als würde es gelehrte G e genentwürfe und schwindende natürliche Ressourcen einfach n ich t geben. E s ist die W iderstandsfähigkeit des Systems, die auffällig ist. Seine Fertigkeit, unter den unterschiedlichsten B edingun gen zu funktionieren. D as zeigt sich seit m ehr als einem halben Jahrtausend: D er K apitalism us h a t in m itte la lte rlic h e n Städten ebenso reüssiert wie in modernen N ationalstaaten, in D em okratien ebenso wie un ter autoritären Regim en. D e n n diese W irtsch a ftsw e ise ist am oralisch (nicht unm oralisch), flexibel u nd kraftvoll. Ih r einfaches G ru n d p rin zip - die Investition von G eld, u m G eld zu m achen u n d so K apital für w eitere W e rtsch ö p fu n g zu akkum ulieren - ist, trotz aller leidenschaftlichen D iskussion darüber, w eder g u t noch böse, sondern eine gleichsam technische M ethode. Sie kann diversen Zwecken dienen (der H e r stellung von B ro t ebenso w ie der von W affen oder toxischen Finanzpapieren), in zahlreichen V erhältnissen nisten, vie le G esichter u n d F orm en annehm en. U n d sie ist zugleich als ö k o n o m i scher Treibsatz beispiellos effizient: Keine andere A rt des W irtsch aften s h at in der G eschichte so viel W e rt produziert, h at so viel m ateriellen W ohlstand hervorge bracht. D o ch ihre K raft ist d erart groß, dass sie - wie die Krisen gezeigt haben auch hochgefährlich werden kann. T ie f ist das unbändige Streben nach dem M eh rals-zuvor, die kom prom isslose Jagd nach dem m axim alen G ew inn, inzw ischen in fast jede w irtschaftliche T ätigkeit einge sickert, nicht nur im Finanzw esen. W ie jed o ch eine G esellschaft, die dem kapitalistischen Prinzip folgt, k o n
kret aussieht, ist stets von der E ntschei dung der historischen A kteure abhängig. U n d hier beginnen die moralischen Ü berlegungen: In welche R ichtung sol len die Kräfte geleitet werden? W ie kann m an sie zu m öglichst g roßem N u tzen bändigen? W em soll der erbrachte W ohl stan d zu g u tek o m m en , w ie soll er sich verteilen, sow ohl innerhalb von Staaten wie international? O der ganz allgemein: W elche O rd n u n g u n d w elche R egeln m üssen dem K apitalism us auferlegt w erden, um eine annehm bare Z u k u n ft zu ermöglichen?
X V I . K a p ite l
DER R E K O R D A L L E R REKORDE Wie ein M a n n m it dem Desaster M illiarden macht
Als im Januar 2010, gut 15 M onate nach der L eh m an -P leite, erm ittelt w ird, wie sich die Krise der W eltw irtschaft auf den Verdienst der Finanzm anager ausgewirkt h at, stellt sich heraus, dass niem and im Ja h r 2009 so viel G eld verdient h at wie der Investm entexperte D avid Tepper. D essen S trategie: M itte n in der F in an z k rise h a tte sein F onds A k tien von strauchelnden U S -B anken gekauft. Tepper setzte darauf, dass die U S-Regierung nach dem katastrophalen E nde von Lehm an Brothers keine weiteren Banken untergehen gehen lassen würde - und lag richtig. D ie R egierung stützte die B an ken, die Kurse stiegen w ieder an. T eppers persönlicher V erdienst in jenem Jahr: vier M illiarden Dollar. £
Das A utoren-Team von G E O E P O C H E w inde bei diesem Dossier in besonderem M aße von den beiden Fachberatern des Heftes unter stützt. C h risto fJe g g le ,/g . 1965, ist W irt schaftshistoriker und hat sich unter anderem m it M ärkten und dem komplizierten Geldwesen in der Frühen N eu zeit beschäftigt. Der Volkswirt D r. C a rste n Pallas, Jg. 1972, ist Experte f ü r Finanzwissenschaft und arbeitet als A nalyst in einer Bank.
159
D aten und Fakten
Geschichte einer Wirtschaftsordnung Seit g u t 700 Jahren expandiert der Kapitalismus, stets b e fe u ert durch das verführerische Versprechen von P rofit. Vom Handel ausgehend, hat er inzwischen so g u t wie alle Bereiche des Lebens erfasst - und säm tliche Regionen der Erde
v o h o l a f m is c h e r
Schon lange vor der Zeiten
m odell etwa von dem der
hen - erhalten kein kirch
wende entwickeln sich auf
Bauern, die ihre Produkte
liches Begräbnis. Das be
(die zunehmend weder
und immer ausge
fast allen Kontinenten ein
auf lokalen Märkten
schließt eine Versammlung
als Handwerker noch als
dehntere Kauffahrten
fache Formen protokapita-
anbieten.
hochrangiger Kirchenfüh
Bauern arbeiten dürfen)
zu organisieren.
rer in Rom. Geld soll fort
u m 1160
Italien. Der Genueser
listischen Handels: Um 3500 v. Chr. entstehen im
M ünzgeld erfinden
Zudem können Juden
ternehmen zu gründen
Gelehrte im 6. Jahrhundert
an einzig aus Nächsten
Kapitalerträge erwirt schaften. Sie berufen sich
Indus-Tal erste Marktorte;
v. Chr. im kleinasiatischen
liebe beispielsweise an
auf das Fünfte Buch
Kauf leute erwerben dort
Lydien: Es sind Edelmetall-
Kranke oder O pfer von
Mose, das ihnen gestat
Notar Giovanni Scriba
etwa Textilien, die sie ge
scheiben, deren stets glei
Missernten verliehen wer
tet, von Angehörigen
beglaubigt vermutlich als
winnbringend in andere
ches Gewicht (und damit
den, so wie es die Bibel in
anderer Völker Zinsen
einer der Ersten soge
Regionen Asiens exportie
ihr W ert) durch aufgepräg
mehreren Passagen nahe
zu verlangen.
nannte Wechsel: Händler
ren. Um 2 000 v. Chr. be
te Insignien garantiert ist.
legt. Doch die Menschen
Kredite, Schulden und
deponieren Münzen bei
umgehen das Zinsverbot:
Zinsen sind grundlegende
einem - zuvor vor allem
ziehen europäische Bronze
Obgleich die handlichen
schmiede am nördlichen
Münzen sowohl die Kapital-
Händler, die etwa einen
Bedingungen für die
mit dem Tausch unter
Alpenrand einen Teil ihrer
bildung als auch den Han
Kredit für den Warenkauf
Entwicklung des Kapitalis
Rohstoffe wahrscheinlich
del wesentlich erleichtern,
benötigen, akzeptieren
mus - jener Wirtschafts
schiedlicher Währungen befassten - Geldwechsler
aus dem über 500 Kilom e
löst ihr Gebrauch den
absichtlich unrealistisch
ordnung, in der Kapital
und erhalten dafür eine
ter entfernten Erzgebirge.
Tauschhandel in den fol
kurze Rückzahlungsfristen
(Geld, Rohstoffe und
Quittung. Diese einem
Und um 500 v. Chr. wan
genden Jahrhunderten
und hohe Säumniszuschlä
Werkzeuge etwa) bedeu
Scheck vergleichbare Ur
dern afrikanische Händler
nicht vollständig ab. N ahe
ge bei dem so unvermeid
tender ist als anderen
kunde kann ein Genueser
durch die Sahara, die Kup
zu unentbehrlich werden
baren Zahlungsverzug.
Produktionsfaktoren
Kaufmann etwa bei einem
fer aus dem Westen gegen Salz aus dem Norden
M ünzen wohl erst im Laufe der Römischen Republik
(Arbeit und Boden).
ägyptischen Wechsler, der
tauschen wollen.
- auch weil die Bewohner
Bei solch frühen Fern
mit seinem italienischen u m 1150
Kollegen in Verbindung
der Metropole auf Getreide
Frankreich. Investoren
steht, gegen Münzen ein-
handelsgeschäften wird
importe aus Ubersee
erfinden ein Modell der
tauschen. So müssen die
meist Ware gegen Ware
angewiesen sind.
Kapitalbeschaffung, bei
Händler nicht mehr fürch
dem keine Zinsen anfallen:
ten, während der Reise große Mengen Geldes an
eingetauscht. Doch mitun
M it dem allmählichen
ter akzeptieren europäische
Niedergang des römischen
den „Rentenkauf“. Als
Geschäftsleute auch Bern
Imperiums, der unter ande
Gegenleistung für eine
Piraten oder Räuber zu
stein und ihre afrikanischen
rem durch den Ansturm
Summe geliehenen Gel
verlieren.
Kollegen wohl Ringe aus
germanischer Völker ab
des erhält der Gläubiger
Silber und G old als Z a h
dem 5. Jahrhundert n. Chr.
eine jährlich auszuzahlen
dieser Zeit weitgehend
lungsmittel. In jedem Fall
ausgelöst wird, verlieren die Anfänge des kapitalistischen
de Rente - entweder le benslang (Leibrente) oder
landwirtschaftlich geprägt
aber müssen Fernhändler zuvor Güter, Bernstein oder
Handels in Europa aber
vererbbar (Ewiggeld).
anderen italienischen
Edelmetalle „sparen“, um
stetig wieder an Bedeutung.
Um diese Zeit werden
sie - in der Hoffnung auf Gewinn - als „Kapital“ in
160
---------------
in ganz Europa zahlreiche 1139
ein Handelsgeschäft inves
Italien. Christliche „Wu
Jakob Fugger (r.) lenkt
tieren zu können. Das un
cherer“ - all jene also, die
um 1520 eines der größten
terscheidet ihr Geschäfts
Geld gegen Zinsen verlei
Unternehmen Europas
Während Europa in
ist, entsteht in Genua und Stadtrepubliken ein „Kauf mannskapitalismus“: Um
neue Städte gegründet,
große Geschäfte finan
in denen vorrangig Händ
zieren zu können und
ler auf Darlehen ange
das Risiko zu minimieren,
wiesen sind, um neue Un
schließen anfangs zwei
GEO E P O C H E Kapitalism us
Mit Waffengewalt errichten Europäer ein Fernhandelsnetz in Asien: niederländische Schiffe vor dem 1656 eroberten Colombo auf Ceylon
Geschäftsleute für jeweils eine Handelsfahrt eine Gesellschaft (commenda), in die später dann auch weitere Teilhaber Kapital investieren und dafür am Gewinn beteiligt werden. Allein Giovanni Scriba beurkundet mehr als 300 solcher Verträge. ab 1200
Frankreich. Die Graf schaft Champagne, wo sich Handelsstraßen von Italien nach Flandern, an den Rhein und in die Provence kreuzen, ent wickelt sich zum europäi schen Handelszentrum: Auf sechs Messen werden von Januar bis November Wolltuch aus Flandern, orientalische Gewürze, Farbstoffe und Waren aus den Mittelmeerländern verkauft. Bezahlt wird in zunehmendem Maße mit Wechseln. Gleichzeitig werden die Warenströme immer effizienter organi siert - auch von NichtItalienern: So verschiffen etwa Händler aus Köln Waren nach London, lassen dann von ihren Agenten englische Wolle für den flandrischen Markt einkaufen und von dort Stoffe an den Rhein bringen. Dabei räumen die Produzen ten den Händlern oft Warenkredite ein.
GEO EP O C H E K a p ita lis m u s
1202 Italien. Der aus Pisa stammende Mathemati ker Leonardo Fibonacci revolutioniert mit seinem „Buch der Rechenkunst“ das europäische Rechen system: Anstelle römischer Zahlen verwendet er das (ursprünglich aus Indien stammende) arabische Ziffernsystem, das er von nordafrikanischen Gelehr ten gelernt hat. Damit er leichtert er auch die immer umfangreicher werdende Buchhaltung der Händler. 1255 Italien. Der Kaufmann Orlando Bonsignori grün det in Siena das Finanz unternehmen Gran Tavola, Großer Tisch, wahrschein lich benannt nach jenen Tischen, an denen die Geldwechsler traditionell Münzen aus aller Welt tauschen. Doch der Unter nehmer beschränkt sich nicht auf den Tausch von Münzen verschiedener Währungen - er ist auch Makler zwischen jenen Menschen, die Kapital benötigen und jenen, die ihr Geld investieren wol len. Damit ist er einer der ersten Kaufmannsbankiers und einer der erfolgreichs ten: Papst Urban IV. lässt den von seinen Kollek toren bei den Gläubigen
eingezogenen Kirchen zehnt bei Bonsignori gegen eine Gebühr depo nieren und verwalten. Bonsignori verleiht zudem Geld an hohe geistliche und weltliche Würden träger. Da Zinsen nach wie vor geächtet sind, ver dient er wohl vor allem am disagio, der Differenz zwischen dem auf den Schuldscheinen genannten Betrag und der tatsächlich ausgezahlten, niedrigeren Summe. In Siena und an deren italienischen Orten gründen Händler bald weitere Kaufmannsbanken, die Geld an Städte und Fürsten in ganz Europa verleihen. Es sind Fami lienunternehmen, in denen Handels- und Geldge schäfte stets eng mitein ander verknüpft sind. um 1270 Italien. Der Preis für Güter entwickele sich nach den Bedürfnissen der Men schen auf den Märkten, erklärt der Dominikaner Thomas von Aquin in seinem Werk „Summa Theologica“, in dem er aus moraltheologischer Sicht Ansätze einer ökonomi schen Theorie entwickelt. Er beschreibt damit de facto die Preisbildung in der kapitalistischen Wirt schaftsordnung, die durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird.
rialwert jedes einzelnen Geldstückes bemisst) und verursacht so eine Infla tion. Auch in anderen Regionen wird der reale Münzwert ständig ver schlechtert: In Pisa sinkt der Silbergehalt des Pfen nigs schon zwischen 1150 und 1250 von 0,6 Gramm auf 0,25 Gramm. Ein spä terer englischer König verringert den Anteil des Silbers in seinen Münzen gar so weit, dass dieser nur noch 25 Prozent des Nominalwerts beträgt. um 1295 Frankreich. Der Theo loge Petrus Johannis Olivi beschreibt als Erster den Unterschied zwischen gehortetem und investier tem Geld. Letzteres habe „eine zeugende Qualität der Hervorbringung von Profit, die wir gemeinhin .Kapital' nennen“. Wenn aber Geld - anders als von früheren Theoretikern beschrieben - nicht nur ein Zahlungsmittel ist, dann ist das kanonische Zinsverbot ungerechtfer tigt, folgert er: Der Kre ditgeber müsse an dem Gewinn beteiligt werden,
der durch sein Kapital erst möglich wird. 1298 Italien. Bankencrash in Siena: Nachdem mehrere Schuldner ihre Darlehen bei der Gran Tavola nicht zurückgezahlt haben und daraufhin Großkunden all ihre Einlagen abheben wollen, droht der Bonsignori-Bank der Bankrott. Auch andere Kaufmanns banken in Siena geraten in Zahlungsschwierigkeiten. Daraufhin wird Florenz zum europäischen Finanz zentrum. Dort gibt es um diese Zeit bereits drei gro ße Geldhäuser: die Unter nehmen der Kaufmanns familien Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli. Einige Mitglie der dieser Clans konzen trieren sich zunehmend auf das Bankgeschäft. Um 1341 unterhält allein die Acciaiuoli-Bank 16 Filialen in mehreren Ländern. Zu den größten Schuldnern der Florentiner Banken zählt bald Englands König. 1306 Deutschland. Der Kölner Erzbischof borgt sich bei italienischen Geldverlei
1285-1314 Frankreich. Wegen akuter Finanznot verringert König Philipp IV. den Edelmetall gehalt der französischen Münzen. Damit reduziert er die Kaufkraft des Gel des (die sich in dieser Zeit der Gold- und Silberwäh rungen nach dem Mate
lm Kapitalismus ist zeitweise selbst der Mensch eine Ware: Sklavenmarkt im amerikanischen Virginia, 1861
161
um 1441 P ortugal. Nuno Tristao,
mehr Kaufleute aus Sevilla
nun teils in Börsenkursen
de Córdoba etwa g ib t dem
zusammengefasst.
Seemann und Entdecker,
Eroberer Hernán Cortes
verschleppt zwölf A frika
1519 einen Kredit, m it dem
den im Börsengebäude
setzen auch Bauern im m er produktivere
ner als Sklaven in seine
Cortés die Eroberung des
auch Warenkontrakte ge
G eräte wie diese M ähm aschine ein
Heimat. Er ist der erste
Inka-Reichs finanziert.
handelt: Verträge etwa
Um ihren G ewinn zu m axim ieren,
einer wachsenden Zahl europäischer Sklaven
Neben Wechseln wer
über die Lieferung be
1531
stim m ter M engen G etrei
hern eine große Summe.
meln sich in Lübeck zum
händler, die Menschen als
Spanische N iederlande.
des zu festgesetzten Prei
Als Gegenleistung gestat
ersten Hansetag, um über
Ware verkaufen, später
Die Stadt Antwerpen baut
sen und Daten. Die Käufer
te t er ihnen, in seinem Bis
gemeinsame w irtschaftli
vor allem an Plantagen
die weltweit erste Börse
der Kontrakte spekulie
tum Geld gegen Zinsen zu
che Interessen und deren
besitzer in den Kolonien
für Finanzgeschäfte, be
ren (vereinfacht gesagt)
verleihen. D am it sind sie
politische Durchsetzung
der Neuen Welt.
nannt nach der Herberge
auf zukünftige Kurse
vor Kirchenstrafen sicher.
zu beraten. Z ur wohl
„Zur Börse“ in der Messe
der Papiere.
Für ihr Seelenheil müssen
schon um 1160 gegründe
sie indes selbst sorgen: Ein
ten Hanse gehören nun
christliches Begräbnis be
etwa 70 Städte, darunter
Handelsgesellschaften dür
kommen sie nur, wenn sie
Ham burg, Köln und Riga.
fen bei Zahlungsschwierig
ner Börse haben nur Kauf
- sowie m it der Gründung
zu Lebzeiten Reue zeigen
Hansekaufleute gewähren
keiten ihre H aftung auf die
leute, deren Kreditwürdig
von Aktiengesellschaften
und die O p fe r ihres „Zins
sich gegenseitig Kredite,
Höhe der Geschäftseinla
keit zuvor g e p rü ft wurde.
entwickelt sich der m ittel
wuchers“ entschädigen.
bilden Handelsgesellschaf
gen beschränken - so ein
Zudem dürfen d o rt wohl
alterliche Kaufmanns
Die Italiener betreiben
1464 D eutschland. Nürnberger
stadt Brügge, einem Treff punkt für Kaufleute. Zugang zur Antw erpe-
M it der Eröffnung weiterer Börsen - etwa in London und Am sterdam
ten, gründen vor allem in
Privileg, das Kaiser Fried
nur von der Börsenaufsicht
kapitalismus allmählich
zunehmend auch in den
N ord- und Westeuropa
rich III. wohl auf Bitten von
genehm igte Produkte
auch zum neuzeitlichen
Städten entlang des
- in Bergen, London und
Kaufleuten ausgestellt hat.
gehandelt werden. Denn
Finanzkapitalismus, in dem
Rheins ihre Geschäfte. Sie
Brügge etwa - Kontore
D am it müssen sie nicht
anders als in den Gasthäu
die Spekulation auf die
sind in Buchführung und
und schließen so auch
mehr m it ihrem gesamten
sern werden die Börsen
Entwicklung von Kursen
Kapitalbildung deutschen
Konkurrenten vom
Privatvermögen haften.
geschäfte nicht mehr per
und Preisen ein mindes
Kaufleuten überlegen.
Handel aus. Die Hanse
Solche Regelungen wer
sönlich von Kaufmann zu
tens ebenso wichtiges
dom iniert bald die
den zwar erst später in
Kaufmann abgewickelt,
Geschäftsfeld wird wie
1343
M ärkte im N ord- und
anderen Teilen Europas
sondern in Form einer
der Warenhandel.
Italien. Die Peruzzi-Bank
Ostseeraum.
eingeführt, tragen dann
A uktion. D am it hat sich
aber stark zur Durchset
aus dem informellen
in Florenz ist zahlungsun fähig. Einer der Auslöser
1401
1540
zung der kapitalistischen
Hinterzim merhandel ein
W irtschaftsordnung bei.
komplexer, kapitalistischer
Kaufleute dürfen fortan
M arkt m it transparenter
G eld zu einem Zinssatz
für den Bankrott ist, dass
Spanien. Da private
König Eduard III. von
Kaufmannsbanken wie die
England seine enormen
Gran Tavola in Siena o ft in
Schulden nur zögerlich
Zahlungsschwierigkeiten
begleicht. A uch weitere
geraten sind, gründet die
doba, ein wohlhabender
Florentiner Geldhäuser
Stadt Barcelona die Taula
Silberschmied aus Sevilla,
müssen schließen, darun
de Canvi (W echseltafel),
investiert in eines der ers
ter die Bardi-Bank. Bei
die erste öffentliche Bank.
ten Handelsgeschäfte m it
ihnen hat Eduard ebenfalls
Bald darauf wird m it der
der für die spanische Kro
Geld aufgenommen, um
Banco di San G iorgio das
ne gegründeten Kolonie
Krieg gegen Frankreich
erste Bankhaus Italiens
Santo D om ingo auf der
zu führen und seine luxu
gegründet, das nicht im
1492 von Christoph Ko
riöse H ofhaltung zu finan
Familienbesitz ist, sondern
lumbus entdeckten Insel
zieren. Nun verlagert sich
von mehreren Geschäfts
Hispaniola: Er schickt vier
das Zentrum des euro
partnern geführt wird und
m it Lebensmitteln und
päischen Finanzmarktes in
sich allein auf das G e ld
Ausrüstung beladene
das toskanische Lucca.
geschäft konzentriert.
Karavellen in die Neue
Die Banco di San G iorgio
Welt, um die Fracht an die
1356
162
erzielten Summen werden
A m erika als Markt. Juan
1502 Spanien. Juan de C o r
wird ihren Geschäfts
Kolonisten gewinnbrin
D eutschland. Kaufleute
betrieb - nach mehreren
gend zu veräußern.
und Vertreter deutscher
Unterbrechungen - erst
Handelsstädte versam
1805 einstellen.
In den folgenden Jahren erschließen mehr und
Spanische N iederlande.
Preisbildung entwickelt.
von zw ölf Prozent legal
Die bei den A uktionen
verleihen. So will Kaiser
Die Industrielle R evolution ist die g rö ß te ökonom ische Um wälzung der G eschichte (Eisengießerei, 1885)
GEO E P O C H E Kapitalism us
Karl V. den weitverbreite ten Wucher unterbinden, der „den Wohlstand der Provinz“ durch überzogene Zinsen schmälere. Damit hebt er das kanonische Zinsverbot für die Nieder lande de facto auf. Fünf Jahre später fällt es dann in England, nach dem König Heinrich VIII. mit der Papstkirche gebro chen hat. Und mit dem Westfälischen Frieden von 1648 verliert es endgültig an Bedeutung: Die euro päischen Fürsten erlauben, Darlehen zur Behebung von Kriegsschäden mit fünf Prozent zu verzinsen. Die katholische Kirche indes hebt ihr Verbot von 1139 erst 1830 offiziell auf. 1602
G E 0 E P O C H E Kapitalism us
1623 England. Das Parlament verabschiedet das erste Patentgesetz der Neuzeit: Königliche letters patent (abgleitet von dem lateini schem litterae patentes für „offene Briefe“) garan tieren Erfindern auf be stimmte Zeit das alleinige Nutzungsrecht an ihren Innovationen. Der Patent schutz wird zu einer der wichtigsten Voraussetzun gen für die Entwicklung des späteren Industrie kapitalismus. 1637 Vereinigte Niederlande. Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt sind Tulpen zwiebeln in den Niederlan den zu Anlageobjekten geworden: Manche Bür ger verpfänden gar ihre Häuser, um die aus dem Osmanischen Reich stammenden Knollen als Investment zu erwerben. Diese wohl erste Speku lationsblase des Kapitalis mus entsteht und platzt wie zahllose weitere in den nächsten vier Jahrhunder ten: Viele Menschen sind wohlhabend und suchen nach einer ertragreichen
Riesige Fabriken bringt die Industria lisierung hervor - und verändert das Bild der Städte (Ludwigshafen, 1881)
Anlage (gleichgültig ob in Aktien, Immobilien oder Pflanzen), um ihr erspartes Geld zu vermehren. Stei gende Nachfrage treibt dann die Preise in die Höhe. Das lockt weitere Investoren, die - wohl auch mit geliehenem Geld - spekulieren. Doch irgendwann erschüttern schlechte Nachrichten oder (wie in den Nieder landen) Gerüchte über fallende Preise das Ver trauen der Anleger, und die Spekulationsblase platzt. Die Tulpenkrise ruiniert viele, vor allem reiche Niederländer. 1661 Schweden. Das 1656 ge gründete Haus Stockholm Banco gibt vermutlich als erstes europäisches Geldhaus Banknoten aus, deren Wert zunächst durch Münzgeldeinlagen gedeckt ist. Andernfalls hätten weder die Bankkun den noch Händler das zwar praktische, aber an sich wertlose Papier als Zahlungsmittel akzeptiert. Papiergeld hatte es zuvor seit den Jahren um 1050 wohl nur in China gege ben, bis es um 1450 wieder abgeschafft wurde: Die kaiserlichen Untertanen hatten das Vertrauen in das Zahlungsmittel verlo ren, weil die Preise unauf
hörlich stiegen, nachdem der Herrscher mehr und mehr Noten drucken ließ. Auch die skandinavi schen Bankiers haben nach kurzer Zeit das Vertrauen ihrer Kunden verspielt: Sie geben mehr Noten aus, als durch Spareinlagen gedeckt sind. 1668 ver staatlicht Schwedens Re gierung das Geldinstitut und macht es als Riksbank zur ersten Staats- und Notenbank der moder nen Welt.
um 1750 England. Durch die Zu nahme der Bevölkerungszahl wächst die Nachfrage nach Brot; zudem benöti gen Weber immer größere Mengen Schafwolle zur Tuchproduktion. Da die Bauern daher immer hö here Preise für ihre Pro dukte verlangen können, steigen deren Einkünfte. Um von dem Landwirt schaftsboom ebenfalls zu profitieren, zäunen adelige Grundbesitzer Felder ein, die sie bislang Kleinbau ern gegen einen geringen Anteil an der Ernte über lassen hatten. Stattdessen verpachten sie den Boden gewinnbringend an Groß bauern. Diese stellen einen Teil der nun mittellosen Kleinbauern als Lohnarbei ter an - und etablieren damit vor allem für den
späteren Industriekapitalis mus typische Arbeitsver hältnisse: Anders als zuvor auf den Adelsgütern wer den die ehemalige Bauern für ihre Arbeit bezahlt und dürfen (sofern sie es sich leisten können) jederzeit kündigen, verfügen aber über keine Produktions mittel (etwa Pflüge) mehr. um 1771 England. Richard Arkwright, ein gelernter Perückenmacher, richtet im englischen Cromford die modernste Fabrik der Welt ein: Die von ihm mitentwickelte Spinnma schine „Water Frame“ wird nicht wie bei der Konkur renz von Menschen oder Maultieren angetrieben, sondern durch Wasser kraft. Mit dieser Maschine können Arbeiter viel mehr Garn produzieren als zuvor. Finanziert hat der Pionier aus Cromford sein Unternehmen mit geliehenem Kapital. Arkwright steht mit seiner Fabrik am Beginn der Industriellen Revolu tion, die anfangs von Tex tilunternehmen geprägt wird. In den folgenden Jahrzehnten werden mehr und mehr Erfinder und Investoren große Unter nehmen aufbauen und Tausende Kleinbauern in die nun entstehenden
Daten und Fakten
Vereinigte Niederlande. Im nördlichen, seit 1581 von der spanischen Krone unabhängigen Teil der Niederlande gründen Kaufleute die „Vereenigde Oostindische Compag nie“, die sich zur ersten modernen Aktiengesell schaft der Welt entwickelt. Gegen das Versprechen einer Gewinnbeteiligung erwerben mehr als 1800 Investoren Anteile an dem auf den Asienhandel spe zialisierten Unternehmen. Neben Kaufleuten sind auch Handwerker und Arbeiter unter den Aktio nären - während an den bisher vorherrschenden Familien- und Personen unternehmen meist nur wenige reiche Geldgeber beteiligt sind. Haftbar sind nicht mehr die einzelnen Direktoren, sondern ist die Gesellschaft, und zwar nur in der Höhe der Kapital einlagen. Mit dem Geld der Investoren lassen sich
nun große Mengen Pfef fer, Muskat, Kaffee, Silber und Seide importieren. Deren Weiterverkauf be schert den Niederländern einen nie gekannten Wohlstand. Auch in anderen europäischen Ländern entstehen später Aktien gesellschaften, etwa in England. Und Aktien werden selbst zur Ware: An den Börsen gehören sie bald zu den umsatzstärksten Finanzprodukten.
163
Industriemetropolen zie
Einsatz - ohne dass
Absolventen des Berliner
gewerkschaftliches Enga
hen, um unter o ft er
C rom pton mehr als ein
G ewerbeinstituts von
gem ent als Verschwörung
bärmlichen Bedingungen
Alm osen daran verdient
1821 erhalten etwa Stipen
unter Strafe. Schon seit
G ro ß b rita n n ie n . Die Re
ihren Lebensunterhalt
hat. Denn er konnte die
dien von der preußischen
einigen Jahren schließen
gierung führt den G o ld
in den neuen Fabriken
G ebühr für den Patent
Regierung für England
sich A rb e iter einzelner
standard für das Britische
zu verdienen.
schutz nicht aufbringen.
reisen. So werden deut
Gewerke, etwa die Baum
Pfund ein: Der W ert der
sche und andere europäi
wollspinner, zusammen,
Geldscheine ist fortan
sche Unternehm er ohne
um Verbesserungen der
durch eine bestimmte
1776
1784
S chottland. Der Philo
D eutschland. D er Tuch
hohe Entwicklungskosten
Arbeitsbedingungen
M enge Goldes in den
soph und Ö konom Adam
händler Johann G o ttfrie d
zu Konkurrenten für die
gegen die Unternehm er
Tresoren der Notenbank
Smith veröffentlicht das
Brügelmann nim m t m it
britischen M arktführer.
durchzusetzen.
Buch „Untersuchung über
einer Kopie von Ark-
Wesen und Ursachen des
wrights W ater Frame in
Reichtums der Völker“.
Ratingen bei Düsseldorf
gedeckt. In den nächsten Jahren folgen weitere
1793
1807
U S A . Amerikanische
Preußen. In dem König
Vorbild. Das so entstehen
Länder dem britischen
Dieser entstehe durch das
die Produktion von Garn
Plantagenbesitzer steigern
reich wird per Edikt die
de, auf einem weitgehend
weitgehend ungebremste
auf. Zwar ist der Export
m it der „C otton G in “ - ei
Leibeigenschaft abge
einheitlichen Standard
Eigeninteresse des Einzel
von Dampfmaschinen und
ner Maschine, die Baum-
schafft. Zudem da rf nun
beruhende Wechselkurs
nen, erklärt er darin: Nur
Geräten zur Herstellung
wollfasern von den Samen
jeder Bürger G ewerbe
system erleichtert den
weil sie persönlichen G e
von Textilien aus G ro ß b ri
trennt - die Rohstoffpro
betriebe gründen - ein
internationalen Handel.
winn anstreben, produzie
tannien streng verboten.
duktion für die heimische
Recht, das seit dem M it
ren Arbeiter und U nter
Doch im mer wieder ge
Textilindustrie. Sklaven
telalter o ft nur M itgliedern
nehmer jene Waren, die
lingt es Ausländern, Kon
bedienen die neuartige
von Handwerkszünften
G ro ß b rita n n ie n . Der
Konsumenten nachfragen.
struktionspläne zu kopie
Maschine, säen und p flü
zustand. Dam it hat ein
Schriftsteller Charles D i
Zugleich bestim m t die
ren. So wird schon im
cken die Pflanzenfaser
großer deutscher Staat
ckens veröffentlicht den
Nachfrage die Preise von
folgenden Jahr die erste
und sichern amerikani
wesentliche Voraussetzun
Roman „David Copper
Gütern: N im m t die Nach
nach englischer Bauart
schen Unternehm ern, die
gen für die Entwicklung
frage zu, steigen die Prei
gefertigte Dam pfm aschi
bald den W eltm arkt der
des Industriekapitalismus
field“, dessen Protagonist - wie der Autor in seiner
se, sodass weitere Unter
ne in einem sächsischen
Baum wollproduktion be
geschaffen.
Jugend selbst - in einer
nehmer investieren und
Bergwerk in Betrieb ge
herrschen, außerordent
das W arenangebot ver
nommen. (D ie Fachkräfte
lichen Profit. Sklaven
größern. Dieser M arkt
zur Bedienung der kom
arbeit wird in den USA
G ro ß b rita n n ie n . Zwi
mechanismus sorge dafür,
plexen Maschinen werben
erst 1865 per Verfassungs
schen den O rte n Stockton
neun Jahren wöchentlich
dass auf freien M ärkten
Unternehm er m it attrak
zusatz verboten.
und Darlington wird die
48 Stunden in Baum
A n g e b o t und Nachfrage
tiven Löhnen in England
weltweit erste Eisenbahn
wollspinnereien arbeiten,
stets ins Gleichgewicht
ab.) Viele deutsche Staa
strecke für den Passagier
14-Jährige gar 69 Stun
gebracht werden.
ten fördern solche Indus
G ro ß b rita n n ie n . Der
transport eröffnet, sie ist
den. In einigen Unter
triespionage sogar aktiv:
„Com bination A c t“ stellt
knapp 13 Kilom eter lang.
nehmen sind die Hälfte
Smith zum einflussreichs
In den folgenden Jahr
aller Beschäftigten jünger
ten Theoretiker des Kapi
zehnten wird der Bau
als 16 Jahre - weil ihre
talismus - obgleich für ihn
von Schienennetzen die
Arbeitskraft billiger ist als die ihrer Eltern.
M it seiner Schrift wird
1799
1825
nicht Kapital, sondern nur
Industrielle Revolution
die menschliche A rb e it
dramatisch beschleunigen,
W erte schafft.
da die neuen Verkehrs
1779
1850
Fabrik arbeiten muss. Kin der dürfen laut Gesetz in England schon mit
1867
wege den Transport von
G ro ß b rita n n ie n . Der
Rohstoffen zu den Fabri
Journalist und Philosoph
England. Der 26-jährige
ken sowie von Konsum
Karl M arx beendet in Lon
Samuel Crompton, ein
gütern zu den M ärkten
don die A rb e it am ersten
mittelloser Baumwollspin
deutlich erleichtern. In
Band seines Hauptwerks
ner und Erfinder, revolu
Deutschland bauen
„Das Kapital“. Aufbauend
tioniert mit der von ihm
Unternehm en - anfangs
auf den A rbeiten von
entwickelten „Spinning
zumeist Aktiengesell
Adam Smith und anderen
Mule“ („Spinnendes Maul
schaften - zwischen 1835
Ö konom en untersucht der
tier“) die Textilherstel
und 1914 Bahnstrecken
Deutsche unter anderem
m it einer Gesamtlänge
die Verteilung des durch
lung: Um 1812 sind fast fünf Millionen dieser Spinnmaschinen im
164
1844
1929 stürzt ein Börsencrash den Kapitalismus in eine tiefe Krise. Viele A n le g e r zw ingt er zu N otverkäufen
von rund 62 000
die G üterproduktion er
Kilometern.
zielten Ertrags zwischen
GEO E P O C H E K a p ita lism u s
Kapitaleignern und A rb e i
und schluckt er in den
rung zu beteiligen. Allein
tern. Seine These: Den
folgenden Jahren zahllose
bis 1927 wird Ford mehr
„M ehrw ert“ (der durch
Konkurrenten, sodass er
als 15 M illionen Autos
menschliche A rb e it im
1877 fast 90 Prozent des
produzieren: Sein M odell
Produktionsprozess ent
amerikanischen Olm arkts
T wird zum bis dahin
steht) erschaffen allein die
beherrscht. Standard
meistverkauften A u to der
Arbeiter. D och wird er
O il gehört dam it zu den
Welt. Fast alle A u to m o b il
ihnen von den U nterneh
mächtigsten M onopöl-
mern vorenthalten, um
unternehmen, von denen
den daraus erwirtschafte
- wie von Karl Marx
ten Profit in im mer m oder
prognostiziert - nun mehr
nere Produktionsm ittel zu
und mehr entstehen.
investieren. Durch neue
produzenten übernehmen Die »Soziale M arktw irtschaft« der jun g en BRD verspricht einen Kapitalismus,
das Prinzip der Fließ bandarbeit.
der W ohlstand für alle schafft 1914
G ro ß b rita n n ie n . Durch
D eutschland. M ittlerweile
Technik können sie einen
Auslandsinvestitionen
432 Unternehm en neu an
rische Sozialversicherung
arbeiten schätzungsweise
Teil der A rb e iter entlassen
erwirtschaften britische
der Börse notiert worden.
weltweit sowie in den
45 Prozent der gewerblich
und den Lohn der ande
Kapitalanleger einen G e
Diesem sogenannten
folgenden Jahren eine
Erwerbstätigen in großen
ren reduzieren - weil die
winn von rund 50 M illio
„G ründerboom “ ist 1871
Unfallversicherung und die
Industriebetrieben. In den
Nachfrage nach A rb e it
nen Pfund (g u t fü n f M il
der deutsche Sieg über
gesetzliche Renten- und
vergangenen Jahren ha ben sich auch m it Hilfe der
gesunken ist. Die Folgen
liarden Euro nach heutiger
Frankreich sowie die
Invalidenversicherung.
dieser Entwicklung hat
Kaufkraft). Seit Jahren
G ründung des Deutschen
A u f diese Weise will der
(seit 1890 wieder zugelas
M arx schon in früheren
schon legen wohlhabende
Reichs vorausgegangen.
Kanzler die im Untergrund
senen) Gewerkschaften
Schriften beschrieben:
Briten mehr und mehr
Die Pariser Regierung hat
weiter bestehenden
die Lebensverhältnisse
Bei zunehmender Ver
Kapital auf ausländischen
seither fast fü n f M illiarden
Arbeiterorganisationen
der A rb e iter wesentlich
elendung werden sich die
Wachstumsmärkten an.
Francs als „Kriegsentschä
schwächen.
verbessert: Die Reallöhne
A rb e iter unter Führung
D er d o rt erzielte Gewinn
digung“ an den neuen
von Arbeiterorganisatio
ist nun auch für die Stabili
Staat gezahlt. Diese riesi
nen gegen die Fabrik
tät der Volkswirtschaft des
ge Summe wird zu einem
U S A . In der Schrift „The
besitzer erheben und die
Königreichs wichtig. Denn
Teil für die Bezahlung
Principles o f Scientific
über 13 auf 9,5 Stunden.
Produktionsmittel an
aufgrund einer gestiege
großer Staatsaufträge
M anagem ent“ erläutert
A uch in den anderen In
sich reißen.
nen Inlandsnachfrage
verwendet und fü h rt so zu
der Am erikaner Frederick
dustrienationen ist, anders
übersteigt der W ert der
einem Liquiditätsschub
W. Taylor, wie A rbeitspro
als von Karl Marx prognos
britischen Rohstoffim porte
am Kapitalmarkt. Die
zesse m öglichst effizient
tiziert, das Proletariat
D eutschland. U nter an
(Zinn aus Malaysia etwa,
Pleite der Q uistorp’schen
und kostensparend zu
nicht verelendet.
derem auf Drängen links
Diamanten aus Afrika
Vereinsbank löst eine
organisieren sind. Sein
liberaler A bgeordneter aus
und Weizen aus Kanada)
Lawine von Firmenzusam
Buch fü h rt letztlich zum
unterbricht das starke Wirtschaftswachstum, das
1869
haben sich seit 1871 ver 1911
Preußen gestatten die
inzwischen den W ert
menbrüchen aus: Etwa
zunehmenden Einsatz
im Norddeutschen Bund
der exportierten Waren.
20 Prozent der in den
von Fließbändern.
zusammengeschlossenen
D er dadurch verursachte
vergangenen Jahren ge
22 deutschen Staaten
Abfluss von Kapital ins
gründeten Aktiengesell
die Bildung von Gewerk
Ausland wird durch
schaften werden liquidiert.
schaften. Um diese Zeit
die Investitionsgewinne
gründen W erktätige die
kompensiert.
Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Zwei Jahre
1873
1878
doppelt, die tägliche Arbeitszeit sank von teils
Der Erste W eltkrieg
in den Jahren zuvor auch durch die Hochrüstung
1913 U S A . Der A u to m o b il
vieler europäischer Staa ten entstanden ist. Der
produzent Henry Ford
Krieg zerreißt die seit der
eröffnet in M ichigan eine
ersten Hälfte des 19. Jahr
D eutschland. Nach zahl
Fabrik, in der nach den
hunderts geknüpften
losen Streiks verbietet
Vorstellungen Frederick
internationalen Handels und Kapitalbeziehungen.
später wird auch in G ro ß
D eutschland. Die in Ber
Reichskanzler O tto von
Taylors produziert wird:
britannien die Gewerk
lin ansässige Q uistorp’sche
Bismarck m it dem „Sozia
Um möglichst effizient her-
Erst lange nach Ende
schaftsarbeit legalisiert.
Vereinsbank ist zahlungs
listengesetz“ Gewerk
stellen zu können, werden
des Zweiten Weltkriegs
unfähig. Das von einem
schaften und Arbeiterpar
alle Baugruppen bald m it
wird das M aß der jetzt
Immobilienspekulanten
teien, die „sozialistische
hilfe von Fließbändern zu
erreichten weltweiten
USA . Der Am erikaner
1870 gegründete U nter
Bestrebungen“ verfolgen.
den Fertigungsstationen
wirtschaftlichen Verflech
John D. Rockefeller grün
nehmen war darauf spezia
transportiert. W enig später
tung überschritten: 1913
det m it einigen Partnern
lisiert, Aktiengesellschaf
die Standard O il C o m
ten an die Börse zu brin
1870
1883
verdoppelt Ford den M in
lag der A nteil der Exporte
D eutschland. Bismarck
destlohn seiner A rb e iter
am globalen B rutto sozialprodukt bei acht
pany. Durch geheime
gen. In den vergangenen
führt die gesetzliche Kran
und verkürzt deren A r
Absprachen m it anderen
beiden Jahren sind in
kenversicherung für A rb e i
beitszeit - um sie an der
Prozent, 1973 werden
Unternehmern ruiniert
Deutschland insgesamt
ter ein, die erste o b ligato
erwarteten Gewinnsteige
es elf Prozent sein.
GEO EP O C H E K a p ita lis m u s
165
A rb e it, Boden, K a p ita l
G üte r, D ie n stle istu n g e n
Spareinlagen
private Haushalte
Kapitalsammelstellen (z. B. Banken)
Zinsen
siebenjährige Phase stän
mes (gegen den Versailler
dig steigender A ktie n
Vertrag verstoßendes)
preise beendet. A ngeregt
Rüstungsprogramm auf,
durch das rasante Börsen
um die W irtschaft anzu
wachstum. hatten mehr
kurbeln und Deutschland
und m ehr Anleger W ert
kriegsfähig zu machen.
papiere m it Krediten fi
Kredite
Unternehmen Zinsen
Konsumausgaben
nanziert, wobei die A ktien als Sicherheit dienten. Als
Polen. M it dem Überfall
die Kurse absacken, fo r
auf die Halbinsel Wester
dern die Banken geliehe
platte beginnt das NS-
nes G eld zurück. Und
Regime den Zweiten
als nun viele Anleger ihre
Weltkrieg. Während des
A ktien verkaufen, fallen
Krieges werden in fast
die Kurse im mer weiter.
allen Bereichen der deut
A m folgenden 25. O k to
schen W irtschaft aus
ber überschwemmen
weiten Teilen Europas
auch britische und andere
verschleppte Zwangs
vereinfacht in einem Kreislaufm odell darstellen: U nternehm en erschaffen G üter,
europäische Investoren
arbeiter eingesetzt.
die sie den privaten Haushalten gegen G e ld verkaufen (innerer Ring der
in Panik die M ärkte m it
Lohn, G eh a lt, M ie te , R endite
Das hochkom plexe kapitalistische W irtschaftssystem lässt sich stark
G rafik). Für die Produktion der W aren stellen die M enschen den Firm en ihre A rb e its k ra ft zur V erfügung - oder G run d e ig e ntu m und Kapital - und erhalten dafür eine Entlohnung bzw. M ie te und Rendite (äuß erer Ring). D ie Banken
W ertpapieren - und verlieren so große Teile ihres Vermögens.
Kapital, um es etwa, ebenfalls gegen Zinsen, U nternehm en für Investitionen zu leihen (M itte ) - und so aufs Neue die P roduktion anzutreiben
1919
Frankreich. Nachdem
1941
USA. Das m it Deutsch land verbündete Japan greift den amerikanischen
nehmen Einlagen der Bürger gegen Zinsen entgegen und nutzen dieses 1932
USA. Im Sommer endet
Pazifik-Stützpunkt Pearl Harbor an, woraufhin die
die Talfahrt der New Yor
USA in den W eltkrieg
ker Börse. Doch nach wie
eintreten. In den folgen den Jahren vergibt die
zug geraten war. Zum
dert er in seinem Aufsatz
vor leiden fast alle Indus
Ausgleich unter anderem
„Das Ende des laisser-
triestaaten unter einer
Regierung in Washington
für Steuerausfälle aus dem
faire“ , dass die Regierun
durch den Crash mitaus-
zahlreiche - durch Staats anleihen und Steuererhö
Deutschland bereits im
Besatzungsgebiet erhöht
gen bei Krisen die M ärkte
gelösten Wirtschaftskrise:
Jahr zuvor einen W affen
die Reichsbank (die bereits
regulieren. In späteren
der G roßen Depression.
hungen finanzierte - Rüs
stillstand m it seinen G e g
seit 1914 mehr und mehr
A rbeiten prägt er den
M ittlerw eile sind mehr als
tungsaufträge. Durch die
nern im Ersten W eltkrieg
G eldnoten gedruckt hat)
B egriff des deficit spen-
4000 Banken allein in den
erhöhten Staatsausgaben
geschlossen hat, unter
die G eldm enge massiv,
ding: W ährend einer Krise
USA zusammengebro
wird schließlich auch
zeichnen Regierungsver
die Preise steigen rasch.
soll eine Regierung ver
chen, und die verbliebe
die G roße Depression
treter in Versailles einen
Erst m it der Einführung
m ehrt A ufträge an die
nen G eldinstitute stellen
überwunden.
Friedensvertrag, der Berlin
einer neuen W ährung kann
W irtschaft vergeben und
der W irtschaft aus A ngst
unter anderem hohe
im Novem ber die G e ld
sich nötigenfalls dafür
vor Verlusten kaum noch
Reparationen auferlegt.
entwertung gestoppt wer
verschulden. Bei einem
Kredite zur Verfügung.
den. Dennoch hat die
dann unweigerlich einset
Inflation die Sparguthaben
zenden Aufschwung kön
Deutschland. Ende O k to
von M illionen Menschen
ne der Staat die Schul
USA. Angesichts der
ber liegt der Kurs für einen
(und dam it auch deren
den anschließend wieder
Weltwirtschaftskrise fö r
reicht haben. Durch die
Dollar bei 40 Milliarden
Kaufkraft) vernichtet.
abbauen. Keynes wird
dert Präsident Franklin D.
von Deutschland begon
zu einem der einfluss
Roosevelt die W irtschaft.
nenen Kämpfe sind M illio
reichsten W irtschafts
Diese New Deal genannte
nen von Menschen ums
1923
Mark, Anfang Januar wa ren es noch rund 7500
166
1939
1926
1945 D eutschland. Anfang Mai kapituliert die deutsche
1933
Arm ee, nachdem sowjeti sche Truppen Berlin er
Mark. Dieser H yperinfla
Großbritannien. A n g e
wissenschaftler des
Politik belebt allmählich
Leben gekommen. In Eu
tion ist die Besetzung der
sichts vergangener Krisen
20. Jahrhunderts.
die amerikanische
ropa und auf den asiati
Konjunktur.
schen Kriegsschauplätzen
Kohlereviere im Ruhrge
bezweifelt der Ö konom
biet durch französische
John Maynard Keynes die
und belgische Truppen im
These von A dam Smith,
Januar vorangegangen,
1929
D eutschland. Der
sind zahlreiche Städte und
USA. A m 23. und 24. O k
NSDAP-Vorsitzende
Industriebetriebe zerstört.
dass A n g e b o t und Nach
tober stürzen die A ktie n
A d o lf H itler wird zum
weil Berlin m it den Repa
frage sich im mer selbst
kurse an der New Yorker
Reichskanzler ernannt.
globale Krieg beendet ist,
rationszahlungen in Ver
regulieren. Deshalb fo r
Börse ab. D am it ist eine
S ofort legt er ein gehei
bleibt die Rüstungsindus-
USA. O bw ohl der
GEO E P O C H E Kapitalism us
GEDEPOCHE Das Magazin für Geschichte
trie Konjunkturmotor.
verkündet der neue Präsi
Federal Reserve System
2013
Zudem profitiert die US-
dent Ronald Reagan bei
(Fed), der amerikanischen
Wirtschaft nun auch von
seiner Amtseinführung,
Zentralbank. Während
Großbritannien. Das
Staatsaufträgen im Rah
„er ist das Problem“. Damit
seiner bis 2006 dauernden
Parlament reguliert die
men der Wiederaufbau
leitet er eine Epoche der
Amtszeit senkt er wieder
Finanzbranche wieder
hilfe für Europa und
Deregulierung - auch der
holt den Diskontsatz (den
stärker. Neue Gesetze
von einem steigenden
Finanzmärkte - ein, die
Zins, zu dem Banken bei
sollen verhindern, dass die
Konsum im Inland.
von seinen Nachfolgern
der Fed kurzfristig Geld
Steuerzahler - wie wäh
fortgesetzt wird.
leihen können) - allein
rend der Finanzkrise - für
zwischen 2001 und 2003
die Verluste von Banken
von 5,75 auf 0,75 Prozent.
aufkommen müssen.
1946 Deutschland. Der
1984
Ökonom Alfred Müller-
G roßbritannien. Mehr als
So versorgt er die Märkte
In anderen Ländern
Armack fordert, den Kapi
drei Millionen Briten sind
des Landes mit fast unbe
werden die Finanzmärkte
talismus in eine „Soziale
ohne Arbeit. Als nun die
grenzter Liquidität.
Marktwirtschaft“ umzu
Regierung die Schließung
wandeln - so will er für das Nachkriegsdeutschland
unwirtschaftlicher Kohle gruben ankündigt, organi
eine gerechtere W irt
siert der radikale Gewerk
Investmentbank Lehman
schaftsordnung ermögli
schaftsführer Arthur
Brothers ist insolvent. Das
heit materiell so reich -
chen. Der spätere Bundes
Scargill einen gewaltsamen
Unternehmen hatte - wie
vor allem dank der kapita
wirtschaftsminister Ludwig
Arbeitskampf. Als die
andere Investmentbanken
listischen Wirtschaftsweise.
Erhard wird das Schlag
Streikenden nach einem
auch - in der Erwartung
Allein in den vergangenen
wort populär machen.
Jahr aufgeben müssen,
stetig steigender Immobi
50 Jahren ist das globale
hat die Regierungschefin
lienpreise im großen Stil
Bruttosozialprodukt nomi
Margaret Thatcher den
Hypothekenkredite auf
nell um rund 2000 Pro
China. Die Regierung der
Machtkampf mit den Ge
gekauft, sie gebündelt, in
zent auf 13 800 Dollar pro
kommunistischen Volks
werkschaften gewonnen:
spezielle Wertpapiere
Kopf angestiegen. Doch
1980
2008 USA, 15. September. Die
mittlerweile ebenfalls wieder stärker reguliert.
2014 Nie zuvor war die Mensch
republik erklärt einige
Künftig streiken die Briten
umgewandelt und an an
ist der Wohlstand extrem
Städte zu „Sonderwirt
weniger, auch weil sie
dere Banken und Großin
ungleich verteilt: Weniger
schaftszonen“. Dort dürfen
angesichts der hohen
vestoren veräußert. Viele
als ein Prozent der Welt
sich ausländische Unter
Arbeitslosigkeit Angst
Hausbesitzer, die ihre Im
bevölkerung verfügt über
nehmen mit Genehmi
vor dem Verlust ihres
mobilien mit Hypotheken
mehr als 40 Prozent des
gung lokaler Behörden
Jobs haben.
finanziert haben, sind
Weltvermögens. Vor allem
indes nicht solvent: Die
für eine gerechtere Ver
kreditgebenden Banken
teilung des Wohlstands zwischen den westlichen
ansiedeln - um die Staats einnahmen zu erhöhen.
1986
Bald richtet die Regierung
G roßbritannien. „Lasst
haben ihre Bonität nicht
weitere Sonderwirtschafts
uns die Regeln, die den
geprüft, konnten sie doch
Industriestaaten und den
zonen ein. Zudem dürfen
Erfolg bremsen, weg
die Hypotheken samt Risi
ärmeren Ländern bietet
in bestimmten anderen
werfen“, fordert Margaret
ko an Lehman und andere
die kapitalistische W irt
Regionen einheimische
Thatcher und leitet eine
Investmenthäuser verkau
schaftsordnung keine Lö
Unternehmer kleine
Deregulierung ein, die die
fen. Als bald mehr und
sung - obgleich Unterneh
Gewerbebetriebe leiten.
Finanzwirtschaft von vie
mehr Hausbesitzer ihre
men Teile der Produktion
Denn die Staatsbetriebe
len gesetzlichen Beschrän
Kredite nicht bedienen
in diese Staaten verlagert
produzieren stets weniger
kungen befreit. Sie öffnet
können, kollabiert das
haben und dort Rohstoffe
Güter als geplant.
etwa den bislang von nur
Geschäftsmodell mit den
kaufen, herrscht in vielen
wenigen britischen Firmen
Hypothekendarlehen.
Ländern bittere Armut: In
gen in den weitgehend
dominierten Wertpapier
In den folgenden
deregulierten Betrieben
handel internationalen
Wochen kommt es zu
Afrikas haben zahllose
der Zonen sind auch heute
Unternehmen. So steigt
einer weltweiten Finanz-
Menschen nur wenig mehr
noch fast ebenso skanda
London bald neben New
und Wirtschaftskrise:
als einen Dollar täglich,
lös wie in den Fabriken des
York zum bedeutendsten
Überall brechen Banken
um zu überleben. £
18. und 19. Jahrhunderts.
globalen Finanzplatz auf.
zusammen. Doch viele
1981
werden mit Steuergeldern
O la f M i s c h e r ,^ . 1958,
1987
gerettet, weil ihr Konkurs
ist Verifikations
USA. Der Staat sei nicht
USA. Der Ökonom Alan
die nationalen Volkswirt
redakteur im Team von
die Lösung der Probleme,
Greenspan wird Chef des
schaften schädigen würde.
G E O EPO CHE.
Die Arbeitsbedingun
GEO E P O C H E Kapitalism us
Indien etwa und in Teilen
FO TO VERM ERK N A C H S E IT E N Anordnung im Layout: /.=
links, r.= rechts, o.= oben, m.= Mitte, u.= unten
T ITE L: © Disney E D IT O R IA L : Benne Ochs für GEOEPOCHE: 3 o.; Edith Wagner für GEO EPOCHE: 3 u. INHALT: Nachweise bei den jeweiligen Artikeln D IE M A C H T DES PRO FITS: Bridgeman Art Library: 6/7, 10/11, 20/21; Mondadori Portfolio/akg-images: 8/9; Hermann Buresch/bpk: 12/13; Bayerische Staatsgemäldesammlungen/bpk: 14/15; Electa/akg-images: 16/17; © Tate, London 2014:18/19 D IE P IO N IE R E E IN ER N E U E N O R D N U N G : Domingie & Rabatti/akg-images: 22/23, 30 o.; Scala Ar chives: 23 o.; Domingie & Rabatti/INTERFOTO: 25; Alfredo Dagli Orti/bpk: 26; Ministero Beni e Att. Culturali/Scala Archives: 27, 31; Paolo Tosi/ARTOTHEK: 28; The Art Archive: 29; Fitzwilliam Museum/Uni versity of Cambridge/Bridgeman Art Library: 30 m.; su concessione del Ministero dei beni e delle attività culturali e del turismo Archivio di Stato di Prato: 30 u.; Electa/LEEMAGE/dpa Picture-Alliance: 32; Bridge man Art Library: 33, 36, 37; Royal Museums of Fine Arts of Belgium: 35; IBERFOTO/ullstein bild: 38 M IT G E W E H R U N D G O LD W A A G E: CPA Media Co./dpa Picture-Alliance: 40/41, 48/49, 50, 51; images.de/LEEMAGE: 41 o.; IAM/akg-images: 42; Bridgeman A rt Library: 45; René Gerritsen/Amsterdam Museum: 46 o.; akg-images: 46 u.; Blauei/ Gnamm/ARTOTHEK: 52; bpk: 53 G E B U R T EINER N E U E N KLASSE: Science & Society/images.de: 56/57, 64 u. I.; Roger Viollet/Getty Images: 57 o.; IAM/akg-images: 59 o.; The Granger Collection/ullstein bild: 59 u.; Bridgeman Art Library: 60 o. I., u., 70/71; Quint & Lox/akg-images: 60 o. r.; Topical Press Agency/Hulton Archive/Getty Images: 63, 64 o„ 67, 68 u. r., 72 u. I.; National Maritime Mu seum, London/INTERFOTO: 64 u. r.; Heritage Ima ges/Museum of London/ullstein bild: 68 o.; Time Life Pictures/Getty Images: 68 u. I.; bpk: 72 o.; Gamma/ Keystone-France/Getty Images: 72 u. r. RO CKEFELLER: Library of Congress: 74, 78 u., 79, 83, 88; INTERFOTO: 74/75; Hulton-Deutsch Collection/Corbis: 75; Bettmann/Corbis: 77,81,82 o., 84,87 r.; Underwood & Underwood/Corbis: 78 o.; Museum of History and Industry/Corbis: 82 u.; Corbis: 871. D IE GROSSE D EP RESS IO N: Dorothea Lange/Hulton Archive/Getty Images: 90/91; Library of Congress/ Science Photo Library/Agentur Focus: 95; Bridgeman Art Library: 96; Bettmann/Corbis: 99, 100; Popperfoto/Getty Images: 102 G E Z Ä H M T E R K A PITA LISM U S: akg-images: 104; Poehlmann/SZ Photo: 105 DER K A M P F DER K U M PEL: John Sturrock/reportdigital.co.uk: 106/107; Hulton Archive/Getty Images: 108; Sahm Doherty/The LIFE Images Collection/ Getty Images: 109; Chris Nevard/Camera Press/Picture Press: 110 o.; Mike Forster/Associated Newspa pers/Rex Features: 110 u.; Alamy/mauritius images: 112; Tom Stoddart/Getty Images: 113; John Harris/ reportdigital.co.uk: 114 o., 115, 119 o. r.; Peter Arkell/ reportdigital.co.uk: 114 u.; Mary Evans/Marx Memorial Library/INTERFOTO: 116 o.; dpa Picture-Alliance: 116 u., 117; SSPL/Manchester Daily Express/Getty Images: 119 o. I.; Rex Features: 119 u.; Johnny Eggitt/ AFP/Getty Images: 120 I.; Steve Eason/Hulton Ar chive/Getty Images: 120 r. DAS C O N T A IN E R -P R IN Z IP : look-foto: 123; Andrew Biraj/Reuters/Corbis: 124; Friedrich Stark/Demotix/ Corbis: 125 IM ZEITALTER DER G IER: National Geographie Image Collection/Alamy: 126/127; Ashley Gilbertson/ VII: 128; Cosmo Condina stock market/Alamy: 129; © 2014 TIME INC.: 130 (5), 134 (4), 143 (S), 146/147 (6), 150 (4), 158; Xinhua/eyevine: 132/133; Marcus Bleasdale/VII: 136,144,145; Brendan McDermid/Reuters: 148; Shen Hong/Xinhua/imago: 149; Mark Randall/ Polaris/Iaif: 152; Ashley Gilbertson/Vll: 154 (3); Kelly Shimoda/Redux/Redux/laif: 155; Antonin Kratochvil/ VII: 157 G E S C H IC H T E EINER W IR T S C H A FTS O R D N U N G : bpk: 160,163; dpa Picture-Alliance: 161 o.; Bridgeman A rt Library: 161 u.; Print Collector/Hulton Archive/ Getty Images: 162 o.; Prisma/UIG/Getty Images: 162 u.; ullstein bild: 164; Kurt Huhle/SZ Photo: 165 V O R S C H A U : akg-images: 172 (Torso); Thomas Bachmann mit freundlicher Genehmigung des Dom kapitels Aachen: 172 (Kopf) K A RTEN: Thomas Wächter für GEO EPOCHE: 27,54 Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen Verlag und Redaktion keine Haftung. © GEO 2014 Verlag Grüner + Jahr, Hamburg, für sämtliche Beiträge.
DIE WELT VON GEO N e u e s aus d e n R e d a k t i o n e n
D ie eM agazines für iPad und A ndro id-T ablets sind im A p p Store von A p p le beziehungs weise bei G o o g le play erhältlich. D ie je tz t neu digitalisierten Einzelausgaben »Preußen«, »Kaiser - R itter - Hanse. D e utschland im M itte la lte r« und »D ie W eim arer Republik« kosten je 9,99 Euro
GEO EPOCHE Digital Die neuen A u sg a b e n von G E O
EPOCHE s i n d
j e t z t i m m e r a u c h als e M a g a z i n e e r h ä l t l i c h
eit diesem Sommer gibt es GEOEPO CH E auch digital kompendien für eBook-Reader und Smartphones, die auch als eM agazine, grafisch neu aufbereitet für iPadohne Bilder faszinierende Panoramen entscheidender Zeit und Android-Tablets. Die elektronische Version von abschnitte entstehen lassen. Das jüngste dieser eBooks erzählt G E O E P O C H E ist inhaltlich identisch mit dem gedruckten zum 25. Jahrestag der Grenzöffnung im November 1989 die Heft - als Bonus aber können Sie sich viele Beiträge auch Geschichte der Berliner Mauer. vorlesen lassen. Nach und nach werden darüber hinaus ältere Andere Bücher - die jeweils unterschiedliche Längen Hefte digitalisiert. Bereits herausgekommen sind „Der W ilde und Preise haben - versammeln Artikel über den W eg Euro W esten“, „Die Germanen“, „Der D reißigjährige Krieg“, pas in den Ersten W eltkrieg 1914, über wichtige historische „Der Erste W eltkrieg“ sowie „Israel“ (dieses eMagazine kann Phänomene wie etwa die Entdecker oder über die großen kostenlos heruntergeladen werden). Inzwischen stehen w ei Katastrophen der Menschheitsgeschichte. Die Reihe wird mit terhin die Ausgaben über „Preußen“, „Deutschland im M ittel weiteren Titeln fortgesetzt. £ alter“ und die „Weimarer Republik“ zum Download bereit. Erhältlich sind die eM agazines als Einzelausgaben in der GEOEPOCZ/E-Kiosk-App (die Sie gratis im App Store von Apple oder bei Google play bekommen) sowie in unterschied lichen Abonnements auch im GEO-Shop. Näheres zu den D i g i t a l l es en Abo-Modellen erfahren Sie unterwww.geo-epoche.de/digital. Zudem sind mittlerweile bereits sechs GEOEPOCH EG E O fP O C H E -eB o o ks eBooks im Handel erhältlich: neu zusammengestellte Leseerz ä h le n W e n d e p u n k t e
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Die Redaktion von G E O E P O C H E erreichen Sie in der digitalen W elt über den neuen Facebook-Account und wie gewohnt über den Briefkasten der W ebsite www.geo-epoche.de
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d e r W e lt g e s c h ic h t e .
D ie G E O E P O C H E -
J e t z t neu: das Buch
eBooks sind in allen
ü b e r ein m on strö se s
w ich tig e n digitale n Bookstores erhältlich.
Ba uwerk - die
»D ie Berliner M auer«
B e rlin e r M a u e r
kostet 1,49 Euro.
GEO EPOCHE Kapitalismus
Um seelisch robuster zu werden, helfen bereits kleine Fluchten im A llta g - etwa regelm äßige S treifzüge durch die N atur
Strategien gegen Burnout W ie wir uns g e g e n Ü b e r f o r d e r u n g im J o b sch ütz e n, was bei s tä n d ig e r H e k t ik w irk lic h h il f t und wie wir unsere Psyche stärken
eit den 1980er Jahren wandelt sich die Arbeitswelt fundamental: Fabriken und Firmen konkurrieren nicht mehr nur regional oder national, sondern zunehmend auch international. Um im Wettbewerb mit anderen zu bestehen, müssen sich Betriebe immer konsequenter der Logik des Kapitalismus unterwerfen; der „Steigerungslogik“, wie Wissenschaftler sagen. Was eben noch genügte, ist morgen schon nicht mehr genug. Einmal erreichte Positionen müssen rasch wieder infrage gestellt werden. Immer bessere Quartals zahlen, Umfragewerte, Produktionsmengen: Diese Erwartung lastet nicht nur auf Führungskräften. Jeder einzelne Arbeit nehmer spürt inzwischen den Druck, außergewöhnliche Leis tungen zu vollbringen, sie sichtbar zu machen und stets neue, weitere Fähigkeiten einzubringen. Immer mehr Beschäftigte fühlen sich den Anforderun gen der modernen Arbeitswelt kaum mehr gewachsen, sie sind
GEO EPOCHE Kapitalismus
gestresst, ausgelaugt, leben in Zeitnot. Die Zahl psychischer Leiden nimmt dramatisch zu - vom Schichtarbeiter bis zum Manager. Vor allem das Gefühl des „Ausgebranntseins“ - neu deutsch ein „Burnout“ - erfasst jedes Jahr mehr Menschen. In seiner neuen Ausgabe erklärt GEOkompakt, was sich hinter dieser Diagnose verbirgt, weshalb der Takt des Lebens immer schneller wird, warum permanenter psychischer Druck die Gesundheit gefährdet und wieso mittlerweile sogar M in derjährige an Erschöpfung erkranken. Darüber hinaus beschrei ben Autoren, welche W ege es aus dem Stress gibt, worin das Geheimnis einer stabilen Psyche liegt - und weshalb der Ver lust der Arbeit ebenso fatale Folgen für das Seelenwohl haben kann wie der Dauerstress. W arum wir so erschöpft sind und was wir dagegen tun können: in der neuen Ausgabe von GEOkompakt. ^ G E O k o m p a k t „W ege aus dem Stress“ hat 156 Seiten und kostet 9 Euro (m it D V D „A u sgebrannt. Das P hänom en B u rno ut“ 16,50 Euro). Einige T he m en : Psyche - W ie Stress dem Körper schadet
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B eschleunigung - W eshalb ist unser
Leben so hektisch? / m en der Schw erm ut der inneren K ra ft
/
Depression - D ie M echanis /
Resilienz - Das G eheim nis B u rnout bei Juge ndlichen -
M a c h t Schule krank? / S chlafstörungen - Was h ilft, wenn je d e N a c h t zur Q u a l wird?
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Die R o m a n tik GEO EPOCHE ED ITIO N f e i e r t das Z e ita lte r d er S e h n su ch t
hre Ideale sind D ich tu n g und F antasie, n ich t V ernunft und Fortschritt: A n der W ende zum 19. Jahrhundert rebelliert ein Kreis junger deutscher Denker und Lyriker gegen die A llm acht der Aufklärung - und inspiriert so eine neue Malerei. Anders als die vorherrschenden Klassizisten eifern sie nicht länger der A n tike nach m it ihren zeitlosen Prinzi pien von Schönheit und W ohlgestalt. D ie R om antiker, w ie man sie bald nennt, machen ihre eigenen G efühle zum höchsten Maßstab der Kunst. So erschaffen G enies w ie Caspar D avid Friedrich, Philipp O tto R unge und Eugène Delacroix Werke voller Poesie und revolutionärer Seelentiefe. A
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G EO EPO CH E
E D IT IO N
»Die Kunst der Romantik. Europas Maler im Zeitalter der Sehnsucht, 1790-1860« hat 132 Seiten, kostet 16,50 Euro und ist ab dem 15. O ktober 2014 im Handel erhältlich
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Silbern schimmert die Elbe: Johan Christian Clausen Dahl malt 1839 diesen »Blick auf Dresden bei Vollmondschein«
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G E O Special z e le b rie rt in seiner neuen A u sg a b e Hawaii - ohne k itsch ig zu w erden
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pätestens seit Elvis Presley 1961 mit der Ukulele in der Hand von „Blue Hawaii“ schwärmte, prägt die Insel kette im Pazifik unsere Vorstellung vom Paradies: Pal menhaine, die türkisfarbene Buchten säumen; Wasserfälle, die Gischt sprühend in grüne Canyons donnern; Hula-Tänzerin nen mit Orchideen im Haar. Und tatsächlich findet man wohl nirgends auf der Welt eine so vielfältige und überwältigende Natur auf so kleinem Raum. Florian Hanig, Redakteur der Ausgabe, der mit seiner Familie sechs Monate auf Maui lebte, konnte von seinem Bungalow aus in anderthalb Stunden fünf Klimazonen erforschen: darunter dichten Regenwald, Vulkan gipfel über 3000 Meter, Wüstengebiete. Und natürlich einige der schönsten Strände des Pazifiks. Das neue GEO Special feiert diese Naturschönheit, vermeidet dabei aber jeden Weichzeichner: Kristiana Kahakauwila, eine der spannendsten neuen US-amerikanischen Autorinnen, schildert etwa das nicht immer sorgenfreie Leben der Einheimischen. Und auch der Konflikt, der in Honolulus Chinatown zwischen asiati schen Traditionalisten und Kiez-Kreativen herrscht, wird im Heft beschrieben. Denn dieser Streit hat die Altstadt gleich sam wachgerüttelt - und zur perfekten Adresse für all dieje nigen gemacht, die die Nacht durchtanzen möchten. Um dann mit den ersten Sonnenstrahlen vor Waikiki Wellenreiten zu gehen. Hawaii authentisch - ganz ohne Kitsch. ^
Dr. Mathias Mesenhöller, Martin
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D ie D auerbre nner -
Hawaiis Vulkane im m e r neue Erkenntnisse über
unsere Erde liefern / Hula le b t - Ü b er den Tanz, der so viel m ehr ist als eine T ou riste n a ttra ktio n
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GEO EPO CH E Kapitalismus
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Vorschau
KARL der Große und das
REICH der Deutschen
Er bereitet dem späteren Deutschland den Weg: Karl der ßroße lässt sich im Jahr 8 0 0 zum römischen Kaiser erheben. Einige Generationen später folgt ihm der Sachse Otto I. in diesem Amt nachH und begründet jenes Imperium, aus dem schließlich das »Heilige Römische Reich deutscher Nation« erwächst ,
Die nächste Ausgabe von G E O E P O C H E erscheint am
17.
Dezember
2014
m 25. D ezem ber des Jah res 800 krönt Papst Leo III. den F ra n k e n k ö n ig Karl in Rom zum Kaiser. D er H eilige V ater erh e b t d am it d en H errscher, den die M enschen schon b ald „d en G roßen" n e n n e n w erd en , ü b er alle M onarchen des A bendlandes u n d erklärt ihn zum N achfolger der an tik en C äsaren u n d S chutzherrn der w estlichen C hristenheit. Karl ist e in e r d e r m ä c h tig ste n F ü rsten se in er Zeit: Sein Im p eriu m reic h t vom h e u tig e n S chlesw ig bis n ac h Rom, vom sp an isch en P am plona bis an die D onau. Doch es ü b erd a u ert sei n en ersten K aiser nicht lange. N ach Karls Tod, der sich 2014 zum 1200. M al jährt, zerfällt das Reich rasch in drei Teile. A b er d ie Idee, d ie m it d e r K aiserk rö n u n g Karls G estalt a n g e n o m m e n hat, v erliert n ich ts von ih re r S trahlkraft: Es ist die m äch tig e Vision ein es christlichen Im perium s u n te r d er O b h u t eines H errschers von G ottes G naden, d er Rom, die römische K irche u n d all ihre G läu b ig en beschützt. 962 nim m t sie ein Sachse w ieder auf: Otto I., König in jenem Teil von Karls früherem Reich, aus dem einm al D eutschland e n t steh en wird, lässt sich w ie sein großes Vorbild in Rom zum Kaiser krönen. U nd er errich tet ein n eu es Im perium . Otto herrscht ü ber die Stäm m e d e r S achsen, F ran k en , S chw aben, T h ü rin g er und B ayern sow ie ü b e r B öhm en u n d M äh ren , ero b e rt große Teile Italiens u n d v erein t all diese R egionen zu einem Vielvölkerreich, das sich in seinem Todesjahr 973 von d er N ordsee bis südlich von Rom erstreck t. F ür die k o m m en d en ach t Ja h rh u n d e rte w erd en seine Nachfolger als röm isch-deutsche Könige und Kaiser im Z en trum E uropas regieren. Als H errscher ü b er das „H eilige Römische Reich deutscher N ation" - w ie das von Otto b eg rü n d ete Im perium später genannt w ird - ste h e n sie an d er S pitze ein es ex trem u n g ew öh n lich en politischen G ebildes. Seine w eltlichen u n d geistlichen F ü rsten tüm er, G rafschaften, R ittergüter, Klöster u n d S täd te sind allein durch die Treue zum Kaiser und den G lauben an dessen heiligen A uftrag v erb u n d e n , sonst a b e r eig en stän d ig . Das Reich k en n t keine m ächtige Zentralgew alt. W eder h at es eine H auptstadt wie d as K önigreich E n g la n d n o ch ein ste h e n d e s H eer, w ie es im m ittelalterlichen Europa zuerst Frankreich einführt, es kennt auch k ein e reich su m sp an n en d e Bürokratie. Dennoch übersteht es Pestepidem ien, G laubensspaltung und die V erheerungen des D reißigjährigen Krieges. Erst als mit Brand en b u rg -P reu ß e n u n d Ö sterreich ab 1740 zw ei G roßm ächte in m ehreren Kriegen um die O berhoheit in dem uralten Bund ringen u n d im Reich der D eutschen kaum noch jem and die Tradition des K aisertum s w ichtig nimmt, b eg in n t das Im perium zu zerbrechen. In se in er n ä c h ste n A u sg ab e erzäh lt GEO EPOCHE die G e schichte des H eilig en Röm ischen Reichs d eu tsch e r N ation von seinen A nfängen im frühen M ittelalter bis zu seinem Ende in den n ap o leo n isch en K riegen. B erichtet von F ürstenversam m lungen u n d F eld z ü g en , von R ittern u n d vom A llta g sle b en in Z eiten d er R eform ation. U nd b e s c h re ib t sch ließ lich d en U n terg a n g des Reichs im Ja h r 1806 - fast g e n a u ein Ja h rta u se n d nach der K rönung Karls des G roßen zum Kaiser.
A
Um 973 erstreckt sich das H eilige Röm ische Reich deutscher Nation, das aus dem O sten von Karls Im perium entsteht, von der N ordsee bis nach Italien. Es wird bis 1806 existieren
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