KLEINE JUGEND REIHE SERGEI DIKOWSKI DAS ENDE DER „SAGO-MARU“ VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1 952 4. Jahrgang, Heft 1/1953 Russischer Originalti...
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KLEINE JUGEND REIHE
SERGEI DIKOWSKI
DAS ENDE DER „SAGO-MARU“
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1 952
4. Jahrgang, Heft 1/1953 Russischer Originaltitel Koнeц „Caгo-Mapy“ Deutsch von Margarete Spady (Die Erzählung wurde dem Sammelband „Beri-Beri“ von S. Dikowski, erschienen im Gustav-Kiepenheuer-Verlag GmbH , entnommen) Copyright 1952 by Verlag Kultur und Fortschritt GmbH , Berlin Printed in Germany • Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr 3 Einband und Textillustrationen ham Satz und Druck (III/9/1) Sächsische Zeitung, Verlag und Druckerei, Dresden N 23 852 9807 285/29/53
Ich will euch diese Geschichte erzählen, aber nur unter einer Bedingung: sucht in Leningrad unseren Maschinisten Satschkow auf. Das ist nicht schwer zu bewerkstelligen, auch ohne Adreßbuch. Er wohnt im Hause Nr. 6, an der Jelaginbrücke. Wenn ihr euch seine Kennzeichen merkt, erkennt ihr den Burschen auch unrasiert. An Wuchs ist er – gemessen zum Beispiel an mir – einen Kopf kleiner. Augen durchschnittlich, Haare auch. Die Brust stark behaart, an der Schulter, nach altem Seemannsbrauch, ein Anker eintätowiert. Im Orchester spielt er die erste Laute, auf dem Fußballplatz ist er immer der linke Flügelmann. Wenn ihr ihn gefunden habt, richtet ihm sofort aus, daß die „Sago-Maru“ nicht einmal mehr bei Ebbe zu sehen ist. Im vorigen Jahr ragte noch das Heck aus dem Wasser, vor einem Monat aber, als wir das Kap Burunny passierten, saßen nur noch Möwen auf der Sandbank. So ist das immer in diesen Gegenden: was das Meer nicht frißt, verschlingt der Sand. 1934 waren wir zusammen auf dem Kutter „Smely“, Satschkow als Maschinist, ich als Steuermann. Ein feines Schiffchen war das: kurz, breitbordig, wie eine Walnußschale, und vom Top bis zur Wasserlinie hellgrün gestrichen, wie sich das für ein Fahrzeug der Küstenwache ziemt. Es war lustig anzusehen – versteht sich vom Ufer aus – , wenn das Meer mit dem Kutter Fangball spielte, die „Smely“ aber, unbeirrt von einer Seite zur anderen schwankend und spuckend, die überkommende See von sich abschüttelte. Mehr als einmal haben wir auf ihr Kamtschatkas Küsten umfahren und kannten dort jeden Stein von Oljutorka bis Lopatka. Wenn man ehrlich sein will, fristete die „Smely“ ihre letzten Jahre bei der Küstenwache. Sie war fest und seetüchtig genug, um sich
bei jedem Wetter aufs Meer hinauswagen zu können, doch zu langsam bei einem Zusammentreffen mit dem Gegner. Dort, wo der Erfolg eines Unternehmens lediglich von der Schnelligkeit abhing, war mit der „Smely“ nicht zu rechnen. So dachten alle, außer Satschkow. Das war ja auch verständlich. Im Maschinenraum sitzend, wirst du niemals sehen, was sich oben tut. Außerdem war Satschkow auch noch eigensinnig und leicht zu kränken. Man brauchte bloß während des Mittagessens zu erwähnen, daß die „Sobol“ oder die „Kishutsch“ schneller seien als die „Smely“, und schon verfinsterte sich die Miene unseres Maschinisten, und er legte den Löffel weg. „Lernen Sie erst mal, einen Primuskocher von einem Diesel zu unterscheiden“, wies er den Angreifer zurück, „und dann setzen Sie sich auf die ,Sobol‘ und versuchen Sie, mich zu überholen.“ Er vertrug keine Widerrede, und alles, was über den alten Motor gesagt wurde, nahm er persönlich. „Es gibt keinen Kutter auf dem Meer außer der ,Smely’ – und Satschkow ist sein Maschinist.“ So stichelten überall die Witzbolde. Dieser hagere, spitznasige Bursche hatte noch eine Schwäche: er liebte die Mathematik. Eine Berechnung aufzustellen, wann ein Zug eine Schnecke einholt oder in wieviel Minuten man ein Faß ohne Boden füllen kann, war für ihn eine Kleinigkeit. Ich habe selbst gesehen, wie Satschkow, mit dem Urlaubsschein in der Tasche, in den Stadtpark hinausmarschierte, sich dort ins Gras legte und Mathematikaufgaben wie Zedernnüsse knackte. Dabei lächelte er, schnalzte mit der Zunge, als hätte er wirklich etwas Gescheites vor. Es kam so weit, daß Satschkow auch nachts im Bett mit der Taschenlampe unter der Decke seine Aufgaben aus-
rechnete. Einmal brachte er das Bild eines bärtigen Griechen mit leeren Augen an und hängte es neben das Foto des Narkom in die Messe. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß doch der unbekannte Greis keine Gesellschaft für unseren Narkom sei, winkte er ab und sagte: „Spielen Sie doch nicht den Dummen, Oleitschuk. Wollen Sie vielleicht behaupten, daß Sie Pythagoras noch nicht gesehen haben…?“ Wir wußten damals noch nicht, daß sich Satschkow für das Studium vorbereitete, und konnten uns nicht genug über die Eigenheiten des Maschinisten wundern. Satschkows mathematische Erfolge hatten leider keinerlei Beziehungen zur Schnelligkeit des Kutters. Damals bewachten wir die Dreimeilenzone an der Westküste von Kamtschatka, für welche das Fischerei-Raubgesindel eine besondere Vorliebe hatte. Das Meer dort ist wenig ansprechend und trüb, hat aber einen Fischreichtum aufzuweisen, wie sonst nirgends auf der Welt. Hier gab es Streifenwale, metergroße Krabben, Pottwale mit Fischschwänzen und Nilpferdrachen, Schollen von der Größe eines Wagenrades, Heringe so fett, daß sie an der Sonne zerflossen, gefleckte Mintai, dickbauchigen Kabeljau, kleine Stinte, die an der Luft wie Gurken rochen, Seeigel, Seeteufel, Tintenfische, Kraken mit Vogelschnäbeln, brüllende Seelöwen auf den Felsen am Kap Schipunsky, Biber, Seebären, Seehunde – mit einem Wort alles, was nur im Salzwasser atmen, tauchen und schwimmen kann. Ich habe den roten Fisch nicht genannt und seine Verwandten: die Keta, den Buckellachs und die Tschawytscha. Doch der Lachs ist ein Kapitel für sich… Dieser Fisch laicht nur einmal in seinem Leben, und das unbe-
dingt in dem Fluß, in dem schon seine Vorfahren gelaicht haben. Jedes Jahr, ab Mitte Juli, ziehen die Lachse in ungeheuren Schwärmen nach dem Süßwasser. Ist der Fluß seicht geworden, kriechen sie, versperren Äste oder Steine den Weg – springen sie. Zu dieser Zeit kennt Kamtschatka keine Ruhe. Alles, was einen Kabeljau von einem Keta unterscheiden kann, zieht Gummistiefel an und steigt ins Wasser, dem Lachs entgegen. Seehunde tauchen in den Flußmündungen auf, abgemagerte Bären ziehen zu den Bächen; vom Geruch frischer Jukola1 angelockt, heulen die Ziehhunde und reißen an den Strängen. Nachts brennen an den Küsten und im Meer Lichter. Der Fisch zerreißt die Netze. Das Wasser in den Flüssen kocht. Fänger, Einsalzer, Schlächter und Kuribane gehen fröhlich, wenn auch müde, naß und über und über voller Fischschuppen, umher. Auch die Räuber rühren sich. Je mehr Fisch es gibt, desto weiter reißen sie ihre Rachen auf. Die „Eisernen Chinesen“ in den Konservenfabriken kauen Tag und Nacht Lachse, die japanischen Saisonarbeiter auf den Pachtgebieten kommen nicht aus dem Wasser heraus, die abgefeimten Sindos legen Netze mit doppelten Abzweigungen aus. Aber auch das genügt noch nicht. Die Herren aus Hokkaido schicken eine mit Netzen und Fischereiausrüstungen versehene Moskitoflotte nach Kamtschatka. Unbeholfene, aber seetüchtige Kawassakis, geräumige Seiner, schnellaufende Schoner, altertümliche Fahrzeuge mit geschnitztem Bugspriet, Hunderte gefräßiger Räuber sammeln sich hier wie Fliegen in der Küche. Die kleinsten kommen von den Kurileninseln her, ohne Kompaß, ohne Karten, lediglich mit einem Sack ungereinigten Reis und einem Faß fauligen Rettich; fahren auf Riffe
auf, zahlen Strafe und versuchen dennoch zu stehlen. Ihre Taktik ist feige und unverschämt zugleich. Wenn das Küstenwachboot in der Nähe ist, bleiben die Räuber außerhalb der Dreimeilenzone; hier warten sie, flicken ihre Netze, stricken Unterjacken oder spazieren auf Deck umher und tun, als könnten sie sich nicht sattsehen an den Kamtschatkavulkanen. Man braucht sich bloß umzuwenden, und schon strebt die ganze Bande der Küste zu und greift mit einer unglaublichen Geschicklichkeit den Fisch an den Kiemen. Viele der Räuber waren uns schon mehr als gut bekannt. Ein jeder aus unserem Kommando konnte bequem auf drei Meilen Entfernung die Kawassaki M.G.-43“ erkennen oder den zweimotorigen Kutter „Chajan“, der ständig eine ganze Flottille Boote nach sich zog. Besonders viel böses Blut hat uns der Schoner „Sago-Maru“ gemacht. Das war ein Fahrzeug, so an die siebzig Tonnen, mit kräftigem Rumpf und soliden Aufbauten. Bei frischem Wind machte es bequem seine zehn Meilen – also genau so viel, um gerade noch zur rechten Zeit in die gefahrlose Zone zu kommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die „Sago-Maru“ ihren Stützpunkt ganz in der Nähe auf der Insel Schimuschu, denn sie erschien mit einer verblüffenden Regelmäßigkeit immer am Kap Burunny, wo sich eine japanische Konservenfabrik befindet. Eine von einem Fluß angeschwemmte Sandbank und das Kap Burunny bilden hier eine nicht sehr tiefe Bucht, in der es ständig von Fischen wimmelt. Es ist schwer zu sagen, was den Fisch in dieses trübe Wasser lockt; jedenfalls gleicht die Bucht im Juli einer Tonne mit Salzheringen. Der Fisch kommt zur Flutzeit über die Sandbank weg in
die Bucht herein und sitzt dann bei Ebbe wie in einem Sack drin. Einen Ausweg suchend, strebt er am Kap Burunny entlang, dem schmalen Durchgang zu. Und hier stößt er auf die Netze. Die Fischer, die hier dem Kabeljau und dem Lachs nachstellen, riskieren nicht weniger als der Fisch. Der Schoner mit einem Tiefgang von sieben Fuß kann die Bucht auch nur durch die Zufahrt längs dem Kap Burunny verlassen. Aber auch dieser Umstand schien unsere Bekannten nicht im geringsten zu stören. Der Bootsmann der „Sago-Maru“ hatte eine vorzügliche Nase. Kaum daß die „Smely“ in einem Umkreis von fünf Meilen auftauchte, nahm der Schoner die Netze an Bord und lief hinaus in die gefahrenfreie Zone. In diesem Jahre kommandierte Koloskow die „Smely“. Das war ein Fischer aus Kertsch, verständig, ziemlich schlau, mit einem dicken, kräftigen Hals und riesigen, roten Händen, die aus jedem beliebigen Matrosenkittel immer noch um eine gute Spanne herausragten. Koloskow verfolgte die „Sago-Maru“ mit kalter Hartnäckigkeit und ließ sich niemals durch den Ausgang einer solchen Jagd erschüttern. „Weiter als ins Meer hinaus entkommt sie nicht“, versicherte er sich selber und nahm Kurs zurück. „Der Kabeljau entkommt der Angel nicht.“ Durch den Scherz aber spürte man den Ärger: Es ist nicht leicht für einen Grenzer, zuschauen zu müssen, wie die sowjetischen Gewässer bestohlen werden. Den ganzen Mai über hielten wir uns an der Ostküste Kamtschatkas auf. Wir haben dort den Schoner der Firma „Nigiro“ aufgebracht und zwei Kungassen voll Heringe. Im Juni wurden wir aus dem Stillen Ozean in das Ochotskische Meer kommandiert, und schon hatte das Glück unsere Besatzung wieder verlassen.
Die „Sago-Maru“ plünderte weiter die Küstengewässer. Manchmal gelang es uns, näher als auf drei Meilen an den Schoner heranzukommen, und trotzdem entwischte er uns, nicht ohne vorher die auf den Grund geworfenen Netze mit einem Fäßchen oder einer Matte zu markieren. Einmal zogen wir ein Stellnetz mit Kabeljau heraus, das hatte eine Länge von fast einem halben Kilometer; ein andermal war es ein abgesacktes Netz, in welchem nicht weniger als fünfhundert Zentner Keta und Buckellachs erstickt waren. Aber diese Trophäen waren recht bescheiden, gemessen an der immer größer werdenden Unverschämtheit der „Sago-Maru“. Sie ließ uns schließlich so nahe an sich heran, daß wir die Gesichter der Besatzung deutlich erkennen konnten. Bei einer solchen Gelegenheit hielt uns der Bootsmann vom Heck aus ein Tauende hin. Einmal jagten wir einen Warnungsschuß in die Luft. Auf dem Schoner rannten sie durcheinander und verlangsamten sogar den Gang, doch bald klopfte der Motor mit verdoppelter Munterkeit. Offensichtlich war es dem Bootsmann gelungen, den Maschinisten davon zu überzeugen, daß das Küstenwachboot niemals auf ein wehrloses Schiff schießen würde. Lange staunten wir über den Spürsinn des Bootsmanns, bis wir endlich der Verbindung der „Sago-Maru“ mit der japanischen Konservenfabrik auf die Spur kamen. Durch das Vorgebirge vom Meer getrennt, konnten die Räuber nicht einmal der Mastspitzen unseres Kutters gewahr werden. Dafür aber waren von der Konservenfabrik aus Meer und Küste weithin zu übersehen. Jedesmal, wenn wir im Blickfeld erschienen, wurde ein gestreifter, die Windrichtung anzeigender Kegel an dem
am Kontor stehenden Signalmast hochgezogen. Unmittelbar nach diesem harmlosen Signal schoß unser vertrauter Freund wie ein Pfeil hinter dem Kap hervor. Den ganzen Juni hindurch jagten wir der „Sago-Maru“ nach, lauerten ihr hinter dem Vogelfelsen auf, versuchten, uns ihr im Nebel zu nähern, doch immer war es erfolglos… Waren wir endlich am Fangplatz, schaukelte der Schoner bereits außerhalb der Dreimeilenzone. Schließlich waren uns die feixende Fratze des Bootsmannes und die gelben Joppen der Besatzung so auf die Nerven gegangen, daß viele unserer Matrosen sie auch schon im Schlaf vor sich sahen. Im Juli, am Vorabend des Lachszuges, wurde unser Kutter zur Motorüberholung auf Dock gelegt. Das war eine langweilige Zeit. Die „Smely“ stand auf Walzen, ohne Schraube, hohlklingend wie ein Faß, und wir kratzten von ihrem Kiel die Muscheln herunter. Zufrieden war nur Satschkow. Er kam erst spät in der Nacht in die Messe, schwarzverschmiert und voll Öl, wusch sich, peinlich bemüht, nicht mit dem Waschtisch zu klappern, und verschwand, kaum daß der Morgen graute, wieder in der Werkstatt. Nachdem er den Motor neu montiert hatte, ließ er ihn lange auf dem Ständer laufen, horchte ihn mit einem selbstverfertigten Stethoskop ab und verkündete endlich: „Der reinste Sammet…! Schnurrt wie ein Kater…! Geht auf Zehenspitzen!“ Einer von uns antwortete höchst verständig: „Mag der Kater auf Zehenspitzen laufen! Wichtig ist nur, wie er zieht.“ „Schafskopf! – So einer schafft’s, und wenn’s zum Nordpol sein sollte!“ … Nachts verließen wir die Bucht. Es war so still, daß
das Meer eingefroren zu sein schien. Die Luft war frisch und kräftig, der Motor atmete in vollen Zügen, und wir sausten dahin, wirklich wie übers Eis. Kaum war der Leuchtturm außer Sicht, als mich Satschkow auch schon in den Maschinenraum rief. Unser Maschinist glänzte von den Zähnen bis zu den Schuhspitzen wie frischgeputztes Messing. Er war rasiert, hatte ein frisches Unterhemd und einen frischen Kittel an; der ganze Kerl roch dermaßen nach Kölnischwasser, daß es einem in den Augen zwickte. Mit einer Bewegung wie ein Tausendkünstler füllte er einen Becher mit Wasser und stellte ihn auf die Motorhaube. „Der reinste ,Packard’, nicht wahr?“ fragte er eifersüchtig.
Das Wasser zitterte nicht. Nach Ansicht des Maschinisten war dies ein sicheres Zeichen für die tadellose Kupplung von Motor und Welle. Ich lobte das Maschinchen. Satschkow strahlte. „Ich denke, wir können die Schleppertrosse bereitlegen“, sagte er, wie eine Glucke mit ih-
ren Küken mit seinem Motor liebäugelnd. „Vergiß nicht, mich zu rufen, wenn wir an die ,Sago-Maru’ rankommen. Ich muß doch sehen, wie sich der Maschinist drüben ins Zeug legen wird.“ „Wenn aber…“ „Dann werde ich noch fünf Umdrehungen zulegen“, antwortete er mit Nachdruck. Als der Tag graute, sahen wir den kleinen hölzernen Leuchtturm von Kap Lopatka, den alle Seefahrer im Fernen Osten kennen. Dieser Leuchtturm stand an der äußersten Spitze Kamtschatkas zwischen dem Stillen Ozean und dem Ochotskischen Meer; bei Nebel warnte er die Schiffe durch Glockenzeichen. Diesmal schwieg der Leuchtturm. Der Horizont war klar. Eine leichte, von Land kommende Brise kräuselte kaum merklich die See. Der morgendlichen Ruhe sich freuend, sprangen fliegende Fische aus dem Wasser hoch, beschrieben einen steilen Bogen und verschwanden, eine leuchtende Spur hinterlassend, wieder in der Tiefe. Von Zeit zu Zeit schoß ein erschrockener Papageientaucher, mit den kurzen Flügeln wie mit einer Schere klappernd, dicht unter unserem Bug hervor. Wir näherten uns dem Kap Burunny. Obwohl wir uns dicht an der Küste hielten, hatte man uns doch bemerkt. Ein Japaner rannte zu dem bewußten Mast und zog den Windkegel hoch. Die „Sago-Maru“ war nicht zu sehen. In voller Fahrt sausten wir um das Kap herum und wären um ein Haar mit einer japanischen Kungasse zusammengeprallt, die gerade im Begriff war, die Fabrik anzulaufen. Riesige, halbnackte Burschen in bunten Tüchern und Jacken aus blauem Daba sprangen auf und erhoben ein
Mordsgeschrei. Die „Sago-Maru“ stand nicht weiter als fünf Kabellängen von uns entfernt. Sogar ohne Fernrohr konnte man die Berge von Fischen an Deck und ein auf das Spill gewundenes Stück Netz sehen. Allem Anschein nach hatte die Ankerwinde versagt, denn vier Matrosen zogen, sich ständig nach uns umschauend, den Anker mit den Händen hoch. Zwei mittelgroße Issabunäs, bis zu den Dollen voll Fisch geladen, strebten der „Sago-Maru“ zu. Der Bootsmann rannte auf Deck hin und her und schrie die Ruderer an. Die Fänger aber brauchten gar keine Ermunterung: mit kurzen kehligen Rufen warfen sie sich alle zugleich zurück, die Ruder bogen sich und rissen förmlich das Wasser auseinander. An Deck der „Smely“ waren wir zu dritt: Koloskow am Steuerrad und neben ihm ein im ersten Dienstjahr stehender Matrose, der dickliche, pflichttreue Wolgabursche Kossizyn. Ich stand, das Landungsseil wurfbereit, am Bug unseres Schiffes. Mit Volldampf raste die „Smely“ auf den Schoner los. Nur noch zwei Kabellängen trennten uns; die Japaner aber waren immer noch dabei, wie aufgezogen vor- und rückwärts pendelnd, ihren Anker hochzuziehen. Es war unbegreiflich, worauf die Räuber noch hofften. Die Issabunäs mit den Fängern kamen gerade erst längsseits zum Schoner; der Ausgang zum Meer war von unserem Kutter gesperrt. „Genosse Kossizyn“, sagte Koloskow fast fröhlich, „halten Sie den Fender bereit… Sie sehen, die Gäste regen sich nicht, haben sich überfressen.“ Da schrie der Bootsmann triumphierend auf. Der Anker schwebte über dem Wasser. Gleichzeitig legten auch die Issabunäs mit den Fängern an. Die Boote hochzuwinden aber war es zu spät. Wir sahen, wie die Fischer
an Bord sprangen und wie die „Sago-Maru“, uns das Heck zuwendend, auf die Sandbank zustrebte, welche die Bucht von der Flußmündung trennte. Zu jeder anderen Zeit wäre das einem Selbstmord gleich gewesen. Jetzt aber war Hochflut, und das Wasser stand einige Fuß über der Sandbank – wie hoch aber, das wußten wir allerdings nicht. Wie auf Kommando schauten wir Koloskow an. „Wieviel Tiefgang werden sie wohl haben?“ fragte der Kommandant. „Sechs… auf keinen Fall mehr als sieben…“ „Das glaube ich auch.“ Mit diesen Worten machte Koloskow eine halbe Drehung nach links, und wir sausten, den Kurs des Schoners schneidend, schräg zur Sandbank hin: Wir hatten zwei bis drei Fuß an Tiefgang der „Sago-Maru“ voraus. Dort, wo das Seewasser auf das Flußwasser trifft, hat es uns tüchtig hochgeschwungen und längsseits zur Strömung geworfen. Einige Sekunden verweigerte die „Smely“ dem Steuer den Gehorsam, dann aber hatte sie den Strudel überwunden und nahm in flottem Tempo die Verfolgung des Schoners auf. Wir waren nur etwa fünfzig Meter vom Schoner entfernt, sahen die betretenen Gesichter der Besatzung und hätten sogar den in Haufen an Deck liegenden Fisch zählen können. Die „Smely“ näherte sich der „Sago-Maru“ von der rechten Seite her. Kossizyn hatte die Fender herübergebracht. Ich schrie „Stopp!“ zu den Japanern hinüber und warf die Leine aufs Deck des Schoners. Niemand von der Besatzung aber regte sich, und das Tau glitt ins Wasser. Der Sindo stand am Heck, rauchte mit dem Gesicht zu uns sein
Messingpfeifchen und spuckte mit einer Miene ins Wasser, als liefe nicht ein Küstenwachboot, sondern ein harmloser Delphin in seinem Kielwasser. „Werfen Sie die ,Katze’!“ sagte Koloskow leise. Ich sprang an den Bug vor und schwang an der Trosse die fünfzehn Kilo schwere „Katze“ hinüber. Die Eisenhaken glitten über das Deck und krallten sich am Falschbord fest. „Kirinassai!“ rief der Sindo. Der Bootsmann hieb mit seinem Messer das Tau entzwei. Auf dem Schoner brach ein Gelächter los. Unter begeisterten Zurufen hob der Sindo einen Lachs auf und winkte mit dem Fischschwanz. Es war das erstemal, daß Kossizyn eine solche Unverschämtheit begegnete. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, drohte dem Sindo mit der Faust und ließ ein paar Flüche los. Dafür aber erhielt er augenblicklich einen Tadel. „Unterlassen Sie das!“ sagte Koloskow. „Wenn Sie nicht Haltung wahren können, wenden Sie sich ab… Sehen Sie, so…“ Und er wandte sich dem Sprachrohr zu und flüsterte: „Den aller- – alleräußersten!“ „Steht… all…ssersten…“, antwortete Satschkow. Eine Weile schien es, als verweilten die „Sago-Maru“ und die „Smely“ auf der Stelle. Dann aber vergrößerte sich der Zwischenraum. Langsam und mit Mühe nur löste sich der Schoner vom Kutter. „Noch zwei Umdrehungen… Noch…“, flüsterte Koloskow und vermied es, den Fischschwanz anzusehen. „Steht… zwei Umdrehungen“, antwortete das Echo von unten. Es fehlte nur noch eine Kleinigkeit. Vielleicht wirklich nur einige Umdrehungen der Schraube. Jedoch das Vor-
gebirge, welches das Wasser vor dem Winde schützte, riß jäh ab, die anstürmenden Wellen hemmten mit einem Schlage unseren Lauf. Nach zwanzig Minuten befand sich der Schoner außerhalb der Dreimeilenzone.
Der Sindo winkte uns mit der Hand und warf einen großen, schnurüberspannten Glasschwimmer ins Wasser. „Vorbei!“ sagte Koloskow, und schon glitten wir ohne Aufenthalt an der Glaskugel vorüber. Das Wetter wurde schlechter. Die „Smely“ verneigte sich und holte Wasser über. Man hatte unverzüglich mit einer halben Rumpfdrehung nach links in den Schutz der Küste gelangen können. Wir setzten aber die Verfolgung fort. Koloskow war eigensinnig und gab nie die Hoffnung auf Erfolg auf. Wir wurden tüchtig durcheinandergeschüttelt. Der Rumpf des Kutters dröhnte unter dem Anprall der Wellen. Das Wasser, das nicht zum Ablaufen kam, quirlte zischend auf dem Deck umher. Jedesmal, wenn das Heck hochgerissen wurde, hörte man, wie die närrisch gewordene Schraube die Luft zerfetzte. Schließlich hatten die Wellen eine Lukenscheibe zertrümmert und guckten nun immer mal in den Maschinenraum. Wir waren müde und naß. Der Koch versuchte ein Mittagessen fertigzustellen, aber der Kessel wurde aus dem Herd gerissen, und der Primuskocher hatte sich gleich darauf an Borstsch verschluckt. Bald konnte man die Insel Schimuschu erkennen, schneeigblau auf der Schattenseite und purpurrot in der Sonne schimmernd. Der Schoner hatte sich in den Wellen verloren, und wir machten kehrt. Unterwegs zum Kap Burunny befahl der Kommandant, den Schwimmer aufzunehmen. Zwischen Glas und Schnurnetz war ein in Wachstuch gewickelter Zettel gesteckt. Er war etwas aufgeweicht, doch die in Druckschrift geschriebenen Worte waren noch ziemlich leserlich: „Guter Tag! Sie wünschen ein Kanne Oil? Sicher Sie
heute brauchen viele Brennstoff.“ Koloskow glättete sorgfältig das Papierchen mit der Handfläche und steckte es in seinen Matrosenkittel. „Was gilt’s?“ sagte er mit schlauem Lächeln. „Kann sein, wir holen uns eine… mitsamt dem Schoner…1“ Am Tage nach dieser Geschichte sah ich Satschkow über einem Buch sitzen. Er saß kreuzfidel in der Leninkajüte, zeichnete etwas in ein Heft und schnalzte ordentlich mit der Zunge vor Vergnügen. Offensichtlich war er wieder mal dabei, eine Aufgabe mit zehn Unbekannten zu lösen. Ich war empört über die Sorglosigkeit dieses unberechenbaren Burschen. Er sah aus, als hätte er eben erst die „Sago-Maru“ im Schlepptau eingebracht. Dabei waren unsere Matrosenkittel noch nicht trocken von der letzten mißlungenen Verfolgung. Ich setzte mich Satschkow gegenüber an den Tisch und fragte so recht mit Nachdruck: „Warum bist du denn nicht an Deck gekommen? Du wolltest doch den japanischen Maschinisten sehen.“ Er wurde mit einem Schlage finster und gab keine Antwort. „Also gut, lassen wir das… Ich wollte was anderes. Da ist eine verflixte Aufgabe… Sie ist so verwickelt, daß selbst der Teufel…“ „Was ist das für eine Aufgabe?“ fragte Satschkow. „Schreib… Ein räuberischer Schoner hat aus unseren Gewässern hundert ganze, Komma, fünf hundertstel Zentner Fisch herausgeholt. Die Schnelligkeit des Japaners ist gleich X multipliziert mit Unverschämtheit. Weiter… Um zwei Uhr null Minuten ist der Schoner vom Kutter ,Smely’ mit dem Maschinisten Satschkow gesichtet worden. Die Entfernung zwischen den beiden beträgt zwei Meilen. Es fragt sich…“
„Gerade darüber habe ich eben nachgedacht“, antwortete Satschkow schnell. „Hier ist die Auflösung.“ Er zeigte mir eine Skizze des Flusses, der Bucht und des Kaps Burunny, auf der mit Tinte ein fettes Dreieck gezogen war. „Und was soll das?“ „Die Hypotenuse ist kürzer als die Summe der beiden Katheten“, antwortete Satschkow geheimnisvoll. „Weißt du das?“ Ich war damals nicht stark in Geometrie. „Wie soll ich das sagen“, meinte ich vorsichtig, „es gibt da verschiedene Fälle.“ Er schaute mich verwundert an und fuhr fort: „Die Hypotenuse – das ist der Fluß. Die um die Sandbank gelagerte Bucht – sind die zwei Katheten. Wenn wir nachts den Fluß hinauffahren und dort die Ebbe abwarten… Verstehst du?“ „Ungefähr… mit Ausnahme der Katheten.“ „Durch unsere Abwesenheit ermuntert, begibt sich die ,Sago-Maru’ in die Bucht und fängt an, Netze auszulegen. In diesem Moment schießen wir aus der Flußmündung heraus… Entlang der Hypotenuse… Hier so…“ „Dann entwischt sie uns auf dem gestrigen Weg.“ „Ich sagte doch – die Ebbe abwarten. Es bleibt ihr nur der Ausgang am Kap Burunny. Sie steuert darauf zu. Die Hypotenuse aber ist ja doch kürzer als die Summe der Katheten. Wir erwarten also den Schoner am Ausgang. Klar?“ Ich versuchte zu widersprechen, aber der Streit erwies sich als aussichtslos. Gegen mich standen zwei – Euklid und Satschkow. Unter ihrem Anprall war ich gezwungen, zuzugeben, daß die Hypotenuse der kürzeste Weg zum Siege sei. Koloskow, dem wir unverzüglich die Zeichnung zeig-
ten, hörte uns schweigend an. „Mal sehen, was das Leben bringt“, sagte er unbestimmt. Etwas enttäuscht verließen wir den Kommandanten; eine Stunde später aber trafen wir Koloskow mit einem Wachstuchheft unter dem Arm. Er kam gerade vom Stab zurück. Es war nicht ersichtlich, warum ihm zwei Matrosen mit einem Feldtelefon und einer Kabeltrommel folgten. „Ausgang in die Stadt gibt es nicht!“ rief Koloskow vorbeugend, noch im Gehen, Abends – wir hatten noch nicht Zeit gehabt, uns von der Streife zu erholen – verließen wir schon wieder den Hafen. Diesmal trafen wir die „Sago-Maru“ direkt vor der Bucht. Sie hatte bereits das Schleppnetz gehoben und lief ins offene Meer hinaus, das Wasser schlug über Bord, soviel Fische hatte sie geladen. Für gewöhnlich kehrten wir nach einer Verfolgung zur Operationsbasis zurück oder liefen weiter dem uns gesetzten Ziel entgegen. Diesmal aber steuerte Koloskow den Kutter direkt auf das Kap Burunny zu. Entgegen seiner Gewohnheit war er vergnügt, hänselte den Maschinisten und schaute dauernd auf die Uhr. Es war so dunkel, daß wir kaum noch die Konturen der Küste erkennen konnten. Nur die Kämme der Wellen leuchteten und versprühten im Wind. Die Finsternis schien Koloskow ganz besonders zu freuen. „Bald kommt die Flut“, sagte er, als von Steuerbord her die Lichter der Konservenfabrik über dem Wasser sichtbar wurden. – „Ich hätte gern gewußt, wann bei ihnen die dritte Schicht abgelöst wird…“ „In einer Stunde werden sie schlafen“, antwortete
Satschkow, aus der Luke heraufsteigend. „Das läßt sich leicht berechnen.“ „Wieder die Hypotenuse?“ „Nein, Arithmetik.“ „Na, dann hören Sie mal zu“, sagte Koloskow feierlich. „Ich stelle Ihnen folgende Aufgabe: Ziehen Sie aus Ihrem Motor alle sechzig PS, nehmen Sie das mal zwei und legen noch sieben Umdrehungen zu. Wir müssen noch vor Eintritt der Ebbe in der Flußmündung sein.“ Mit diesen Worten schaltete er sämtliche Positionslichter aus und lachte zufrieden über seinen Witz. Die Fabrik schlief, als wir uns mit sachten Umdrehungen dem Kap Burunny näherten. Die mit Dachpappe umkleideten, wie Särge so schmalen Baracken der japanischen Arbeiter waren dunkel. Im Hof hingen an Stangen nasse Matten, türmten sich mit Segeltuch bedeckte Stapel roten Fisches. Irgend jemand schritt das Gelände ab und leuchtete mit einer Laterne in die Einsalzgruben. Unsere Fischersiedlungen leben auch zur Mitternacht. Ständig schimmert irgendwoher ein Licht, tönt ein Lied oder man begegnet einem verwegenen Kuriban mit einem Schwarm Einsalzerinnen. Die japanische Fabrik dagegen sah menschenleer aus, ganz wie im Spätherbst, wenn die letzte Kungasse voll Fisch das Kap Burunny verlassen hat. Hier arbeiteten nur Männer – Fischer von Karafuto und Hokkaido. Sie durften nur sechs Stunden schlafen und nahmen deshalb jede Minute wahr. Es war kaum zu glauben, daß in den Baracken in drei übereinanderliegenden Pritschenreihen anderthalbtausend Burschen untergebracht waren. Nur der Ventilator war in der Dunkelheit zu hören. Es war Hochflut. Das Flußwasser stand mit den Ufern auf gleicher Höhe. Die Weiden badeten ihre Zwei-
ge in dem dunklen Wasser. Weit ins Meer hinaus zog sich ein breiter Schaumstreifen. Wir schnitten mitten hinein und strebten, die ungeheure Strömung nur mit Mühe überwindend, der Flußmündung zu. Um das Motorengeräusch zu dämpfen, waren alle Bullaugen und Maschinenluken geschlossen. Das Gespräch auf Deck war verstummt. Wir näherten uns den Barren, den von der Strömung eines reißenden Flusses gebildeten Untiefen. Koloskow übergab mir das Steuerrad, ging vor zum Bug und leitete von dort aus die Bewegungen des Kutters. Wer auch nur ein einziges Mal solche Barren vor einer Flußmündung passiert hat, weiß, was für eine Gefahr sie selbst für einen erfahrenen Seemann bedeuten. Der die Brandung durchbrechende Fluß bildet lange, sehr steile Wellenberge. In den dazwischen liegenden Wellentälern kann man den Grund sehen. Die Wellen selbst aber erreichen eine Höhe von einigen Metern. Eine kleine Unachtsamkeit oder eine falsche Berechnung der Fahrtrichtung des Kutters – und schon dreht der Fluß das Fahrzeug seitwärts zur Strömung und stürzt mehrere Tonnen kalten Wassers, zur Hälfte mit Sand und Steinen untermischt, über den Kopf der Unachtsamen. Stößt das Boot aber mit dem Bug auf eine der Untiefen, dann beschreibt es, kieloben, einen Bogen durch die Luft und begräbt alle, die sich an Deck noch gehalten haben, unter sich. Für die „Smely“ war das Risiko besonders groß, weil es Nacht war und wir uns nur nach den Schaumkämmen orientieren konnten. Am Bug stehend, hob Koloskow abwechselnd den rechten oder linken Arm, wie das die Stividors1 machen, wenn sie dem Ladekran ein Zeichen geben.
Langsam, wie eine Bei Jana3 auf der Wolga, schob sich die „Smely“ an die gefährlichste Stelle heran, scharrte kurz mit dem Kiel auf der Untiefe und blieb plötzlich zwischen zwei Wellenbergen stecken. Koloskow stieß den Pegel ins Wasser und schrie, sich ganz vergessend: „Ta-al!“ Aber auch ohne den Pegel war zu merken, daß die „Smely“ nicht auf einer Barre saß. Die starke Querströmung drückte mit solcher Gewalt gegen den Kutter, daß ich nur noch mit Mühe das Steuerrad drehen konnte. Die „Smely“ hing zwischen zwei mächtigen Wasserrükken. Ihr Bug bohrte sich in eine ganz glatte, nicht allzu hohe Welle. Das Wasser lief das Deck lang, ohne übrigens die Lukeneinfassungen zu überspülen. Dem Heck aber folgte, wie im Schlepptau, ein ganzer Berg mit einer schweren Schaumkrone, die jeden Augenblick auf uns herunterzubrechen drohte. Der Rumpf der „Smely“ vibrierte und stöhnte. Die Kette in der Ankerkiste klirrte, die Geländerstangen und Glasscheiben zitterten, die Türen schlitterten, der Schrank mit dem Geschirr klapperte wie ein Fieberkranker mit den Zähnen. Es schien, als hätte jemand, der stärker war als wir, unseren Kutter am Kanthaken und hielte ihn an einer Stelle fest. Die Flut half uns, aber trotzdem vermochte der auf vollen Touren laufende Motor die vor uns liegende Welle nicht zu erklimmen. Die „Smely“ hatte sich etwa zwei Fuß tief in die Welle hineingebohrt, und keine Macht vermochte sie zu bewegen, noch weiter vorzustoßen. Alles stand still, erstarrte um uns herum: die Ufer, die Brandung, die Zeit, der eherne Wellenberg hinter unserem Heck… Eine der Luken zum Maschinenraum stand offen. Ich
sah, wie Satschkow in Unterhemd und Leinenhose die Maschine aus einer langschnäuzigen Ölkanne speiste. Ermattet vom ununterbrochenen Vierund-zwanzigStunden-Lauf kreischte sie, nieste, prustete heißes Wasser aus und qualmte… Satschkow hockte vor der Maschine, rieb ihr mit einem Lappen die öligen Seiten und unterhielt sich mit ihr wie ein Dompteur mit einem störrischen Hund. „Na, komm schon, einmal geht’s noch!“ murmelte er mit vor Qualm tränenden Augen. „Närrchen…! Liebes…! Grüner Satan…! Schnurrilein…! Gib eine halbe Umdrehung nur…! Ehrenwort…! Halt durch… Noch ‘n bißchen…“ Geduldig und zärtlich trieb er sie an, schloß und öffnete Hähnchen, regulierte das Gemenge und legte besorgt sein Ohr an den heißen Mantel des Motors. „Hat-tschi…! Hattschi…! Tabba-back…! Tabba-back…!“ antwortete der Motor Satschkow. Allmählich machten sich bei dem am Bug sitzenden Koloskow Anzeichen von Ungeduld bemerkbar. Am Kragen seines Matrosenkittels zupfend, schaute er bald zum Ufer hinüber, bald auf die Barren, endlich aber trat er zum Sprachrohr und rief leise: „Genosse Satschkow, was hatten wir vereinbart?“ „Steht – läuft volle Touren!“ „Merk nichts davon… Sind angefroren… Pressen Sie das Letzte heraus…!“ „Steht – Letztes herauspressen!“ antwortete Satschkow und neigte sich wieder über die Maschine. Ich war oft Zeuge, wie Reiter sich mit ihren Pferden unterhielten, und habe persönlich einen zweiten Offizier gekannt, der ein „Alphabet der Hundesprache“ aufgestellt hat; zum erstenmal aber hörte ich einen nüchternen Menschen mit einem Motor reden. Anscheinend konnten sie zu keiner
Einigung kommen, denn Satschkow richtete sich plötzlich auf und versetzte dem Freund einen Schlag. „Willst nicht?“ fragte er gekränkt. „Auch gut, soll dich der Teufel holen!“ Er stand auf und legte die Hand an den Drosselhebel. Das Klopfen ging in Kreischen über. Die Maschine heulte auf, als nehme sie eine Steigung. „Sie zieht… klein wenig noch… zieht!“ zischte Koloskow am Bug. Der Kutter warf sich vorwärts, zerschnitt, zerdrückte die Welle und lief, heißes Wasser spuckend, den stillen Fluß hinauf. Wir mußten sieben Kilometer flußaufwärts fahren, ehe wir eine passende Landungsstelle fanden. Der Fluß bildete hier eine scharfe Kehre, als wollte er wieder zurückfließen. Nur eine Reihe niederer, brombeerüberwucherter Sopkas trennte unseren Kutter vom Meer. Wir hörten wieder das dumpfe Tosen der Brandung. Kossizyn sprang ans Ufer und fing die Landungsleine auf. Da erhob sich im Gebüsch ein struppiger Hund mit einem Strick um den Hals, ihm folgten noch andere. Es stellte sich heraus, daß wir direkt an einem Hundelager gelandet waren. Die Kamtschatkafischer und auch die Jäger binden ihre Ziehhunde den Sommer über in der Nähe eines Flusses an. Einmal am Tag suchen sie die Tiere auf, öffnen eine Grube mit Salzfisch und werfen einem jeden Hund zwei Buckellachse hin. Der Leithund heulte auf vor Schrecken. Seine Kameraden fielen ein. Ein ganzes Hundert dürrer, sich haarender Hunde beschwerte sich bei uns über schlechtes Futter, Regen, Mückenplage und andere Stammesleiden. Wir entfernten uns eiligst von den lauten Nachbarn und richteten uns eine halbe Stunde weiter in einer schmalen,
an beiden Seiten mit Helmkraut bewachsenen Rinne ein. Hier also mußten wir das Erscheinen der „Sago-Maru“ am Kap Burunny abwarten. Ich hatte vor, meinen Kittel zum Trocknen zu bringen und mich so ungefähr dreihundert Minuten aufs Ohr zu legen. Koloskow aber kam auf mich zu und fragte so ganz selbstverständlich: „Sie wollen doch sicher noch nicht schlafen, Genosse Oleitschuk?“ „Versteht sich, nein“, sagte ich und zwinkerte nur so mit den Augen. „Nach einer Expedition leidet man immer an Schlaflosigkeit…“ Koloskow lachte. Auch er schwankte merklich auf den Füßen. „Ganz meine Meinung…“ Und fuhr dann mit völlig verändertem Tonfall fort: „Nehmen Sie den Apparat und die Kabeltrommel und gehen Sie mit Nechotschin über den Kamm der Sopka zum Kap Burunny. Tarnt euch und beobachtet. Nachricht jede halbe Stunde. Um vier werden Sie abgelöst.“ Die Nacht war sternklar und kalt. Der weithin schallende Hundegesang folgte uns wie die von der Trommel sich abwickelnde Leitungsschnur den ganzen Weg durch das schier undurchdringliche Brombeergestrüpp. Eine Stunde später lagen wir fröstelnd in dem nassen Gras, im Hörer flüsterte der gedämpfte Baß des Kommandanten. Es gab wenig Neues. Koloskow klagte über Mücken, ich – über die Kälte. Dann hörten wir den Primuskocher aufzischen, und Koloskow teilte uns mit, daß für uns Kaffee gekocht wird. Auf dem Meer wehte eine steife Brise. Wir sahen, wie die japanischen Fischer ihre Kungassen höher an Land zogen.
Nicht ein einziger Schoner hat in dieser Nacht die Bucht passiert. Am anderen Tag frischte der Wind noch auf. Wir saßen fest in der Rinne. Das war nicht weiter schlimm, denn die Räuber blieben bei solchem Wetter auf ihren Inseln hokken. Koloskow aber wurde dennoch finster: er befürchtete, daß die Japaner an Land gegangen seien und dort die Biberburgen heimsuchten. Durch die Sopkareihe vom Meer getrennt, spürten wir fast gar nichts vom Wind. Unsere Leute hatten ihre Kleider getrocknet und waren ausgeruht, Satschkow ließ den Motor laufen und schaltete das elektrische Bügeleisen ein. Sogar Kossizyn wurde lebhaft. Er fand sein altes Lächeln wieder und versicherte allen Ernstes, daß es auf der Wolga bei Kasan noch ganz andere Stürme gäbe. Ich erbat mir Urlaub von Koloskow und marschierte den Fluß hinauf. Ich wollte mal sehen, wie der Buckellachs laicht. Es war Juli – genau die Laichzeit der Lachse. Wie Wolken zogen die Fische vom Meer her zum Süßwasser, das sie vor zwei Jahren verlassen hatten. Man sagt, daß Katzen, die man in einem Sack ans andere Ende einer Stadt bringt, ohne weiteres ihre alte Behausung wiederfinden. Der Buckellachs aber hat ein bedeutend besseres Gedächtnis. Wo sich ein Lachs auch aufhalten sollte, ob nun an den Gestaden von Afrika oder am Nordpol, zum Laichen wird er unbedingt seinen Fluß aufsuchen. Im fremden Meer wird der Buckellachs seinen Laich nicht absetzen. Ich weiß nicht, wie die Gelehrten das Nomadisieren des Lachses erklären; mich aber verblüffen jedesmal diese ungeheuren Fischschwärme, die einzig von dem wilden Trieb besessen sind, den Oberlauf ihres Flusses zu erreichen, dort ihre Nachkom-
menschaft zu sichern und dann zu sterben. Zu dieser Zeit schöpfen die Kamtschatkafischer den Lachs wie Fischsuppe. 1934 warfen sich die in den dichten Schwärmen erstickenden Lachse aufs Ufer hinaus. Es war schwer, mit einem Kutter einen Fluß zu befahren: die Schraube wühlte in lebendem Fleisch…. Ich hatte mich ungefähr vierhundert Schritt von unserem Standort entfernt und legte mich dort am Ufer ins Gras. Das Wasser strahlte Kälte aus. Durchsichtig wie Luft überzog es die Steine mit einem gleitenden Flimmern. Ab und zu blitzten in der Tiefe lange, weiße Funken auf und erloschen wieder: das waren die ziehenden Lachse. Die Strömung schien mir hier gering zu sein. Ich brach einen Pappelzweig ab und hielt ihn ins Wasser. Sofort verbog er sich und zitterte, wie vom Wind gezaust. Nach einer Weile hatten sich meine Augen an das flimmernde Licht gewöhnt, und ich vermochte die Fische auf dem Grund von den Sonnenflecken zu unterscheiden. Ich sah, wie einige Männchen ein totes Weibchen umringten. Der Buckellachs lag rötlichgrau mit weißen Augen und weit aufgerissenem Maul auf der Seite. Der Bauch war eingefallen, wie bei allen abgelaichten Fischen. Der Tod hatte den Fisch am Laichplatz ereilt; einen halben Meter vom Schwanz des toten Fisches entfernt, schossen noch nicht vom Laich befreite Weibchen unruhig hin und her. Vier große, starke Männchen taten sehr aufgeregt: sie schlugen mit den Schwänzen den steinigen Grund, umkreisten den toten Buckellachs und stießen ihn mit den Mäulern. Manchmal waren die Bewegungen der Fische so heftig, daß sich über der Leiche ein leuchtender, blasiger Kranz bildete. Mir kam ein ganz unsinniger Gedanke: die Männchen führen zu Ehren der toten Gefährtin einen
kriegerischen Leichentanz auf. Dann wieder glaubte ich, daß sich die Männchen um das Aas stritten. Schließlich war ich müde, diesen endlosen Reigen zu beobachten. Ich ging noch ein Stück weiter stromauf und blieb an einer tiefen Nebenrinne stehen, die meinen Weg kreuzte. Die Sonnenstrahlen huschten über die Wasserfläche, stießen zusammen, liefen wieder auseinander und überzogen den Grund mit blinkenden Flecken. Tausende von Fischen strebten flußauf, sich stetig gegen die starke Strömung vorwärtskämpfend. Hoch über dem Wasser stand als schwarzgrüne Mauer das Helmkraut mit seinen schweren, gezackten Blättern, überall blühten gelbe Schwertlilien und Heckenrosen, reckten sich die mächtigen, rötlichen Stengel des Bärenpfeifenkrautes, und weiße Schirmblüten entfalteten sich in zwei Meter Höhe. Ich bedauerte nur, daß es auf Kamtschatka keine Bienen gab. Um das Laichen besser beobachten zu können, zog ich die Stiefel aus, krempelte die Hose hoch und watete in den Strom hinein. Das Wasser war flach, reichte kaum über die Knie und war so kalt, daß ich schon nach einer Minute die Kiesel auf dem Grund nicht mehr spürte. Erst stoben die Fische auseinander, doch vom Meer her schoben sich immer neue Schwärme heran, und außerdem hatten meine blaugewordenen Waden auch nichts Befremdliches mehr für die Lachse. Die Fische ließen sich nicht weiter stören. Bevor sie den Laich absetzten, suchten sich die Weibchen einen passenden Platz aus. Dann schlugen sie mit Kopf, Schwanz, Seiten und Flossen eine Vertiefung in den steinigen Grund. Bei vielen hatte sich der Leib von den erbarmungslosen Aufschlägen mit grau schimmernden Fetzen bedeckt. Buckelig, verunstaltet, mit einem gezähnten
Maul, das krumm wie der Schnabel eines Raubvogels war, beeilten sie sich, ihren Laich loszuwerden und zu sterben. Vom Oberlauf her trug die Strömung bereits abgelaichte halbtote Fische zu Tal. Solange, wie die Weibchen mit ihren Schwänzen den Grund bearbeiteten, standen die Männchen Wache. Ungefähr fünf Meter stromab tummelte sich eine Anzahl Schmerlen – das sind gefleckte, äußerst gewandte Fische, die in Form und Farbe einer Forelle gleichen. Diese warten nur, bis das Laichgeschäft beendet ist, um sich unverzüglich auf den Laich in der Vertiefung zu stürzen und ihn aufzufressen. So einfach aber war es nun doch nicht. Die wachehaltenden, von dem langen, beschwerlichen Weg zwar ermatteten Buckellachsmännchen warfen sich dennoch verwegen den Räubern entgegen, denn sie waren bedeutend größer als die Schmerlen. Hatten sie dann die Unverschämten verjagt, kehrten sie zu den Weibchen zurück. Endlich konnte ich in nur einem halben Meter Entfernung von meinen Füßen beobachten, wie ein Weibchen, sich krümmend und mit heftigen Schwanzschlägen nachhelfend, die blaßrosafarbenen Laichkörnchen in die Bodenvertiefung rinnen ließ. Das Männchen schoß herzu, übergoß den Laich mit seiner Milch, und sofort machten sich die beiden Fische daran, Sand und Kieselsteinchen über den Laich zu häufen. Bald war auf dem Grund eines der Häufchen entstanden, die ich auf Schritt und Tritt beim Waten beobachtet hatte. Eine Weile noch über dem Hügelchen kreisend, überzeugten sich die Eltern von der Geborgenheit ihres Schatzes und zogen dann langsam die Nebenrinne aufwärts. Ihre Bewegungen waren jetzt unentschlossen und
schlapp. Für sie war alles vorbei. Dem Tode verfallen, wußten sie nichts mit den ihnen verbleibenden Stunden anzufangen. Sie kreisten über fremden Nestern, verscheuchten Schmerlen und verloren sich schließlich in den vom Meer her immer neu anstürmenden Fischschwärmen… Der Himmel bewölkte sich, und es kam Wind auf. Die Oberfläche des Wassers kräuselte sich. Mit klappernden Zähnen stieg ich ans Ufer und rieb meine erstarrten Waden. Auf dem Rückweg besah ich mir noch einmal die Stelle, wo die vier Männchen ihren „Tanz“ aufgeführt hatten. Der tote Buckellachs war nicht mehr zu sehen. Ich suchte mit den Augen den Grund ab und entdeckte endlich den unter Sand und Steinchen hervorschauenden Lachsschwanz. Allem Anschein nach hat der Instinkt, der den Lachsen hilft, das sauberste Wasser für ihr Laichgeschäft aufzusuchen, auch die Männchen gezwungen, das Aas mit Sand und Steinchen zu bedecken. Eine halbe Stunde später war ich wieder an Bord. Koloskow unterhielt sich mit dem Posten am Strand. Satschkow polierte mit einem Lederlappen die Benzinleitung: wie einem jeden Mechaniker juckte es ihm in den Händen, sowie er ein Stückchen Kupfer oder Messing zu sehen bekam. Ohne alles Interesse hörte er sich an, was ich von meinen Beobachtungen erzählte. „Naturgesetz“, sagte er und gähnte. „Die Fische laichen, raufen sich, ist doch klar, daß sie da verrecken… Hast du wenigstens einen gefangen?“ „Darum dreht es sich doch nicht. Man muß doch der Sache auf den Grund gehen.“ „Klar“, sagte er lachend, „Hosen aus und rin ins Was-
ser…! Ich fürchte bloß, du wirst doch kein Darwin.“ Es war zwecklos, mit ihm zu streiten. Von allen Geschöpfen auf Erden waren in seinen Augen nur zwei beachtenswert: der Mensch und der Viertaktmotor. Immerhin wollte ich ihm den nächtlichen Monolog vorhalten. „Es gibt weit komischere Käuze… Da hab ich doch mal gehört, wie sich ein Maschinist mit seinem Maschinchen unterhalten hat…“ Satschkow wurde leicht verlegen. „Vielleicht waren es die Pumpengeräusche?“ meinte er vorsichtig. „Wenn das Luder quietscht, ist es mir selber manchmal, als spräche einer…“ „O nein! Ich könnte es vor allen wiederholen.“ Wir sahen uns in die Augen. „Weißt du, Aljoscha“, meinte jetzt Satschkow beschwichtigend, „es kommt mir doch so vor, als ob das Laichen eine recht unterhaltsame Sache ist… Besonders der Fischtanz und die Rauferei mit den Schmerlen.“ „Und du müßtest die Pumpe öfter ölen“, gab ich ihm meinerseits den Rat. „Manchmal ist’s wirklich so, als ob sie redet.“ Die Besatzung bereitete sich zum Empfang des Schoners vor. Satschkow wechselte das Schmieröl, sah die Schraube nach und horchte den Motor ab mit Hilfe eines Stethoskops aus einem Ladestock und einer Membrane. Ich sah die Spanten durch und malte um das Auspuffrohr einen grünen Ring – das Zeichen des Küstenwachbootes. Kossizyn übte sich im Signalisieren mit Fähnchen. Koloskow aber, der schon seit drei Monaten Japanisch lernte, saß in der Gesellschaftskabine und wiederholte immerzu: „Konnizi-wa! Guten Tag! – Darega ssentschoo ssan? – Wo ist der Kapitän? Kono funewa nan-to moossi massu ka? – Wie heißt dieses Schiff? Doko kara-
kookajssurimassitaka? – Wo kommen Sie her?“ Dann fing er zu kommandieren an, als hätten wir den Schoner schon fest und im Schlepptau: „Jukinassai! – Mitkommen! Torikadsi. Omokadsi! – Steuer rechts, Steuer links!“ Es war schon der zweite Tag. Der Wind hatte sich gelegt, der Schoner aber wollte und wollte sich nicht zeigen. Alle halbe Stunde kamen Meldungen vom Strand: „Nebel…! Schlechte Sicht…! Fischer löschen vier Kungassen…! Schoner nicht zu sehen…!“ Koloskow wurde finster. Er sprach nicht mit Satschkow, aber es war deutlich zu sehen – der Kommandant bedauerte, sich auf das Abenteuer eingelassen zu haben. Das ewige Warten war besonders unangenehm, weil von überallher die Mücken angeflogen kamen. Die Luft war trüb-grau und tönte wie eine Balalaikasaite. Uns brannte die Haut sogar unter dem Matrosenkittel. Wir atmeten die Mücken ein, aßen sie mit Grütze, schluckten sie mit Tee. Die Leute rieben sich mit wildem Knoblauch und Schmieröl ein, stülpten sich die Unterhemden über, wickelten sich Handtücher um den Hals, rauchten Machorka, zur Hälfte mit Laub und Nadeln untermischt. Der Anstürmenden aber wurden immer mehr. Man brauchte sich bloß mit der Hand über den Hals zu fahren, schon war die Handfläche blutig. Koloskow hatte am meisten Ausdauer. Seine Augen waren bereits ganz verquollen, er aber behauptete immer wieder: „Was ist schon? Stechen sie? U-unsinn!“ Nachts aber knirschte er mit den Zähnen. Am dritten Tag beim Mittagessen fiel ein starker, warmer Regen, der unseren Leiden mit einem Schlag ein Ende machte. Wir saßen in der Mannschaftskajüte, aßen Konserven und horchten, wie
der Regen auf das Deck prasselte. Irgend jemand ließ die Bemerkung fallen, die „SagoMaru“ sei in Chokodate auf Dock gegangen. Man stimmte dem Witzbold zu. Es regnete förmlich mehr oder minder witzige Bemerkungen über unsere verzwickte Lage, die Hypotenuse ohne Katheten und das Alter des Diesels. Hauptsächlich natürlich ging es auf Kosten Satschkows. Der ehrliche Kerl saß augenzwinkernd da und wußte nicht, ob er lachen oder wütend werden sollte. Der Kommandant aber nahm ihn sofort in Schutz. „Was ist das für ein Zirkus?“ bemerkte er streng. „Der Gedanke ist gut… Position richtig… Im übrigen wird hier kein Pfeffer in die fremde Krautsuppe getan. Muß schon bitten…“ Wir machten uns auf eine lange Strafpredigt gefaßt, da schnarrte das Telefon. Immer noch brummig, griff Koloskow nach dem Hörer, drehte sich plötzlich zu Satschkow herum und kurbelte mit der Hand in der Luft. „Steht!“ antwortete Satschkow, schob den Teller weg und stürzte in den Maschinenraum. Wir rannten alle los. Drei Jahre sind seither vergangen, doch immer noch sehe ich den vom Regen struppigen Fluß, die flachen, in gleicher Höhe mit unserer Bordwand vorbeifliegenden Ufer und das gespannte, vom Regen gepeitschte Gesicht Koloskows vor mir, und ich brauche bloß die Augen zu schließen, gleich höre ich aufs neue das rasende Schlagen und Klopfen des Motors… oder war es das Herz? – ich weiß es nicht. Satschkow holte aus dem Diesel alles heraus, was er konnte, plus fünfzig Umdrehungen. Die Strömung des Gebirgsflusses und unsere Ungeduld beflügelten noch die Schnelligkeit des Kutters. Die „Smely“ raste, den Fluß zerreißend, mit einer solchen Ge-
schwindigkeit dahin, daß es einem vor den Augen flimmerte. Vom Meer her zogen riesige Fischschwärme zu Berg. Wir hörten das dumpfe Anprallen der Lachse gegen den Schiffsrumpf. Die durch den Kutter aufgeschreckten Fische sprangen zu einer Sichel gekrümmt aus dem Wasser. Die Ufer traten auseinander. Es wurde merklich heller. Der Regenguß verhängte das Meer. Es machte sich aber bemerkbar durch seinen starken, frischen Atem. „Festhalten!“ sagte plötzlich Koloskow. Er rückte seine Mütze zurecht, stellte sich fester und breitbeiniger hin, und im selben Augenblick spürte ich auch schon, daß ich statt Luft – mit Sand gemischtes Salzwasser schluckte. Irgend etwas Schweres, Trübgelbes zerrte mich von Deck, hing an meinen Schultern, riß die Beine unter mir weg. Ich krallte mich mit einer solchen Kraft an der Schiffstreppe fest, daß meine Fäuste bestimmt am Geländer hängengeblieben wären, wenn mich die Welle hinweggerissen hätte. Mit ungeheurer Wucht stieß unser Kiel auf die Kiesel der Barren. Der Kutter lief in Sprüngen, schütterte und krachte. Wir standen bis zum Gurt im Wasser; das Meer brauste in die Maschinenluken…. Und plötzlich war alles ruhig. Wir jagten wieder inmitten des Schaumstreifens dahin. Hinter uns türmten sich die Barren – hellgelbe, drei Meter hohe Wasserfalten. Die stets an den Flußmündungen dem Lachs auflauernden Seehunde hoben ihre Katzenköpfe und betrachteten voll Verwunderung den Kutter. Die „Smely“ lief so nah an den Seehunden vorbei, daß ich ihre runden, dunklen Augen sehen konnte. Es war Ebbe. Von der Küste her roch es nach Jod, über-
all lagen dunkelgrüne, wellige Streifen Seetang. Die steinige Sandbank, die den Fluß von der Bucht trennte, schimmerte deutlich durch das gelbe Wasser hindurch. Wir spürten weder die Kälte noch unsere nassen Kittel. Schlank und frech lag die „Sago-Maru“ in der Bucht, zwei rote, wie Krabben aussehende Hieroglyphen am Heck. Sie hatte gerade die Luken geöffnet und war dabei, Lachse zu übernehmen, als die „Smely“ um die Sandbank bog und den Ausgang zum Meer sperrte. Die Hypotenuse ist kürzer als zwei Katheten. Das mußte nun auch der Sindo erkennen. Die „Sago-Maru“ schrie im Fistelton die Boote zusammen, warf sich, einen Ausweg aus der Falle suchend, herum und steuerte schließlich voll Verzweiflung auf die Sandbank zu. Wir hörten einen Ton, als würde Segeltuch auseinandergerissen. Die Fischer an Deck purzelten übereinander. Der Maschinist auf der „Sago-Maru“ drosselte seinen Motor. Es wurde still. Die Japaner standen niedergeschlagen an Deck und beobachteten uns. Wir ließen unser Beiboot zu Wasser und ruderten zum Schoner hinüber. Da sprangen die Fischer wie auf Kommando ins Wasser, als letzter, seinen gelben Rock abwerfend, der Sindo. Die erschrockenen Fänger strebten mit aller Kraft unserem Fahrzeug zu. Etwas Eigentümliches ging auf dem Schoner vor. Das Deck der „Sago-Maru“ blähte sich auf, Bretter krachten, Glasscheiben klirrten. Es war, als hätte der Schoner sich an Fisch überfressen und würde vor lauter Gefräßigkeit dick und dicker. Aus allen Bullaugen und Fugen quoll dicker, weißer Rauch. Koloskow schnupperte verdächtig in die Luft. „Einhalten!“
Sein Kommando wurde von einer starken Explosion übertönt. Das Heck der „Sago-Maru“ war wie abgeschnitten. Das Steuerhaus löste sich vom Deck und fiel ungefähr dreißig Meter von uns entfernt ins Wasser. Irgend etwas Scharfes schnitt Kossizyn in die Hand. Das Wasser um den Schoner herum nahm einen weißlichtrüben Schein an und zischte laut. Die Ursache der Explosion lag auf der Hand, als wir den charakteristischen, süßlichen Geruch des Azetylens verspürten. Beim Auswerfen der Netze weit draußen im Meer setzen die Japaner Laternen aus für die Schiffe, damit diese die so markierten Netze nicht zerstören. Jeder Schoner hat immer Karbidbüchsen für diese Laternen an Bord. Mit aller Wucht auf die Sandbank auflaufend, brachte sich die „Sago-Maru“ ein Leck bei. In die entstandene Öffnung strömte das Wasser und hatte im nächsten Augenblick auch schon die Karbidkammer unter Wasser gesetzt. Die Explosion hätte noch gewaltiger sein können, wenn das Deck stärker gewesen wäre… Neunzehn Fischer haben wir aufgefischt und an Bord genommen. Ganz verstört von der Katastrophe standen sie an Deck unseres Kutters. Statt eines Trommelwirbels gab ihr allgemeines Zähneklappern das Signal zum Rückzug. Der Bootsmann, der uns noch vor kurzem mit dem Fischschwanz verhöhnt hatte, verneigte sich und zischelte etwas mit so unterwürfiger Miene, daß sich Koloskow beinahe übergeben hätte. Nachdem die Formalitäten beendet waren und wir den Schoner fotografiert hatten, nahmen wir Kurs aufs Meer hinaus. Ich führte den Kutter in nur zweihundert Meter Entfernung an der japanischen Konservenfabrik vorbei, Ko-
loskow aber befahl, noch näher heranzugehen. „Aus Erziehungsgründen“, bemerkte er streng, Der Regen hatte aufgehört. Hoch über der Sandbank, auf der das Wrack der „Sago-Maru“ rauchte, kam die blasse Sonnenscheibe durch. Zum letztenmal sah ich zur Küste hinüber. An dem Mast neben dem Kontor hing noch der durchnäßte Signalkegel. Auf den Holzwalzen an der Landungsstelle saßen Fischer in Erwartung der Kungassen. Ich war überzeugt, daß die nassen Gestalten der Räuber vom Ufer aus gut zu sehen waren. Februar 1938.
In unserer „Jugendreihe“ sind bisher erschienen: Der unheimliche Schamane R. Agischew vergriffen Ins Innere der Erde W. Odiotmkow vergriffen Der Höhenrekord W. Nemzow 2 Hefte vergriffen Der Fall in der blauen Bucht A. Wachow vergriffen Das Geheimnis der Karsthühle W. Odiotmkow vergriffen Auf dem Butu W. K Arsenjew Auf heller Spur N. Toman Galtamas Rettung G. Kungurow Die Feuerkugel W. Nemzow Das Observatorium von Nur-i-Descbt I. Jefremow Mister Clerk hat sich verrechnet M. Makliarski 2 Hefte Der Untergang der Adler K. Solotowski Das weiße Hörn I. Jefremow Der rasende Hai K. Solotowski In den Katakomben von Taiyüan N. Schpanow 2 Hefte vergriffen Der Kommandant der Vogelinsel S. Dikowski vergriffen Der zehnte Planet S. Beliajew vergriffen Der Schatz in der Baranow-Bucht W. Baldyrjow vergriffen Die geheimnisvolle Limousine W. Sapann vergriffen Alle noch nicht vergriffenen Hefte der „Jugendreihe“ können in den Buchhandlungen und beim Postzeitungsvertrieb nachbestellt werden.